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Fünftes Kapitel

Das Plato-College in Minnesota ist ebenso ernst und farblos, ebenso langweilig provinziell und menschlich rührend wie ein altjüngferlicher Missionar. Seinen zweihundertfünfzig Studenten, die von der Ackerscholle kommen und nach geistigem Brot verlangen, werden griechische Wurzeln geboten. Rote Backsteingebäude, entworfen von einem Architekten, der Provinzial-Strafanstalten baut, umkränzen den hohen, kahlen, von Kuppeln gekrönten kasernenartigen Grausteinbau der Lehranstalt wie verwelkte rote Blüten einen Grabstein. Eine Weile liegt ein Duft von Holzäpfeln und Präriegras in der Luft, aber bald senkt sich der Winter herab, der so bitter kalt ist wie die Gelehrsamkeit des Präsidenten, des Rev. S. Alcott Wood, D. D. Die Ortschaft und das College Plato nehmen sich auf der weiten Fläche der Prärie kaum imposanter aus als eine Gruppe von Heuschobern. Im Winter gehn die Wege in dem unabsehbaren Weiß unter, die Bäume schrumpfen zu frierenden Skeletten zusammen, und das College sieht aus wie fünf Häuserblocks, die man auf ein erstarrtes Laken gesetzt hat – für warme und ängstliche Seelen kein Obdach, aber auch keine windumrauschte Bergspitze für kühne Geister. Der Schnee deckt alles zu, was im Sommer noch eine gewisse Eigenart hatte, die Säle wirken zur Dämmerzeit noch verlassener als die Prärie selbst – weitaus verlassener als die gelberleuchteten, schlecht gebauten Geschäftshäuser im Ort. Niemals verlieren die Studenten – vielleicht zu ihrem Nutzen, vielleicht auch zu ihrem Schaden – ihren Kontakt mit dem Feldboden. Aus verschlafenen Lehrzimmern sehn die Opfer der Bildung im Sommer auf wogende Weizenfelder, im Winter auf die undurchdringliche Himmelswand. Rasche Schritte und kurzes Lachen der jungen Burschen und Mädchen, heimliches Liebesgeflüster an den Backsteinmauern unter den kühlen Ahornbäumen … das macht Plato der Erinnerung teuer. Aber es verleiht ihm keinen Glanz. Es erklärt nicht, wozu es gut ist, von der Farm zu gehn, wenn man eine andere dafür eintauscht.

Für den Fuchs Carl Ericson, der in Gesellschaft lärmender Jungen mit hohen Mützen und riesigen Sweatern aus dem staubigen Raucherwagen der M. & D. stieg, hatte Plato ein weltstädtisches Gepräge. Als er bescheiden die Hauptstraße entlang ging und zwei vierstöckige Häuser, den Marmorpalast einer Bank und einen über Land fahrenden Straßenbahnwagen erblickte, konnte er sich endlich eine Vorstellung davon machen, wie es in Minneapolis und Chicago sein müßte. Zwei Männer in Sweatern, die mit einem gewaltigen »P« geschmückt waren, Sportsmänner, Generale, Helden, wandelten leibhaftig in den Straßen, und da war auch – wirklich und wahrhaftig und stets zu seinem Dienste – die »College Buchhandlung«, deren Fenster ledergebundene Abhandlungen über Griechisch, Logik und Trigonometrie füllten; und schließlich führte ihn sein Weg durch ein Sandsteintor zu vier, um eine riesige Steinburg gelagerten Gebäuden, deren jedes ungefähr ebenso groß war wie die Höhere Schule in Joralemon.

Ein vergnügt aussehender Funktionär der Young Men's Christian Association, auf dessen Hutband die Inschrift »Y. M. C. A. Empf. Kom.« prangte, lief auf Carl zu, schüttelte ihm eifrig die Hand und erkundigte sich:

»Fuchs, alter Junge? Schon ein Zimmer? Drüben in der Y. M. hängt ne Liste von Logierhäusern. Kommen Sie, ich zeig Ihnen den Weg.«

Er war im Lande Akademien, in Arkadien, im Elysium, mit einem Wort im Plato College aufgenommen.

