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Achtundzwanzigstes Kapitel

Ruth Winslow wohnte in einem für den ziemlich wohlhabenden, aber noch nicht reichen »höheren Mittelstand« typischen Haus. Auf Carls Klingeln öffnete ein Mädchen, das um seine Karte bat – nicht ein imposanter Butler. Das Mädchen ging die Treppe hinauf, und Carl legte Mantel und Handschuhe ab. Er hörte aus der Bibliothek im obern Stockwerk Stimmen, und bald kam das Mädchen wieder, um ihn hinaufzuführen. Ruth Winslow, die hinter dem Teetisch saß, lächelte ihm freundlich zu, und als er ihre hellen Augen und ihr fröhliches Kopfnicken sah, wich das Gefühl der Beklemmung, das ihn während des Wartens überkommen hatte, wieder von ihm.

Sie stellte ihn vor und gab ihm eine Tasse Tee und ein Stück Kuchen, in dem Nüsse waren. Er ließ sich in einem Stuhl nieder und betrachtete die Menschen, die sehr gut in dieses Zimmer zu passen schienen. Es waren New Yorker, die im Gegensatz zu den meisten andern in New York Lebenden in der Stadt geboren waren und sie für ein Dorf hielten, in dem alle Welt einander kennt und sich noch auf die Zeit besinnen kann, da die Damen ihre Einkäufe in der Vierzehnten Straße zu machen pflegten. Olive Dunleavy war da und trug eine neue Frisur zur Schau. Sie debattierte mit einem gut angezogenen Mann über die Vorzüge des »Parsival«, den sich, wie Olive erklärte, jeder Mensch nur aus Pflichtbewußtsein anhöre.

Olive war anscheinend mit ganzer Seele am Gespräch beteiligt, aber Carl fühlte sich trotzdem von ihr beobachtet und dachte mit einem Gefühl des Unbehagens darüber nach, was Ruth ihr erzählt haben könnte.

Auch Olives Bruder Philip Dunleavy, ein schlanker, gut gewachsener Junge von sechsundzwanzig Jahren mit offenem Gesicht und überhoher Stirn, musterte ihn, während er mit einem hübschen, gewöhnlich aussehenden Mädchen sprach. Carl empfand vom ersten Augenblick an eine Antipathie gegen Philip Dunleavy und fürchtete sich ein wenig vor seiner latenten Ironie.

Von Minute zu Minute spürte Carl immer stärker, daß er trotz aller Freundlichkeit, mit der man ihn begrüßt hatte, keinem Menschen außer Ruth wirklich willkommen war. Er wurde gewogen und geprüft. Er war ein Mr. Ericson, nicht ein ganz bestimmter Mr. Ericson.

Ruth unterhielt sich, während sie Tee einschenkte, lachend mit einem Mann und einem Mädchen. Carl selbst war an einen Tisch geraten, an dem sich zufällig drei ganz verschiedene Leute zusammengefunden hatten – eine ältere Frau, die Rom und Paris besser zu kennen schien als New York und ebenso gut eine Putzmacherin wie eine Dame von Welt sein konnte, ein scharf dreinblickender junger Mann mit Schildpattbrille und Ruths älterer Bruder Mason J. Winslow jr., ein großer, magerer, feierlicher siebenunddreißig jähriger Mann mit langem, glattrasiertem Gesicht und langem, schmalem Schädel, dessen zunehmende Kahlheit stets auf schwere Arbeit zurückgeführt wurde. Mason J. Winslow jr. sprach über alles zögernd und bekümmert und trat für Moral und Geschäftstüchtigkeit ein. Er war ziemlich langweilig, ziemlich freundlich und hatte für Menschen, die keinem guten Klub angehörten, nicht das geringste Verständnis.

Mason Winslow ging zu dem großen Tisch hinüber, um sich eine Zigarette zu holen, und Carl folgte ihm. Während sie dort standen und über »die schlechten Zeiten« sprachen, ließ Carl Ruth nicht aus den Augen; sowie die Gäste, die gerade bei ihr standen, sich verzogen, machte er einen Vorstoß zum Teetisch und brachte es zuwege, früher anzulangen als Olives Bruder Philip Dunleavy, der offenbar das gleiche Manöver ausführte. Philip streifte ihn mit einem Blick, der sehr deutlich sagte: »Was für ein Kerl sind Sie denn?« nahm sich ein Stück Kuchen und zog sich wieder zurück.

