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Wie Ihnen allen bei Ihrer Aufnahme in den Freimaurerbund gelehrt worden ist, strebt die Freimaurerei danach, unter den ihr angehörenden Brüdern einen Tempel aufzurichten der Verehrung Gottes im Geiste und in der Wahrheit mit der Hoffnung und mit dem offen ausgesprochenen Wunsche, dass dieser Tempel dermaleinst eine Stätte sein werde, an der sich die ganze denkende Menschheit zusammenfinden möge, wess Standes und welcher Nationalität, wess Glaubens und Bekenntnisses sie auch sei. Dieser Tempel bildet nicht ein mit Sinnen wahrnehmbares äusseres Bauwerk, er bildet eine grosse, unsichtbare Kirche, deren Bausteine aus den lebendig pulsirenden Herzen der Brüder gebildet werden. Soll dieser Bau sich in vollendeter Schönheit erheben, dann dürfen nicht vorspringende rauhe Ecken die Symmetrie des Ganzen stören; soll dieser Bau von Bestand sein, dann müssen auch die einzelnen Bausteine die innere Festigkeit und Widerstandsfähigkeit besitzen, die allen äusseren nagenden, verwitternden Einflüssen mit Erfolg Widerstand zu leisten vermag. Soll also der einzelne Bruder zu einem brauchbaren, dauerhaften Bausteine jenes Tempels werden, dann muss er sich vor allem über die Pflichten klar sein, die er bei seinem Eintritt in den Bund auch auf religiös-sittlichem Gebiete übernommen hat. Lassen Sie uns versuchen, meine Brüder, in dieser ernster Sammlung geweihten Stunde über diese Seite unserer Aufgabe uns klar zu werden, indem wir Antwort suchen auf die Frage: welche Forderung stellt die Freimaurerei auf sittlich-religiösem Gebiete an ihre Jünger? Vielleicht wird uns die Antwort leichter werden, wenn wir die verschiedenen auf solchem Gebiete zu Tage tretenden Anschauungen der neueren Zeit etwas eingehender verfolgen und uns dabei die Frage vorlegen: dürfen wir solche Anschauungen als die unsrigen anerkennnen oder nicht?
Vor Kurzem wurden hier in Braunschweig in öffentlicher Versammlung einem mit gespannter Aufmerksamkeit folgenden Hörerkreise die philosophischen Anschauungen eines Mannes vorgetragen, der ohne allen Zweifel von allen Vertretern des Atheismus aufs Rücksichtsloseste die Consequenzen dieses atheistischen Standpunktes gezogen hat. Es handelte sich um das philosophische System des durch ein tragisches Geschick in tiefe geistige Umnachtung versunkenen Nietzsche.
Nach Nietzsches Anschauung verdankt das Christenthum seine Existenz der absterbenden Cultur des Alterthums. In den Zeiten der Völkerwanderung wird diese Cultur durch die hereinbrechenden Barbarenhorden in Trümmer geschlagen; die Lehre des Christenthums aber überdauert den Sturm; die Sieger nehmen die religiösen Anschauungen der Besiegten an; die christliche Religion wird zur herrschenden Staatsreligion. Unumschränkt und unangezweifelt beherrscht die christliche Kirche das Mittelalter. Aber im Laufe der Jahrhunderte wachsen allmählich die Völker aus den Kinderschuhen heraus. Die kindlich-naiven Gottesideen des Mittelalters halten nicht mehr stand, sobald auf wissenschaftlichem Gebiete, zumal auf naturwissenschaftlichem, der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung, sobald das Naturgesetz erkannt ist. Die Vorstellung eines Weltschöpfers, wie sie die Kirche bis dahin gepflegt, eines Schöpfers, der jeden Augenblick in die Lage kommt, ordnend und bessernd in das Getriebe der von ihm selbst ins Leben gerufenen Natur eingreifen zu müssen, ist unhaltbar geworden; das moderne Denken beginnt. Der Schöpfer wird nicht mehr ausserhalb, er wird innerhalb der Natur gesucht. Nicht eingeengt durch die Schranken von Raum und Zeit bildet der göttliche Geist die allein treibende Kraft in jeder Lebensäusserung der sich in unaufhörlichem Wechsel ewig erneuernden Natur; auf den Theismus folgt der Pantheismus, eine Anschauung, die