Man schickte ihn zu einem stattlichen, aber baufälligen Haus, in dem die Witwe eines Collegepförtners regierte, und riet ihm, er solle sich in einem Zimmer einmieten, für das er $ 1,75 wöchentlich als seinen Anteil zu bezahlen hätte. Das brachte mit sich, daß er mit dem Zimmer einen großen, feierlichen Mann übernehmen mußte, der vor ganz kurzem noch Lehrer an einer Dorfschule gewesen war, einen schweren, langsam sprechenden, ernsten Mann von einunddreißig Jahren namens Albert Smith, der als A. Smith eingetragen war und allgemein der »Einfache Smith« hieß. Er pflegte sich zum Studieren die Schuhe auszuziehen und leerte nie das Waschbecken aus. Ihre Unterhaltung im Verlauf der ersten Stunde, die Carl in den Hainen Akademiens verbrachte, bestand darin, daß der »Einfache Smith« bemerkte: »Hoffentlich stören Sie mich nicht durch Gesinge und Dummheiten und Krachschlagen. Ich bin hergekommen, um zu arbeiten.« Dann wandte Smith sich wieder den großen Büchern zu, die er fleißig durchstöberte, um Weisheiten zu finden, während Carl der braunbeklecksten Tapete, der schäbig gewordenen Binsenmatte und dem flachen Kleiderschrank Gesichter schnitt … Aber das Haus gefiel ihm. Es hatte ein richtiges Badezimmer! Zum ersten Male in seinem Leben konnte er in einer Wanne plantschen. Heute würde das Badezimmer vielleicht als primitiv gelten; verweichlichte Seelen würden seine ehrliche Blechwanne, deren Anstrich beständig abblätterte, geringschätzig belächeln; aber verglichen mit dem Schwamm und den beiden, aus der Herdblase in der Ericson-Küche geholten Eimern heißen Wassers, die für ihn jahrelang der Inbegriff luxuriösen Badens gewesen waren, bedeutete es Eleganz und den Garten der Hesperiden.

Übrigens wohnten auch lustigere Gesellen im Haus. Einer, der sich mit Kleiderbügeln sein Brot verdiente und in seinem Zimmer stets einen großen Zigarettenvorrat hatte, war zweiter Vizepräsident des Sophomoren-Jahrgangs. Da das Rauchen allen Platoniern strengstens verboten war, galt das Zimmer dieses Sophomoren als Asyl. Er bestärkte Carl in seinen natürlichen Anlagen zu fröhlicher Lärmerzeugung, während der »Einfache Smith« sogar Einwendungen machte, wenn man beim Ankleiden sang.

Mit vier andern wurde Carl in Mrs. Henkels Studentenkosthaus Kellner und verdiente sich so seine Verpflegung und zwei Dollar in der Woche. Diese zwei Dollar waren sein Taschengeld – eine sehr beträchtliche Summe für Plato, wo die jungen Leute weder rauchten noch tranken; wo man Frackanzüge für geckenhaft und Sweater für etwas sehr Schönes hielt; wo es keine andern Sensationen gab als eine allwöchentlich sich produzierende Truppe, die mit herzergreifenden Stücken, wie »Arm, aber ehrlich«, die Gemüter erregte, und den schon klassisch gewordenen Vortrag »Der Vater der Lügen«, den der Rev. Sam. J. Pitkins alljährlich im Saal der Oddfellows-Loge hielt.

In jedem Brief, den Carl von seinem Vater bekam, mußte er lesen, er sei ein Verschwender. Mit seinen zwei Dollar war er immer im Handumdrehn fertig. Er gehörte als ständiges Mitglied dem inoffiziellen Club an, der in der Eckdrogerie seinen Standort hatte; man trank da Kaffee-Soda, diskutierte über Sportereignisse und starrte die vorüberkommenden Mädchen an. Es gab keine wilde Unternehmung, zu der er nicht bereit gewesen wäre – und mochte sie auch fünfzig oder sechzig Cent verschlingen. Mit dem Vizepräsidenten der Sophomoren und John Terry aus dem Fuchsjahrgang (der unter dem Namen »Der Türke« bekannt war) wanderte er oft in die nahe gelegene Ortschaft Jamaica Mills, um Poule zu spielen, türkische Zigaretten zu rauchen und Bier zu trinken.

