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Es giebt wohl kaum einen einzigen Gegenstand in der Freimaurerei, über den nicht schon Abhandlungen oder Vorträge geschrieben oder gehalten worden sind, und man müsste daher meinen, dass der Sache eine neue Seite sich gar nicht mehr abgewinnen liesse.
Dies kann jedoch als zutreffend nicht bezeichnet werden, weil hierbei das Individuum mit in die Rechnung eingestellt werden muss, und dieselbe Sache von verschiedenen Individuen betrachtet oder erörtert, auch eine grosse Verschiedenheit und Vielseitigkeit in der Auffassung zu Tage fördern muss, welche dadurch ihre Berechtigung erhält, dass sich immer neue Individuen als Leser und Hörer einstellen, woraus an sich schon zur Genüge hervorgeht, dass die Freimaurerei als solche nie altern kann, sondern ewig jung bleiben muss.
Sie stellt somit für ihre Anhänger einen Jugendbrunnen dar, aus welchem der Freimaurer gerne schöpft, um diejenige Kunst zu erlernen, womit er das Gebäude seines Lebens aufzuführen gedenkt. Sein eigenes Leben soll er zunächst zu einem idealen Bauwerke zu gestalten suchen, um dann die erlangte Kunst in weitere Kreise hinaustragen zu können.
Schon der Name Freimaurer weist namentlich in seinem zweiten Worte auf Arbeit hin, auf Bauarbeit. Der Arbeitsmaurer muss nach gewissen Gesetzen und Regeln Steine behauen und durch Mörtel an einander fügen, um daraus ein Gebäude herzustellen, worin die Menschen ihre Wohnung und zugleich Schutz finden gegen die drohenden Angriffe feindlicher Elemente, Sicherheit und Ruhe, Frieden und Bequemlichkeit für ihre Bedürfnisse, also mit einem Worte leben können.
Auch der Freimaurer führt ein Gebäude auf, aber im geistigen, im idealen Sinne. Sein Gebäude, an dem er unausgesetzt arbeiten soll, ist das Leben selbst, die Veredelung und Vervollkommnung des in uns gelegten Lebensstoffes und Lebenstriebes, damit wir Frieden dadurch finden und Freude, wie für uns selbst, so auch für unsere Mitbrüder, für unsere Nächsten, für die gesammte Menschheit. Die Kunst, ein solches Gebäude in möglichster Vollkommenheit zu errichten, darf man daher wohl als die Lebenskunst des Freimaurers bezeichnen.
Wie ist nun eigentlich das Material beschaffen, welches wir zur Aufführung eines solchen Gebäudes in die Loge hineinbringen? Entspricht es den Anforderungen, welche der g. B. a. W. an seine Bauleute, an die Menschenkinder zu stellen berechtigt ist, wenn diese sich unter seinem Schutze und – wie es in den Logen geschieht – in seinem Namen versammeln?
Da sind zunächst die Steine, welche zum Bau herbeigebracht werden, aber zunächst noch unverwendbar sind, weil ihnen noch zu viel Ecken und Kanten anhaften, die erst glatt behauen, auch mit Loth und Richtscheit nachgemessen werden müssen, ehe sie sich harmonisch dem Bauwerk einfügen lassen.
Diese Ecken und Kanten sind unsere menschlichen Neigungen und Leidenschaften, unser Wollen und Begehren, unser Wünschen und Hoffen.
Wie oft bringen wir nicht Vorurtheile über unsere Mitmenschen und Mitbrüder in die Loge hinein, die sich in den schwereren Fällen zu Missgunst und Abneigung erweitern, bis sie zuletzt in Hass übergehen und auch wohl gar in Verleumdung ausarten. Hier gilt es aufmerksam zu sein; aber der Maurer hüte sich dabei sehr, diese Aufmerksamkeit gegen seinen Mitbruder auszuüben und bei ihm allerhand bemerkte Mängel abstellen zu wollen, bevor er nicht an die Abstellung der eigenen gedacht hat. Kein Mensch ist von Fehlern frei, und ein Jeder hat gewiss reichlich vor seiner eigenen Thüre zu thun, ehe er sich um die seines Nachbars bekümmert.
Ein Jeder sei bestrebt, in und ausser der Loge ein wirklich brüderliches Verhalten zwischen den Freimaurern obwalten zu lassen, wie es unter leiblichen Brüdern die Regel sein soll. Diese sind durch ein unabänderliches Naturgesetz an einander gebunden, die Brüder Freimaurer sind es aber aus eigenem und freiem Entschlusse; deshalb erscheint die Verpflichtung zum engen und festen Zusammenhalten derselben unter einander in Liebe und Wohlwollen um so grösser.