in Spinoza ihren geistig hervorragendsten Vertreter findet. Aber auch diese Anschauung wird über Bord geworfen. Kant untersucht die Grenzen des menschlichen Erkenntnissvermögens und kommt zu dem Schlusse, dass sich die Existenz Gottes nicht beweisen lasse. Von hier bis zur Leugnung Gottes überhaupt ist nur noch ein Schritt. Schopenhauer thut diesen Schritt und die Welt wird für ihn öde und leer. Die Unsterblichkeit der Seele wird geleugnet und das Leben verliert seinen Werth. Baar jedes idealen Zweckes ist das Leben nicht werth, gelebt zu werden; der glücklichste Augenblick ist der, an welchem der Mensch wieder in das wesenlose, traumlose Nichts zurücksinkt, aus dem er hervorgegangen ist. An diesen im absoluten Pessimismus untergehenden Standpunkt Schopenhauers knüpft Nietzsche an. Auch für ihn ist der Gottesbegriff ein überwundener Standpunkt, böswillig der Menschheit anerzogen, um ein Zuchtmittel zu bilden für unartige Kinder. Ein Jenseits existirt nicht; die mit Händen greifbare Sinnenwelt bildet den Inbegriff alles dessen, mit dessen Dasein gerechnet werden muss. Und will Nietzsche etwa dieses Leben geniessen? Nein, denn jeder Genuss hinterlässt den Ekel als Nachgeschmack; einen idealen Inhalt muss das Leben besitzen; und solchen idealen Lebenszweck glaubt Nietzsche dadurch gefunden zu haben, dass er an die von Darwin aufgestellte Entwicklungstheorie anknüpft.
Für Darwin war es als denkenden Naturforscher ein Bedürfniss, auch für die organische Natur ein Gesetz aufzusuchen, welches die Verschiedenartigkeit der Entwickelungsformen von einheitlichem Standpunkte aus erklärt. Er glaubt dieses Gesetz in der Entwickelungsfähigkeit der Art gefunden zu haben. Im Kampfe ums Dasein kann sich nur die Art auf die Dauer behaupten, die durch irgend welche günstige Naturanlage sich den äusseren Verhältnissen anzupassen versteht und dadurch den Mitbewerber aus dem Felde verdrängt. Die günstigere Naturanlage wird auf die Nachkommenschaft vererbt; durch natürliche Zuchtwahl schreitet die Art, wenn auch allmählich, so doch unaufhaltsam zu stetiger Vervollkommnung weiter.
Dieselbe Anschauung eignet sich Nietzsche in Betreff des Menschen an. Indem er Alles anzweifelt, gelangt er zu dem Schlusse, dass die eigene Existenz nicht angezweifelt werden könne; er findet, dass von Allem abstrahirt werden kann, nur nicht vom Willen. Dieser Wille bildet nicht nur im einzelnen Individuum, er bildet in der ganzen organischen Welt die treibende Kraft. Diesem Willen zur Macht muss sich auch der Mensch, gewissermaassen die höchste Staffel in der organischen Natur, unterwerfen. Befriedigung kann er nur darin finden, wenn er mit Bewusstsein in rastlosem Fortschritte sich zu einem Wesen höherer Organisation, zum Uebermenschen, weiter entwickelt. In dieser vorwärts drängenden Entwicklung aber giebt es keinen Frieden; die Natur selbst gebietet den Kampf. Nur der Starke hat das Recht auf Existenz; wer sich nicht zu behaupten vermag durch eigene Kraft, hat den Anspruch auf Weiterexistenz verwirkt. Der von den früheren Philosophen unberührt gelassene Begriff des sittlich Guten und sittlich Bösen fällt; Nietzsche stellt sich jenseits der Begriffe von Gut und Böse, denn um die höher geartete Rasse dieses Uebermenschen hervorzubringen, bedarf es einer Moral, die alle Kräfte des Menschen fessellos entfaltet. Mitleid, Nächstenliebe bilden die Kennzeichen einer niedergehenden Cultur. Mitleid, Nächstenliebe üben heisst bei Nietzsche dem Schwachen das kümmerliche Dasein fristen, das des Daseins unwerth ist; wer Mitleid oder Nächstenliebe in Anspruch nimmt, ist zum Lebenskampfe entweder zu schwach oder zu feige. Das die Demuth als Tugend preisende Christenthum lehrt eine Sclavenmoral; Fortschritt darf die Menschheit nur erwarten von einer gesunden Herrenmoral.