Die Arbeit, die Carl im Kosthaus tat, brachte ihn mit hübschen Studentinnen zusammen und diskreditierte ihn gesellschaftlich keineswegs. Das kleine College besaß die Tugend wahrer Demokratie in solchem Maße, daß es sich nie mit seiner demokratischen Gesinnung brüstete. Mrs. Henkel, die Inhaberin des Kosthauses, wurde hin und wieder, wenn sie sich mit erhitztem Gesicht und in Unordnung geratener Frisur über den Küchenherd beugte, ihren Studentenkellnern gegenüber ironisch; sie meinte dann, die jungen Leute sollten »die Freundlichkeit haben und ein paar Teller und Schüsseln gleich jetzt abwaschen, bevor das Courschneiden anfängt.« Doch die Füchse sangen beim Reinigen und Abtrocknen des Geschirrs Lieder; sie debattierten über die Vorzüge des »humanistischen« vor dem »naturwissenschaftlichen« Unterricht. Während sie bei Tisch bedienten, nahmen sie an den Scherzen und Diskussionen teil, mit denen die Studenten sich in Mrs. Henkels Speisesaal beschäftigten – es war ein sonnenhelles Zimmer, das ganz besondere Zierden aufzuweisen hatte: einen Kanarienvogel, eine Katze, eine Portiere aus Goldschnur, einen bequemen Schaukelstuhl mit einem Platokissen, einen Ofen mit Nickelverzierungen, zwei Geranien und eine in Eiche gerahmte Photographie der siegreichen Fußballmannschaft Plato 1899.

Carl fand rasch Aufnahme bei den Jungen und Mädchen, die sich des Abends um das Klavier versammelten. Seine geschmeidig wirkende Gestalt, seine etwas täppische Schüchternheit, seine in aller Ruhe kampflustige Würde und sein ewiger Drang nach Neuem trugen ihm Achtung ein, wenngleich er so kindisch war, daß er nur im Busen der dicken, lustigen, wuschelköpfigen, bonbonlutschenden Mae Thurston Bewunderung erregte. Mae übte einen solchen Einfluß auf Carl aus, daß er es lernte, ganz nebenbei witzig zu sein; außerdem studierte er einen neuen Tanz namens »Boston«, den Mae aus Minneapolis mitgebracht hatte, obwohl sich jedermann über diesen Rivalen des Walzers und des Twosteps lustig machte. Er beherrschte alle gesellschaftlichen Künste des Kosthauses. Doch er eilte stets fort, um Fußball zu trainieren, das Kraftwerk Platos zu umschleichen, Zeitschriften im Lesesaal der Y. M. C. A. zu durchblättern, ja sogar um zu studieren.

Obgleich in Plato alles einander kannte, hatte Carl nur sehr geringe Aussichten, aus der Klasse der geschirrwaschenden und heizungbedienenden Studenten in höhere gesellschaftliche Sphären aufzusteigen. Jene untadelhaft Vornehmen, Murray Cowles und Howard Griffin, luden ihn nie in ihr Zimmer ein (in einem Haus in der Elm Street, das einen vornehmen Aufgang hatte und von den Klängen eines Klaviers erfüllt war). Ben Rusk, der auf das Oberlin College gegangen war, und Joe Jordan, der jetzt in der Joralemon Speciality Manufacturing Company arbeitete, fehlten ihm sehr.