Carl setzte sich in einen Rohrstuhl, blickte Ruth ins Gesicht und sagte finster: »Es schickt sich nicht.«

»Ja«, antwortete Ruth, »ich weiß, aber trotzdem tun es in dieser Saison einige sehr elegante Leute.«

»Aber meinen Sie, daß die Dame, die in den Programmheften die Rubrik ›Was der Herr trägt‹ schreibt, damit einverstanden wäre?«

»Nein«, sagte Ruth nach ernsthaftem Überlegen, »wenn die Glacéhandschuhe schwarz abgesteppt sind, nicht. Aber für das gefältelte Hemd treten einige Autoritäten ein.«

»Sie finden also, es könnte eventuell geduldet werden?«

»Ich will mich nicht zwischen Sie und Ihren Hemdenlieferanten stellen, Mr. Ericson.«

»Das ist eine ganz alberne Unterhaltung. Aber da Sie der Meinung sind, daß es in besseren Kreisen getragen wird – herrjeh! Es fällt mir schwer, so weiter zu reden. Eigentlich wollte ich Sie darum bitten, daß Sie mir eine zusammengedrängte, aber erschöpfende Antwort auf die Frage: ›Wer ist Miss Ruth Winslow?‹ geben, damit ich keine Dummheiten mache. Und dann, davor warne ich Sie, werde ich reden wie mein Vetter, der Mann mit den gestickten Pantoffeln.«

»Name: Ruth Winslow. Alter: zwischen zwanzig und dreißig. Vater: Mason Winslow, Hoch- und Tiefbau. Brüder: Mason Winslow jr., dessen armer Kopf etwas kahl wird, wie Sie sehen, und Bobby Winslow, ein Tunichtgut, der himmlisch tanzt und angeblich Medizin studiert. Meine Mutter ist vor drei Jahren gestorben. Ich leiste keine nützliche Arbeit, spiele aber ganz anständig Bridge und habe eine Stimme, die als annehmbar gilt. Ich spreche französisch, lese deutsch und singe italienisch. Ich trage ein französisches Kleid, das vom Hause Winslow wahrscheinlich niemals bezahlt werden wird. Ich wohne hier und bin Anglikanerin – weniger hochkirchlich als höchst seltene Kirchenbesucherin. Ich halte den Salon unten für das schlimmste Beispiel spätvictorianischer Greuel, das mir bekannt ist, werde meinen Vater aber wahrscheinlich nie zu einer anderen Einrichtung überreden können, weil Mason das pietätlos finden würde. Mein höchstes Ziel im Leben ist es, auf die Newport-Clique geringschätzig herabzusehn, sobald ich einen englischen Diplomaten mit göttlichem Schnurrbart geheiratet habe. Da ich einen solchen Herrn außerhalb des Tatler und der Vogue niemals kennen gelernt habe, kann ich Ihnen sehr viel über ihn erzählen. Ja, er wird natürlich wunderbar Polo spielen und ein Schloß in der Provence besitzen müssen, außerdem eine Ranch in Texas, wo ich Reithosen tragen, am Busen der Natur leben und einen chinesischen Koch in blauem Seidengewand haben werde. Das wird so ziemlich meine Geschichte sein. Ach ja, fast hätte ich vergessen. Ich spiele Klavier und bin sehr unwissend und gehe ganz auf in den schlimmsten Traditionen der reichen Leute der Upper West Side und behaupte immer, ich lebe hier nur, weil ›die Luft besser‹ ist.«