Nun, meine Brüder, ich brauche wohl kaum zu fragen, ob sich ein Freimaurer zu solchen Grundsätzen, zu solcher Lebensauffassung bekennen kann. Nein und tausendmal Nein! kann die Antwort nur lauten und zwar nicht etwa bloss aus äusseren Zweckmässigkeitsgründen, nicht etwa bloss deshalb, weil die sittlichen Consequenzen solcher Auffassung mit Nothwendigkeit zur Auflösung jeder gesellschaftlichen Ordnung, zur Auflösung des Staats- wie des Familienlebens, mit einem Worte zur Barbarei führen, sondern vor allem aus dem inneren Grunde, weil wir Freimaurer uns nicht mit der Beseitigung des Gottesbegriffs einverstanden erklären können. Die moderne Philosophie schliesst: Das Dasein Gottes ist mathematisch nicht nachweisbar, folglich giebt es keinen Gott und doch scheut sie sich nicht, ihr System aufzubauen auf einem zur Macht strebenden Willen, also ebenfalls auf einem geistigen Princip, für dessen Existenz der Beweis ebenso wenig gelingen dürfte. Ist das Consequenz? Oder, wenn ich fragen würde, wie geht es denn zu, dass ein solch unsichtbares, ungreifbares Ding, wie es der menschliche Wille ist, auf einen mit Händen greifbaren materiellen Körper bewegend einwirken kann? meine Brüder, dann muss auch der tiefsinnigste Philosoph es bekennen, er steht vor einem Räthsel, das er nicht zu lösen vermag. Die grössten Denker aller Zeiten haben sich damit abgemüht, die Brücke aufzufinden, welche von der Welt der Vorstellung in die des Seins hinüberführt, die Brücke ist nicht gefunden. Der menschlichen Erkenntnissfähigkeit sind, wie auch ein Du Bois-Reymomd einräumen muss, Grenzen gezogen, welche dieselbe nicht zu überschreiten vermag. Wie können wir uns da anmaassen, ein abschliessendes Urtheil über Dinge abgeben zu wollen, die thurmhoch über die Grenzen unserer Fassungsfähigkeit hinausgehen? In der menschlichen Natur liegt tief begründet der Trieb nach Erweiterung der Verstandesthätigkeit; rastlos arbeitet der menschliche Geist daran, die Erscheinungen der ihn umgebenden Natur in ihrem inneren Zusammenhange begreifen zu lernen; tief innerlich wurzelt in jedes Menschen Brust das Sehnen, für diese Welt die ausreichende Ursache ihrer Existenz ausfindig zu machen. In dieser materiellen Welt finden wir den ausreichenden Grund nicht; folgerichtig werden wir dazu gedrängt, den ausreichenden Grund in einer übersinnlichen Welt zu suchen; wir sind innerlich dazu gezwungen, das Vorhandensein einer schöpferischen und erhaltenden geistigen unsichtbaren Kraft, einen allmächtigen Baumeister aller Welten als nicht zu bezweifelnde Wahrheit anzunehmen.
Weist also der Freimaurer jede atheistische Auffassung weit von sich weg, stellt er sich damit auch zugleich bereits auf einen bestimmten confessionellen Standpunkt? Schon im Eingange unserer Betrachtung haben wir darauf hingewiesen, dass die Freimaurerei alle die unter ihrer Fahne vereinigen will, die willens sind, Gott zu verehren im Geist und in der Wahrheit. Im Geist, d. h. nicht im blossen Buchstabenglauben, nicht auf Grund eines Dogmas, das sich der Prüfung entzieht. Gott hat dem Menschen die Leuchte der Vernunft nicht deshalb gegeben, damit diese Leuchte unbenutzt unter den Scheffel gestellt werde; der Freimaurer wahrt sich das Recht der Prüfung, damit seine innere Herzensüberzeugung voll und ganz mit der ihm von Gott verliehenen Vernunft in Einklang gebracht werde. Dazu aber ist nur erforderlich, dass die Quelle, aus der wir unsere Gotteserkenntniss schöpfen, eine reine und lautere ist, und wo finden wir solche lautere Quellen?