Der Betrieb am College mit seinen Vorurteilen, seinem provinziellen Zuschnitt, seiner Atmosphäre von Mißtrauen war für die strebsamen, zielbewußten Studierenden eine Gefahr; den andern wiederum, den Schwachen, konnte er die fehlende Sicherheit nicht geben. Die Studien waren zum größten Teil barer Unsinn – zweifelhafte Mathematik, veraltete Botanik, schlechtes Deutsch und ein geradezu militärischer Drill im Konjugieren griechischer Verben; dieser stand unter der Leitung eines kleinen wichtigtuerischen, schnauzbärtigen, kaltäugigen und stets erkälteten Männleins mit einer Unteroffiziersseele, der die leidende Menschheit mit dem viermillionten Xenophonkommentar heimgesucht hatte. Nur wenige unter den Studenten begriffen die Müßigkeit des ganzen Treibens; sicherlich gehörte Carl, der einen gesunden Schlaf hatte und ein überzeugter Jünger des Fußballspiels war, nicht zu diesen Ausnahmen.

Lebensgewohnheiten rechtfertigen sich selbst. Man kommt dazu, alles für selbstverständlich zu halten, seine Nachbarn ernst zu nehmen, ob man nun in Plato oder Persien, in Mrs. Henkels Küche oder einer Schiffsback lebt. Die Platonier eilten ihren verschiedenen Zielen zu, sie wollten Lehrer an einer höheren Schule oder Juristen werden, wollten heiraten oder für immer ihren Eltern entrinnen; sie hatten ihre kleinen Liebesgeschichten und waren faul; sie aßen, sie schworen schlechten Gewohnheiten ab und hatten religiöse Regungen; sie langweilten sich nicht allzu sehr, amüsierten sich selten und waren stets bereit, über ihre Bekannten zu klatschen – um kein Haar anders als Herzöge oder Verkäufer in Delikatessenläden. Sie spielten eben ihr Spiel. Aber das Spiel war so klein, schloß alle anderen Spiele so sehr aus, daß es die Tendenz hatte, seine Opfer zu verzwergen – und unruhige Kinder wie Carl setzen sich instinktiv gegen diesen Verzwergungsprozeß zur Wehr. Sie haben das Bestreben, sich mit andern Rebellen zusammen zu tun. Carl schloß sich einer Gruppe ungeschliffener Füchse an, die gleich ihm in aller Ahnungslosigkeit rebellierten. Sie nannten sich »Die Bande« und hatten ihr Hauptquartier im Zimmer ihres inoffiziellen Anführers John Terry; dieser, ein brünetter Junge mit einem lauten Lachen, führte den Spitznamen »Der Türke«; er hatte die Gewohnheit, seinen Mitmenschen auf die Schulter zu klopfen, war in allen Teufeleien höchst erfinderisch und versprach als Fußballspieler sehr viel.

Die meisten Colleges in kleinen Orten, und unter ihnen gibt es so manche gute, haben ihre »Banden« von Jungen, die aller Voraussicht nach einmal ehrenhafte Männer und Väter sein werden, aber in der Collegezeit der Meinung sind, es beweise Heldentum, wenn man sich fortstehle und alles Mögliche zertrümmere, und es sei witzig, Landmädchen in schmutzigen Liebeleien auf Abwege zu führen. Je abgelegener die Lehrstätte ist, desto ungestümer äußert sich der Tatendurst der Jungen, denn die gärenden Lebenskräfte der Entwicklungsjahre verlangen nach einem Ventil. Die Bande des Türken bemalte die Statuen des Bürgerkrieg-Denkmals, sie stahl Ladenschilder und produzierte unerwartete und unerträgliche Geräusche in stillen, friedlichen Nachtstunden.

Aus dem Nichts albern vertaner Tage zieht die Jugend eine geheimnisvolle Schönheit, wie die Seidenraupe ihr köstliches Material aus wertlosen Blättern gewinnt. Carl mußte sich durchaus nicht überwinden, um mit der Fußballmannschaft zu trainieren; es bereitete ihm eine gewisse Märtyrerfreude, die Puppe anzugehen und sich die Nase auf dem gefrorenen Erdboden zu zerschinden. Ein heiliger Ehrgeiz durchglühte ihn, als der Trainer, ein früherer Champion der Universität von Minnesota, namens Bjorkan, ihm sagte, daß er in ein oder zwei Jahren vielleicht wirklich »repräsentativ« sein werde; daß er viel mehr Aussichten habe als Ray Cowles, der – während Carl einzig und allein daran dachte, das Seine zum Sieg der Mannschaft beizutragen – viel zu sehr mit seinem Hochschul-Honoratiorentum beschäftigt war, um sich in das Ringen um den Ball einzulassen.