Es ist in hohem Maasse zu bedauern, dass man dieses von Liebe und Duldung getragene Wohlwollen im Bruderkreise nicht immer antrifft und nicht selten auf das Schmerzlichste vermisst. Wenn ein solches brüderliches Wohlwollen in allen Logen das Leitmotiv im brüderlichen Verkehr wäre, dann würden Missverständnisse und Misshelligkeiten immer seltener vorkommen, weil das gegenseitige Vertrauen unter den Brüdern auch ohne das Eingreifen von Vermittlern Aufklärung und Ausgleich sogleich herbeiführen würde. Liebe, Duldung, Wohlwollen und Vertrauen mögen die vier festen Ecken unseres geistigen Bauwerkes immerdar sein.
Dann wollen wir zu unserem Bau, als Bindemittel zwischen den Steinen, als Mörtel hinzunehmen unseren Verstand und unser Gemüth, die uns erst zur Selbsterkenntniss und damit zur Liebe, wie zu einer echt brüderlichen Gesinnung gegen unsere Mitmenschen führen. Die Regeln aber, nach denen wir bauen, das sind die ewigen Gesetze der Natur, welche die Weisheit unserer Stifter ihr abgelauscht und darauf das System unserer Königlichen Kunst gegründet hat. In diesen Regeln finden wir auch die Grundzüge unserer Kette enthalten, in welcher wir vereint mit allen Brüdern auf dem Erdenrund stehen; aber nicht bloss körperlich sollen unsere Hände unter einander verschlungen sein, sondern unsere Herzen sollen die Glieder der Kette bilden, welche auch noch über diese Zeitlichkeit hinaus festhalten soll. Wer mit seinem Körper in die Kette tritt, der thue es auch mit seinem Herzen, und zeige sich dabei wiederum versöhnt auch mit solchen Brüdern, mit denen er sich vielleicht veruneinigt hatte; kann er dies nicht über sich gewinnen, dann bliebe er wahrlich besser aus der Kette weg, in welcher die schwachen Stellen deshalb so schädlich sind, weil sie sich so schwer erkennen lassen. Daher prüfe Jeder sein Herz, sein eigenes Ich mit den Werkzeugen der Freimaurerei, wenn er bei der Beendigung der Arbeit dem Rufe zum Schliessen der Kette Folge leistet.
Das Gebäude unseres Lebens richtig und harmonisch zu gestalten, ist schwerer, als man gemeinhin anzunehmen gewöhnt ist. Im Getriebe der Alltäglichkeit mit ihrem Kampfe um das Dasein und der nimmer rastenden Erwerbsthätigkeit des nervösen Jahrhunderts gelangt man kaum noch zum Nachdenken über die wahre Lebenskunst. Hier setzt nun die Freimaurerei mit ihrer dankbaren, leider noch so oft verkannten Aufgabe ein, und der geplagte und gehetzte Mensch flüchtet sich aus dem Werkeltagsleben in die stillen, geheiligten Räume der Loge, um hier seinen Idealen, die ein jeder Mensch haben muss, nachzugehen und die Lebenskunst auch in dieser Richtung zu erlernen. Dabei erfährt er, dass er sein Leben zweckmässig auf jenen drei, gleich Lichtern erstrahlenden Säulen erbauen soll, welche als Weisheit, Stärke und Schönheit bezeichnet werden. Sie gelten als die leitenden Grundsätze und Grundlagen alles maurerischen Denkens und Handelns, und alle Symbole und Formen, alle Gesetze und Lehren der Freimaurerei laufen auf diese drei Urelemente der Baukunst, wie der Königlichen Kunst hinaus. Dabei möge nicht unbeachtet bleiben, dass diese drei Grundelemente des Maurerthums nicht ohne Absicht gerade in dieser Reihe einander folgen und nicht verrückt werden dürfen, so unzertrennlich auch dieselben unter einander verbunden sind. Nicht die Stärke soll der Weisheit vorangehen, nicht die Weisheit der Schönheit untergeordnet sein. Der Uranfang jedes maurerischen Handelns ist und bleibt immer die Weisheit, welche auch die erste Bedingung jeder Lebenskunst ist. Ihr folge dann die Stärke, auf die man sich zuverlässig stützen kann, und die Schönheit endlich vollende das Werk zum Wohlgefallen der Menschen, als dem Ebenbilde Gottes.