Meine Brüder. Da weise ich Sie an erster Stelle hin auf das Buch, das auch im Freimaurertempel seinen Ehrenplatz mit Recht behauptet, auf das Buch, dessen tief sittlicher Gehalt auch den spätesten Geschlechtern die Regel und Richtschnur liefern wird, wollen sie anders zu wahren Kindern Gottes heranwachsen; da weise ich Sie zweitens hin auf die Betrachtung der Natur, in deren Spiegel Sie, wenn Sie aufmerksamen Auges hineinschauen, das Walten einer göttlichen Vorsehung nicht verkennen können; da weise ich Sie drittens hin auf Ihr eigenes Herz.
Meine Brüder. Wenn Sie das Buch der Bücher aufschlagen, so nehmen Sie nicht Anstoss daran, dass Sie in Dingen des irdischen Lebens dort Anschauungen vertreten finden, die schon seit Jahrhunderten als irrige erkannt worden sind. Lächeln Sie nicht überlegen, wenn Sie dort einer Weltanschauung begegnen, die heute längst überwunden ist; vergessen Sie nicht, dass die Schriften dieses Buches für das Verständniss einer Zeit geschrieben sind, deren gesammte Weltanschauung von der unsrigen grundverschieden war, und lassen Sie durch solche Beobachtung sich nicht irre machen in Ihrem Glauben. Nehmen Sie ein Beispiel an einem Manne, der am Himmel der Wissenschaft ewig leuchten wird als Stern erster Grösse, an unserem unsterblichen Kepler.
Kopernikus hatte das im Alterthum herrschende Ptolemäische Weltsystem, nach welchem die Erde den Mittelpunkt des Weltalls bildete, eine Anschauung, der wir in den Büchern des alten nicht minder wie des neuen Testamentes begegnen, verlassen; er hatte die Anschauung gelehrt, die heute zum nicht mehr bestrittenen Gemeingut aller Gebildeten geworden ist, die Anschauung, welche die Sonne nicht in den Mittelpunkt des Weltalls, wohl aber eines Systems von Planeten stellt, die diesen Centralkörper in geschlossenen Bahnen umkreisen. Lange setzten Theologen wie Astronomen dieser mit der unmittelbaren Anschauung in Widerspruch stehenden Auffassung Widerstand entgegen. Wie weit dieser Widerstand ging, das werden Sie am besten an der Stellung beurtheilen können, die selbst der milde Melanchthon, Luthers berühmter Genosse, der neuen Weltanschauung entgegenbrachte. Besonders war es die Lehre von der Existenz verschiedener Sonnensysteme, die seinen theologischen Zorn erregte. »Die heilige Schrift«, so argumentirt er, »weiss nur von dieser unserer Welt und sie begreift die ganze Schöpfung.« Er fordert alle christlichen Obrigkeiten auf, »solcher gottlosen, schriftwidrigen Lehre mit allen, selbst den schärfsten Mitteln entgegenzutreten und nicht eher zu ruhen, als bis dieselbe mit Stumpf und Stil ausgerottet sei.« Erst als es etwa ein Jahrhundert später unserem Kepler gelang, die dem Kopernikanischen Systeme anfangs noch anhaftenden Mängel zu beseitigen, als er in seinen berühmten drei Gesetzen die Grundlagen fand, deren sich die rechnende Astronomie noch heute bedient, als die an der Hand dieser Gesetze im Voraus bestimmten Himmelserscheinungen auf Tag und Stunde einzutreffen begannen, erst da verschwand allmählich der Widerstand. Zu Keplers Zeiten selber aber lebte dieser Widerstand noch ungebrochen fort; vergebens versuchte Kepler seinen Zeitgenossen klar zu machen, dass die Bibel von den Dingen des menschlichen Lebens rede, wie Menschen davon zu reden gewohnt seien; die Bibel sei kein Lehrbuch der Optik oder Astronomie, sie verfolge einen höheren Zweck, es sei tadelnswerther Missbrauch, wenn man die Beantwortung von Fragen über weltliche Dinge in ihr suchen wolle; seine Vertheidigung half ihm nichts. Weil er seine wissenschaftliche Ueberzeugung nicht verleugnen wollte, wurde er von seinen Landsleuten und Glaubensgenossen in Acht und Bann gethan und wenig hätte gefehlt, so hätte man ihm als ungläubigem, unverbesserlichem Ketzer den Process