»Was ist denn diese Upper West Side? Ist das eine Geistesverfassung?«

»Nein, im Gegenteil. Es ist eine Brieftaschenverfassung. Die Upper West Side besteht ausschließlich aus geborenen New Yorkern, die der Gesellschaft angehören wollen und es sich nicht leisten können, in der Fünften Avenue zu wohnen. Man kennt alle Welt, ist mit aller Welt in die Schule gegangen und hat mit aller Welt im Park gespielt; und der Herr Papa ist meistens im Großhandel und verachtet deshalb den Kleinhandel. In einem Sommer fährt man nach Europa, und im nächsten an die Jersey-Küste. Alle Kleider, die man trägt, alle Gesellschaften, Hochzeiten und Begräbnisse, an denen man teilnimmt, sind ›elegant‹. Das ist die Upper West Side. Und nun heraus mit der furchtbaren Wahrheit über Sie … Wissen Sie, da Sie eine zufällige Vorstellung bei einem Tee so skrupellos ausgenützt haben, möchte ich Sie fast für einen wohlerzogenen jungen Mann halten, der ein völlig makelloses Leben führt. Sonst würden Sie doch nicht den Mut aufbringen, über den Zaun zu steigen und mit mir im Hinterhof zu spielen, während alle andern Jungen höflich an die Vordertür klopfen und sich nach Hause schicken lassen.«

»Ich – also, ich bin ein Lohnsklave bei der Van Zile Motor, und zwar in der Touricar-Abteilung. Alter: achtundzwanzig – fast. Gewohnheiten: alle schlecht … Nein, jetzt will ich es Ihnen sagen. Ich bin einer von diesen ernsten, schweigsamen Männern aus Granit, von denen Sie in allen Büchern lesen, und nur mein Diener kennt mich von der menschlichen Seite; in der Wall Street erzittert alles, wenn ich mich zeige.«

»Ja, aber wie können Sie dann zur Blauen-Schüsselchen-Kongregation gehören?«

»Hm, ja – – Habs schon. Sie haben doch sicher Romane gelesen, in denen der ernste schweigsame Mann aus Granit in seinem Herzen eine geheime Zärtlichkeit verbirgt; er hebt noch immer den Ring von der ersten Zigarre, die er geraucht hat, in einem kleinen Safe auf, und den ersten Dollar, den er verdient hat, hat er einrahmen lassen – das bin ich.«

»Natürlich! Die Zigarre hat er von dem flachsblonden Schätzchen bekommen, daheim in Jenkins Corners, und im letzten Kapitel geht er wieder dorthin und heiratet sie.«

»Hoffentlich nicht immer!« Was Carl in diesem Augenblick dachte, ist unbekannt. »Nein, tatsächlich, ich war in den letzten Monaten ein ziemlich fleißiger junger Mann aus Granit und habe am Touricar gearbeitet.«

»Was ist ein Touricar? Das klingt nach einer von Kannibalen bewohnten Insel, die Hanf und Kokosnüsse exportiert, siehe rosa Pünktchen auf der Karte, nordnordöstlich von Mogador.«

Carl erklärte.

»Das interessiert mich kolossal«, sagte Ruth. (Aber sie sagte es in einem Ton, der wirklich echt klang.) »Ich finde das wunderbar … Ach, ich möchte auf und davon und eine Wanderung in den Berkshires machen. Ich habe schon genug davon, immer dieselben Gegenden zu sehn.«

»Später einmal, wenn Sie ganz sicher sind, daß ich ein anständiger junger Mann von der Y. M. C. A. bin, werde ich Sie zu einer wirklichen Wanderung zu überreden suchen.«

Sie schien über diese Idee nachzudenken, nicht ernsthaft, aber – –

Philip Dunleavy trat in Aktion.

Philip hatte einige Zeit lang Interesse für Ruth und Carl gezeigt. Jetzt kam er an den Tisch heran, bat um eine Tasse Tee, machte einige Bemerkungen und ließ sich in aller Ruhe nieder. Ruth wandte sich ihm zu.

Carl hatte sich eingebildet, daß Ruths Stimme etwas ganz besonders Freundliches, ihr Lächeln etwas ganz besonders Vertrauliches eigens für ihn gehabt hätte; als er jedoch bemerkte, daß sie Philip nicht anders behandelte als ihn, war ihm, als hätte er etwas verloren, das ihm seit Jahren als köstlicher Schatz galt. Noch schlimmer wurde es, als Olive Dunleavy dazukam; sie diskutierten zu dritt die Verlobung eines ihm unbekannten Mädchens und sprachen auch im übrigen von Dingen, zu denen er keinerlei Beziehung hatte. Carl kam sich einsam und fremd vor. Er fand Phil Dunleavys ironische Bemerkungen unerträglich und wäre am liebsten davongelaufen.