Wenn wir nun als Maurer die Weisheit richtig anwenden wollen, so müssen wir bestrebt sein, uns selbst kennen zu lernen. Wir müssen dabei das Urtheil unserer Mitmenschen, sogar unserer Gegner und Feinde ebenso gut zu Rathe ziehen, wie unseren eigenen Scharfblick und die Erfahrungen, die wir über unsere Natur in der Jugend gesammelt, ja auch die Erfahrungen an den uns verwandten Naturen unserer Eltern und Geschwister. Wir werden dann über manchen Trieb, über manche Neigung ins Klare kommen, wenn wir auf die Natur derjenigen hinblicken, an deren Seite, unter deren Leitung wir aufgewachsen sind, deren Blut in unseren Adern fliesst. Manche Neigung gestaltet sich im Kinde anders, wie im Vater, in der Mutter, und dennoch ist es im Grunde genommen dieselbe.
Diese Selbstprüfung wird sich jedoch niemals in einer kurzen Spanne Zeit vollziehen können, es wird für uns vielmehr die Aufgabe eines vollen Menschenlebens sein; je länger sie dauert, desto mehr werden wir uns von ihrer Nothwendigkeit überzeugen, denn mit dem Ablegen des einen Fehlers schleicht sich gar zu leicht und unbemerkt ein anderer ein, und so muss die Weisheit beim Maurer bis an das Lebensende vorherrschen, wenn er den geistigen Bau seines Daseins nach einem wohldurchdachten Plane gestalten will.
Bei dem Entwurfe eines solchen Planes müssen wir vor allen Dingen immer zuerst das Ziel der möglichsten Selbstvervollkommnung als unsere höchste Lebensaufgabe im Auge behalten, und die richtige Selbstschätzung muss uns davor bewahren, dass wir diesen Plan weder nach einem zu hohen, noch zu niederen Maassstabe entwerfen, denn wir würden im ersteren Falle den bittersten Täuschungen und der Verzweiflung an uns selbst, im anderen der Erschlaffung und der Trägheit anheimfallen.
Eine unrichtige Selbstschätzung führt den Menschen zunächst zur Selbsttäuschung, aus welcher ihn das Schicksal oft recht unsanft aufrüttelt. Mit Hartnäckigkeit fortgesetzt endet sie dann in Selbstverblendung, welche nicht selten zum Zerstörer des Lebensglückes wird. Daher ist es nothwendig, dass wir unser eigenes Selbst erforschen und ihm einen Spiegel vorhalten, in welchem wir die Mängel in und an uns klar und deutlich erblicken können. Sind wir uns ihrer bewusst geworden, dann giebt uns die Lehre des Maurerthums in der Säule der Weisheit das erste Mittel zur Abhülfe. Dieses mit unerbittlicher Strenge und Wahrhaftigkeit gegen sich selbst anzuwenden, muss mithin das eifrigste Bestreben jedes rechtschaffenen Maurers sein, der es mit der Erfüllung der übernommenen Pflichten ernst meint und der die wahre Lebenskunst in der Loge lernen will.
Christus lehrt uns zuerst das Wort kennen, als er mit seinen Jüngern das letzte gemeinschaftliche Abendmahl gehalten hatte: Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Dieser Ausspruch unseres erhabenen Meisters hat bis heute und wird in alle Ewigkeit seine Gültigkeit behalten und ein Jeder von uns wird genugsam Gelegenheit gehabt haben, ihn an sich selbst zu verspüren. Aber auch bei dieser Schwäche des Fleisches kommt uns die maurerische Lehre hülfreich mit der Säule der Stärke entgegen, welche sie uns als den zweiten Hauptpfeiler unseres Lebensglückes erkennen lehrt. Diese Stärke soll dem Maurer Bundesgenosse sein, wo die menschliche Einsicht und der menschliche Rath ihn verlassen, wo er sich dem unabwendbaren Schicksale und Verhängnisse gegenüber sieht, das dem Menschen seine Macht fühlbar zu machen nicht unterlässt und sich uns oft mitten in einem Traume von Glück, mitten in der sorglosen Selbstgefälligkeit des Ausruhens auf unseren Lorbeeren, wie ein graues Gespenst entgegenstellt und all unser Schaffen, all unser Mühen in eitel Nichts verwandelt.
Wie mancher Plan, wie manche Hoffnung, auf die wir fest gebaut hatten, stürzt zusammen, und aus den Trümmern, aus dem Schiffbruche eines mehr oder weniger verfehlten Lebens scheint nichts mehr zu retten, kein Hoffnungsstrahl einer besseren Zukunft zu winken. Aber auch dann darf der Maurer nicht verzagen; fest klammere er sich an die Säule der Stärke, um die Noth und den Jammer des Lebens bestehen zu können. In Flammeninschrift wird er mit seinem geistigen Auge auf dieser Säule die Worte erscheinen sehen: Stärke ist in Gott! Das weist ihn darauf hin, dass in dieser Stärke nicht die rohe Kraft zu erblicken ist, sondern jene Stärke der Seele, die uns die Ueberzeugung giebt, dass wir das, was Gott zerstört, auch mit Gottes Hülfe wieder aufbauen können.