Bei den Spielen wurde Carl toll vor inbrünstigem Eifer. So oft er, den mit veitstanzartigen Bewegungen gegebenen Anweisungen des Einpeitschers folgend, brüllte oder nach der Melodie des Schlagers »Auf dem Pflaster von New York« mit schallender Stimme »Im Fußballtor von Plato« sang, glaubte er allen Ernstes, sein Vaterland zu retten. Wahrhaft patriotische Tränen stiegen ihm in die Augen, als der erprobte Einpeitscher die heiseren Stimmgewaltigen Platos im kritischen Augenblick eines nahezu aussichtslosen Spieles gegen das Militärinstitut von Minnesota zu einem letzten Kampfgebrüll anfeuerte. Das war der nervenstählende Schlachtgesang von Männern, die mit geballten Fäusten und emporgeschleuderten Armen aufstanden, um ihrem College in seiner verzweifelten Notlage zu Hilfe zu kommen, und dann – Herrgott! Pete Madlung bekam den Ball in die Hände und setzte zu einem langen Lauf, zum Sieg an, und alles sprang in wahnwitziger Begeisterung auf die Füße … In der nächsten Woche, als sie von der Universität Keokuk vierzig zu eins geschlagen wurden, stand Carl weinend da und jubelte der besiegten Platomannschaft zu, bis ihm der Hals brannte.

Seine Liebe teilte er zwischen dem Lachen des Türken, Mae Thurstons Freundlichkeit und den Experimenten im Physiksaal. Und er war überzeugt davon, daß er auf dem besten Wege zu dem Stand der Gnade sei, in dem er danach streben dürfte, Gertie Cowles zu heiraten.

Er dachte nicht jeden Tag an sie, aber stets war sie irgendwo in seinen Gedanken, und unweigerlich riefen die Heldinnen der Magazingeschichten ihm etliche ihrer Tugenden ins Gedächtnis. Sie langweilte sich in Joralemon, und gelegentlich schrieb sie an Carl. Aber sie war noch immer erhaben – versuchte »einen guten Einfluß auf ihn auszuüben« und gab ihm den Rat, er solle »den Umgang mit netten Leuten pflegen«.

Er zweifelte nicht daran, daß er um ihretwillen Rechtsanwalt werden würde, wußte dabei aber ganz genau, daß ihn der Wunsch, Tiefbauingenieur oder Maschinenbauer zu werden, früher oder später vor einen Konflikt stellen müsse.

 

Ein wärmerer Tag im Januar. Carl wanderte meilenweit in das Hügelland nördlich von Plato hinaus. Eines der Bandenmitglieder zum Spazierengehn zu überreden, war ihm nicht gelungen, aber seine eigenen Lungen verlangten nach dem Freisein. Er stapfte mit seinen schweren Stiefeln durch vereiste Tümpel, rief einen nur in seiner Phantasie existierenden Hund und gewann olympische Streckenläufe vor Millionen von Zuschauern, bis er zum Hiawatha Mound, einer Anhöhe acht Meilen nördlich von Plato, kam. Unter dem Gipfel hockte in einem steinigen, sonnenbeschienenen Bachbett eine einsame Gestalt, die auf die winterliche Prärie hinausblickte. Als Carl näher kam, sah er, daß es Eugene Field Linderbeck war, ein Platofuchs. Das amüsierte ihn. Grinsend legte er sich ein Gespräch zurecht. Es hieß allgemein, Genie Linderbeck sei »verdreht«. Er war ein frühreifer Junge von fünfzehn Jahren, der beste Lerner in seinem Jahrgang; man erzählte sich von ihm, er interessiere sich auch außerhalb des Unterrichtes für griechische Bücher, sei ein Freund des Teetrinkens und entbehre ganz und gar der drei männlichen Tugenden: Sporttreiben, Flirten und Übertreten der Vorschriften durch Rauchen. Genie war klein, blutarm und zu gut angezogen. Er stotterte ein wenig und sah einen immer zweifelnd aus großen und kindlichen Augen an, die unter seiner blassen, knolligen Stirn mit dem wirren mausbraunen Haarschopf darüber nur umso unheimlicher wirkten.