gemacht. Und doch wie Unrecht hätte man jenem Manne gethan; wie wenig wusste jene Zeit Keplers tiefstes Gemüthsleben zu beurtheilen. Wie ergreifend spricht sich doch sein kindlich frommer Sinn in jener tiefempfundenen Vorrede aus, die er seinem Hauptwerke »Ueber die Harmonie der Welt« vorausschickt: »Ich sage Dir Dank, Herr und Schöpfer, dass Du mich erfreut hast durch Deine Schöpfung, da ich entzückt war über die Werke Deiner Hände. Ich habe den Ruhm Deiner Werke den Menschen offenbaret, so weit mein beschränkter Geist Deine Unendlichkeit fassen konnte. Ist etwas von mir vorgebracht worden, das Deiner unwürdig ist oder habe ich eigene Ehre gesucht, so verzeihe mir gnädiglich«. So wusste also Kepler wohl zu unterscheiden zwischen dem, was in der Religion, d. h. Gewissenssache sei und was der blossen Meinung und wissenschaftlichen Forschung angehöre. So frei er sich in letzterem Punkte fühlte einer engherzigen Buchstabenorthodoxie gegenüber, so strenge hielt er sich an dem, was ihm Glaubenssache, Bedürfniss des Herzens geworden war. So durchdrangen sich in ihm, als einem wahrhaft freien Manne, Klarheit des Gedankens und Gediegenheit der Gesinnung, Freiheit der Ansicht und Gehorsam gegen die Stimme Gottes in seinem Innern. Wie selten aber sind solche harmonisch durchgebildete Naturen und wie würdig die seltenen, dass auch wir uns bemühen, ihnen nachzueifern. M. Br., Kepler war von Haus aus ein Theologe, er hat die heilige Schrift studirt wie nicht Viele vor ihm; wohl uns, wenn auch wir wie er in der Schrift eine Kraft Gottes finden, selig zu machen, die daran glauben.
Und willst du die Gegenwart solches Gottesgeistes ahnen lernen auf einem dir noch näher liegenden Gebiete, dann tritt hinaus in Gottes freie Natur, auch dort offenbart sich dem unbefangenen, vorurtheilsfreien Blick das Walten eines allmächtigen göttlichen Geistes. Oder solltest du annehmen dürfen, dass diese ganze in ihren Formen so verschieden geartete und doch in ihrer ganzen Entwickelung an bestimmte ewige Gesetze gebundene Natur lediglich sich selbst ihren Ursprung verdankt? Solltest du glauben dürfen, dass die strenge Ordnung, die den Lauf der Gestirne regelt, dass die Naturgesetze, deren Erkenntniss gerade der Gegenwart mehr denn einem der früheren Jahrhunderte die Dienstbarmachung der Naturkräfte ermöglicht, dass alle diese Ordnung dem blinden Zufall das Dasein schulde? Tritt hinaus in sternenheller Nacht aus dem engen Raume, der den Blick gefangen hält, in die freie Natur; schaue hinein in die dir entgegenstrahlende Sternenwelt, und wenn du dann versuchst, mit deinem geistigen Auge hineinzutauchen in die unermessliche Tiefe des Weltraumes, wenn du auch mit dem kühnsten Fluge deiner Phantasie die Grenzen dieses Weltalls nicht zu erreichen vermagst, wie sinkst du dann zusammen in all' deiner erträumten Grösse, Menschenkind, wie lernst du, staunend und mit heiliger Scheu hin zu schauen auf die Allgewalt einer Schöpferkraft, welche dieses ganze unermessliche All aus dem Nichts ins Leben gerufen hat. Herr, wie sind deine Werke so gross und so viel, du hast sie alle weislich geordnet, so predigen auch dir die gewaltigen Zeugen des ersten Schöpfungstages von jener Allgewalt, die auch in dein Herz den göttlichen Funken hineingelegt und dich befähigt hat, Gottes Allmacht, Weisheit und Liebe in den Wundern seiner Werke anbetend zu erkennen, und jubelnd bekennst du mit dem begeisterten Sänger des alten Bundes: Wo soll ich hingehen vor deinem Geiste? wo soll ich hinfliehen vor deinem Angesichte? Führe ich gen Himmel, siehe so bist du da, bette ich mir in die Hölle, siehe so bist du auch da; nähme ich Flügel der Morgenröthe und bliebe am äussersten Meere, so würde mich doch deine Hand daselbst führen und deine Rechte mich halten.