Die wahre Stärke des Maurers weiss nichts von einem blinden Verhängnisse, das über uns walte, und glaubt nicht an eine ewige Nacht des Missgeschickes; die wahre Stärke weiss nichts von Trägheit und Selbstsucht, sie verschliesst den aufrichtigen Schmerz tief in die Brust, schwingt in rüstigem Fleisse den Hammer zu dem neuen Werke und blickt vertrauend auf zum Himmel. Er ist es sich bewusst: Und dräut der Winter noch so sehr, es muss doch Frühling werden, auch für ihn, den Geplagten, den Unglücklichen, den Gemarterten, den Hoffnungslosen, denn unsere Stärke ist Gott, von dem auch allein Segen und Trost kommt, wenn uns das Unglück mit schwerer Hand heimsucht.
Wenn uns nun die Säule der Weisheit zeigt, wie wir den Plan zum Baue unseres Lebens entwerfen und ausführen, wenn die Säule der Stärke uns zeigt, wie wir unermüdet im Vertrauen auf Gott ausdauern müssen in der Arbeit des Lebensbaues, und uns durch nichts darin irre machen lassen, so lehrt uns die dritte Säule endlich, wie wir den Bau unseres Lebens ausschmücken und zieren sollen nach dem Muster des weiteren Tempels der Gottesnatur, die ja auch die Schönheit überall mit der Weisheit und Stärke verbindet.
Diese Schönheit möge vor allen Dingen in der Freudigkeit und dem heiteren Lebensmuthe zum Ausdrucke gelangen, mit denen wir an die Arbeit gehen müssen, wenn sie uns und anderen eine Freude, eine Befriedigung gewähren soll. Diese Schönheit soll erreicht und erhalten werden durch die Liebe der Brüder unter einander, durch treue Freundschaft, die sich im reiferen Lebensalter zwar schwerer knüpft als in der Jugend, aber auch um so fester hält. Der Maurer muss sich stets eingedenk sein, dem höchsten Sittengesetze sich verpflichtet zu haben, welches mit der Gottesliebe die Nächstenliebe von ihm fordert. Diese Liebe ist aber die wahre, echte und unvergängliche Schönheit, welche unseren Lebensbau zieren soll. Sie kann einzig und allein auf ein rückhaltloses Vertrauen eines Bruders gegen den anderen begründet sein; wo dieses fehlt, da kann sich die Pflanze der Liebe nicht zur Blume entfalten und zur Frucht reifen, sondern wird elend verkümmern und zu Grunde gehen. Vergebens steht der Maurer alsdann an der Säule der Schönheit, die seinen Lebensbau nicht schmücken wird. Nur in der Bruder- und Nächstenliebe, die er aus den stillen Hallen unserer Tempel hinaustragen soll in das Alltagsleben und die die ganze Welt umfassen soll, wird ihm die Schönheit erblühen, welche zur Freude des ewigen Meisters und seiner Mitbürger den Menschen zum wahren Ebenbilde Gottes gestalten.
So möge die Lehre der Freimaurerei uns dazu führen, unseren Lebensbau auf den Säulen der Weisheit, Stärke und Schönheit zu errichten. Dann wird es auch dem Maurer leicht werden, die Lebenskunst zu erlernen und sich zu eigen zu machen, indem er in dem unerschütterlichen Glauben an seine Gotteskindschaft dem Gebote Jesu Christi nachlebt: Du sollst Gott über alle Dinge lieben und deinen Nächsten als dich selbst. Dieses Gebot kann aber jeder Freimaurer erfüllen, gleichviel, welcher dogmatischen Religionslehre er angehört; er erfüllt sie auch in allen Logen, trotzdem noch Mancher diese Lehre Christi als das einzig wahre Grundprincip der Freimaurerei äusserlich nicht anerkennen und zugeben will. Ist er aber wirklich frei, im Geist und in der Wahrheit frei, dann wird er fürderhin diese Anerkennung nicht versagen, er wird die Lebenskunst des Freimaurers erlernt haben, er wird sich die Krone des Lebens erringen, er wird ein Mensch sein und im Sinne jener unvergleichlichen, weltumfassenden Humanitätslehre Christi ein glücklicher Mensch.
Br. E. Hartmann.