»H'lo, Söhnchen!« begrüßte ihn Carl und setzte sich neben ihn auf einen Stein, aber Genie gab keine Antwort.

»Was ist denn los, Genie? Du siehst so schief gewickelt aus.«

»Warum kann mich keiner von euch leiden?«

Carl war zu Mute wie einer Wanze, die von einem Deutschprofessor genau in Augenschein genommen wird. »W-wieso, was meinst du, Genie?«

»Keiner von euch nimmt mich ernst. Ihr kümmert euch einfach nicht um mich. Und ihr haltet mich für einen Streber. Das bin ich aber nicht. Ich lese eben gern. Das ist alles. Vielleicht meint ihr, ich will vom Sport nichts wissen, obwohl ich etwas leisten könnte. Ich wäre froh, wenn ich laufen könnte wie du, Ericson! Ach verflucht! Ich war so glücklich und zufrieden hier, ganz allein auf dem Mound, wo die Aussicht so schön ist, und – und jetzt bin ich wieder so weit, daß ich dich beneide.«

»Aber, Junge, ich – weißt du – weißt du, wir bewundern dich sicher viel mehr, als wir uns anmerken lassen. Kopf hoch, Alter. Wenn du mal die Abschiedsrede hältst und in der Debattiermannschaft bist und Hamlin schlägst, wirst du die ganze Bande auslachen, und wir werden stolz sein, wenn wir nach Hause schreiben dürfen, daß wir dich kennen!« Carl hätte sich dafür ohrfeigen können, daß er sich jemals über Genie Linderbeck lustig gemacht hatte. »Du hast mir immer kolossal geholfen, wenn ich wegen der verdammten griechischen Syntax was von dir wissen wollte. Wir beneiden dich wahrscheinlich ganz einfach. Du – äh – du darfst dich eben von niemand zum Narren halten lassen –«

Der feste, jugendlich vertrauensvolle Blick Genies machte Carl verlegen. Er bückte sich, hob eine Hand voll Kiesel auf, mit denen er die Landschaft beschoß, und stammelte: »Sag doch, warum kommst du nicht mal zum Türken ins Zimmer, um mit der Bande besser bekannt zu werden?«

»Wann soll ich kommen?«

»Wann? Ach, aber Donnerwetter! – du weißt doch, Genie – komm einfach, wanns dir paßt.«

»Also gut.«

Carl brach der Angstschweiß aus, als er daran dachte, was die Bande mit ihm anstellen würde, sobald sie erfuhr, daß er Genie eingeladen hatte. Aber er blieb bei der Stange. »Komm doch zu mir, so oft du kannst, und hilf mir beim Ochsen«, fügte er hinzu. »Red dir bloß nicht ein, wir erweisen dir eine Lauseehre, wenn wir dich in unserer Nähe dulden. Du hilfst doch uns. Mit unserem Grips ist es nicht weit her, fürcht ich … Komm zu mir, wann du willst … Na, wenn ich noch was schaffen will, muß ich mich wieder auf die Beine machen. Komm heut abend zu mir rauf.«

»Du solltest einmal am Sonntagnachmittag mit mir zum Tee bei Mr. Frazer gehen, Ericson.«

Henry Frazer, M. A. (Yale), Dozent der englischen Literatur, gehörte zu den Collegemysterien. Er war ein junger Mann mit schütterem Haarwuchs, der seine Arbeit über alles liebte; seine Arbeit, das hieß für ihn Seelen retten, indem er über Miltons Lycidas und Comus las. Dies war sein erstes Jahr nach der Promotion, sein erstes Jahr in Plato – und vielleicht auch sein letztes. Man raunte einander zu, er sei ein Jünger der sozialistischen Lehre, und der Präsident, der Rev. Dr. S. Alcott Wood, hatte für derartige Verstiegenheiten keinen Sinn.