Und noch eine dritte Quelle giebt es der Gotteserkenntniss, das ist dein eigenes Herz. Meine Brüder. Von einem bedeutenden amerikanischen Kanzelredner wird erzählt, es habe ihn, als er eines Tages über das Himmelreich auf Erden gepredigt, nach der Predigt ein wohlhabender Farmer aufgesucht, um die Frage an ihn zu richten, »wo finde ich dieses Himmelreich?« »Gehen Sie hin ans äusserste Ende dieser Strasse«, lautete die Antwort; »dort draussen in entlegener Vorstadt finden Sie in elender Wohnung eine arme Wittwe, welche für ihre drei hungrigen Kinder das Brod nicht zu beschaffen weiss; und jetzt liegt noch eins dieser drei schwer krank darnieder. Kaufen Sie Nahrungsmittel ein, suchen Sie eine Krankenpflegerin auf, führen Sie beides der Unglücklichen zu und beten Sie dann den 23. Psalm, dann werden Sie wissen, wo das Himmelreich zu finden ist.« Der Farmer befolgt den Rath, er findet das ihm bezeichnete Haus, in dessen bescheidenen Räumen trotz dringendster Noth die peinlichste Ordnung herrscht. Der fast verzweifelnden Frau erscheint der Helfer in der Noth als ein rettender Engel, und als nun am folgenden Tag der Farmer den Prediger von Neuem aufsucht, da reicht er ihm tief bewegt die Hand: »Sie haben recht; gestern habe ich mich dem Himmel näher gefühlt, denn je zuvor in meinem ganzen Leben.«
Meine Brüder. Das ist der Segen der helfenden, erbarmenden Liebe; das der Lohn, der jeder guten, von Eigennutz freien That von selbst auf dem Fusse folgt. Auf solchem Boden wollen auch wir Freimaurer stehen, denn Liebe ist des Gesetzes Erfüllung und Liebe ist allein die Arbeit am Symbol des Gesellen, die zur Vollendung des Herzens führet. Als Freimaurer wollen wir feststehen wie in Menschenliebe überhaupt, so insbesondere in Bruderliebe. Nicht mit Unduldsamkeit, nicht mit Hass, nicht mit Gewalt wollen wir unsere Grundsätze den ferner Stehenden aufdrängen; wir sind überzeugt, dass unsere Ideen von selbst sich Bahn brechen werden. Unbesorgt werden wir allen Angriffen, allen Verleumdungen, die unser Treiben als Teufelswerk bezeichnen, entgegensehen, die Zukunft sie gehört doch uns.
Meine Brüder. Vom wissenschaftlichen Standpunkte aus könnte ich mich sogar mit Darwins Anschauungen befreunden. Ich meine, es thut der Gottesidee keinerlei Abbruch, wenn wir uns vorstellen, dass der allmächtige Baumeister des Weltalls diese Welt nicht fertig vollendet ins Dasein gerufen, dass er sich vielmehr darauf beschränkt habe, den Urstoff zu schaffen und diesem Urstoff die Kräfte mitzugeben, die ihn befähigen, sich weiter zu entwickeln – ich könnte mich sogar mit der Idee Nietzsches befreunden, dass auch der Mensch, die Krone der Schöpfung, der weiteren Entwickelung noch fähig ist. Ja ich wünsche sogar, dass ein solcher weiterer Fortschritt stattfindet, aber nicht auf dem von Nietzsche bezeichneten Wege, sondern auf dem Wege der inneren Vervollkommnung in Sitte und Moral. Auf solchen Weg aber führt allein die in der Gottesliebe wurzelnde Menschenliebe. Darum erbaut sich auf solcher Liebe nicht eine Sclavenmoral; auf ihr erbaut sich die wahre Herrenmoral, denn die Liebe überwindet Alles.
Br. W. Dahl.