Carl wunderte sich: »Du gehst zu Frazer?«

»Aber natürlich!«

»Ich dachte, den kann kein Mensch riechen. Er soll doch Anarchist sein, und außerdem weiß ich, daß er ganz verrückte Sachen in seiner englischen Literatur verzapft; das sagen alle, die in seinen Vorlesungen sind.«

»Die Dummköpfe können ihn alle nicht riechen. Deshalb verkehr ich ja bei ihm.«

»Wirst du von den Jungs nicht – äh – so n bißchen –«

»Ja«, piepste Genie in kindlicher Wut, die ihn zum Stottern brachte. »Sie z-ziehen mich auf, weil ich für Frazer bin. Er ist – er ist der einzige Le-lehrer hier, der nicht p–p–p–«

»Spucks aus.«

»– provinziell ist!«

»Was meinst du mit ›provinziell‹?«

»Beschränkt. Mit Bauernansichten. Weißt du, was Bernard Shaw sagt – –?«

»Ich hab nie in meinem Leben ein Wort von ihm gelesen, mein Junge. Und ich muß dir auch sagen, für mich besteht ne Unterhaltung nicht darin, daß mir einer alle paar Sekunden die Frage ›Hast du das gelesen?‹ an den Kopf wirft und ich dann antworte: ›Nein, hab ich nicht. Ist es interessant?‹ Wenn die Unterhaltung bei Frazer so aussieht, kannst du gleich auf mich verzichten.«

Genie lachte. »Findest du nicht, daß es viel interessanter für dich ist, mich durch den Kakao zu ziehen, als wenn du Terry zehn oder zwölf mal am Tag sagst, er hat ›Fledermäuse im Hirnkasten‹?«

»Gut, mein Sohn, da hast du recht. Vielleicht geh ich mit dir zu Frazer. Mal.«

Am nächsten Sonntag erschien Carl bei Professor Henry Frazers Tee.

Seinem Äußeren nach paßte das Haus durchaus nach Plato; es war einfach und langweilig, der Anstrich bröckelte ab, es hatte süßliche Stuckarbeiten über der Eingangstür und sah im übrigen so aus wie eine Präriescheune, aber das Wohnzimmer kam der Schönheit näher als alles, was Carl bis jetzt gesehen hatte. Dem Geschmack der damaligen Zeit entsprechend war es im Missionsstil eingerichtet, mit lohfarbenen Tapeten, an denen deutsche Farbdrucke hingen, mit brauner Holztäfelung und großen Lederkissen, nicht wie die Häuser der anderen Professoren mit Patentschaukelstühlen und Kohledrucken von römischen Baudenkmälern. Während Carl mit Genie Linderbeck auf das Erscheinen Frazers wartete, entdeckte er auf dem Eichentisch Bücher, wie er sie niemals zu Gesicht bekommen hatte, köstliche, in rotbraunes und olivgrünes Leinen mit komplizierten Goldmustern gebundene Bücher aus England, die schwer aussahen, in der Hand jedoch erstaunlich leicht waren; Bücher über keltische Legenden, provençalische Minstrels, Japandrucke und andere Dinge, von denen ihm niemals etwas zu Ohren gekommen war; für Carl, dessen Lektüre bisher aus schmierigen Lehrbüchern und den seichten Romanen betriebsamer Damen bestanden hatte, war dies alles so neu und verwirrend, daß er mit einem Male etwas von Kultur und Bildung hielt.

Professor Frazer erschien, er trat nach seiner zarten Frau und seiner hübschen Schwägerin ins Zimmer; Carl trank Tee (mit Zitrone, nicht mit Milch) und hörte erstaunliche Gespräche und einige, teils heroische, teils beunruhigend musikalische Strophen von einem neuen Dichter, W. B. Yeats, einem Iren, der etwas mit einer Sache zu tun hatte, welche die Gaelische Bewegung hieß. Professor Frazer war von einer merkwürdigen, ganz leichten Freundlichkeit; seine Schwägerin, eine Diana in Braun, erkundigte sich bei Carl respektvoll nach den praktischen Möglichkeiten der Automobile, und alle, darunter auch zwei eben erst gekommene »obergescheite« Senioren, lauschten kopfnickend und interessiert, während Carl in großer Verlegenheit jeden einzelnen der neuen Wagen, die es in Plato und Jamaica Mills gab, exakt beschrieb. Als es dunkel wurde, spielte die Diana in Braun MacDowell, und das Licht der Lampe mit dem Seidenschirm fiel auf das Bild eines Schweizer Märchendörfchens.

Noch am gleichen Abend rang Carl im freien Stil mit dem Türken auf dessen Bett, auf dem Boden, nahezu bis vors Fenster hinaus, um den Wert Professors Frazers und der Bildung zu beweisen. Am nächsten Vormittag belegten Carl und der Türke Frazers Wahlkursus über moderne Dichtung, eine nicht methodische Reihe von Vorlesungen, in denen von Tennyson und Browning allerdings nicht die Rede war. Carl entdeckte also Shelley und Keats und Walt Whitman, Swinburne und Rossetti und Morris. Das Lesen fiel ihm so schwer, daß er von Wort zu Wort kriechen mußte, als wären es Eisschollen in einem reißenden Strom der Gefühle. Die ewigen Anspielungen waren sehr ermüdend. Aber er zog sich die Schuhe aus, legte die Füße auf den Bettrand, trommelte mit einer Schere auf seinen Knien herum und ließ in seiner gewaltsamen Jagd nach dem Schönen nicht ab. Der Einfache Smith wälzte unterdessen ein lateinisches Lexikon oder gönnte sich ein wenig Erholung, indem er in Rev. Mr. Todds Handbuch für Studenten las, jener Perle der Weckuhr- und Wassereimer-Epoche der amerikanischen Colleges.

Wieso Genie Linderbeck davon überzeugt sein konnte, daß Worte lebendige Wesen seien, die träumen und singen und kämpfen können, verstand Carl niemals. Doch es wurde ihm klar, daß das Geheul der Bande nicht die letzte Vollendung der sprachlichen Möglichkeiten bedeutete.

Im Frühling seines Fuchsjahres gab Carl die Kellnerdienste auf und wurde Chauffeur bei einem Bankier in der Ortschaft. Er lernte jede Schraube und Feder im Wagen kennen. Er brachte auch Genie dazu, daß er auf den Sportplatz mitkam. Carl eroberte sich eine Stellung in der Collegemannschaft als Achthundertmeter-Läufer und ging wütend auf zwei Füchse und einen Junior los, weil sie über Genies Beine gelacht hatten, die aus den weiten Rennhosen herausstaken wie Strohhalme aus einem Limonadenglas.

In dem großen Wettkampf mit der Hamlin-Universität, in welchem Plato allerdings in den meisten Kategorien unterlag, siegte Carl im Achthundertmeter-Lauf. Er wurde in die exklusive Bundesbrüderschaft Omega Chi Delta gewählt, der Ray Cowles und Howard Griffin angehörten. Das versetzte ihn jedoch weit weniger in Aufregung als die Aussicht, daß er den Sommer mit dem Türken oben im Norden, im Hartweizen-Land, verbringen und mit einer Rotte von Drahtlegern aus Minneapolis eine Überlandleitung für die Telegraphengesellschaft bauen sollte.

Ach ja. Und Gertie sollte er in Joralemon sehen … Von ihr war ein ganz begeisterter Brief gekommen, als er im Achthundertmeter-Lauf gesiegt hatte.


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