Ruth schien zu merken, daß Carl sich ausgeschlossen fühlte, und sagte zu Phil Dunleavy: »Du hättest sehen sollen, wie Mr. Ericson mir am letzten Sonntag das Leben gerettet hat. Es war wirklich interessant.«

»Was hat es denn gegeben?« fragte ein Vierter, der jetzt dazu kam.

Alle im Zimmer hörten zu, als Ruth von dem Ausflug ins Chinesenviertel, von Mrs. Salisbury Gesellschaft und dem Helden, der einmal als Passagier geflogen war, erzählte.

Sie hörte nicht auf, Carl mit ins Gespräch zu ziehen, und das schien ihn wieder in Kontakt mit der ganzen Gesellschaft zu bringen. Als sie zu Ende gesprochen hatte, sagte er:

»Was mich an dem Salonflieger am meisten amüsierte, waren seine beiden Behauptungen, daß der Atlantic noch vor dem Ende des Jahres 1913 überflogen sein wird, und daß wir alle in fünf Jahren Aeroplane haben werden. Aus meinem eigenen Geschäft, dem Automobilgeschäft, weiß ich, was solche Prophezeiungen taugen.«

»Glauben Sie nicht, daß der Atlantic bald überflogen werden wird?« fragte der scharf dreinblickende Mann mit der Schildpattbrille.

Phil Dunleavy erklärte mit einer Miene amüsierter Überlegenheit: »Meiner Ansicht nach hat der Salonflieger recht. Wissen Sie, die Aviatik ist wirklich ein so schwieriges Thema, daß ein Laie wohl überhaupt keine Prophezeiungen abgeben kann, weder positive noch negative.«

»O ja«, gab Carl zu.

Dunleavy sprach mit seiner dünnen, fast unverschämten Stimme weiter: »Also, ich kann Ihnen sagen, daß ich aus ausgezeichneter Quelle, von einem Mitglied des Aeroklubs, weiß, daß das nächste Jahr das größte Jahr der Aviatik sein wird, und daß die Wrights einen Aeroplan in Arbeit haben, mit dem sie einen Non-Stop-Flug über den Atlantic machen werden, und zwar spätestens im Frühling 1914.«

»Das ist sehr bedauerlich, denn mit der Fliegerei ist es bei uns völlig aus, außer Hydroplanen und der Militäraviatik, und vielleicht bleibt es auch so«, sagte Carl.

»Von wem wissen Sie das?« Phil drehte einen großen, seltsam geformten Ring an seinem schmalen Finger herum, und alles im Zimmer wartete auf die Antwort dieses so sicher sprechenden Outsiders.

»Nun«, meinte Carl langsam, »der Mann, von dem ich das habe, dürfte etwas davon verstehen. Sagen wir zum Beispiel Walter Mac Monnies; der ist wohl gleich nach Lincoln Beachy so ziemlich unser bester Flieger.«

»Ach ja, er ist ein recht guter Flieger«, sagte Phil geringschätzig und lächelte Ruth verstohlen zu, »aber er ist nicht besser als Aaron Solomons, und der ist wieder nicht halb so groß wie der Mann, der den selben Zunamen hat wie Sie, wie Falke Ericson, den ich selbst gesehn habe, wie er den großen Wettflug nach New York gewonnen hat … Sie verstehen also, ich habe mich ziemlich eingehend mit der Aviatik beschäftigt.«

Carl sah, daß Ruth plötzlich den Kopf um ein, zwei Zentimeter sinken ließ und ihn aus Augen, die zu schmalen Schlitzen wurden, ganz überrascht musterte. Er wußte, daß sie eben gemerkt hatte, wer er war. Sie verständigten sich mit Blicken. »Sie kapiert rasch«, dachte er. Und dann sagte er leichthin:

»Nun, es ist mir wirklich unangenehm, Recht zu behalten, Mr. Dunleavy, aber ich bin in einer ausgezeichneten Lage zu beurteilen, ob MacMonnies heute ein besserer Flieger ist als Ericson, w – –«

»Aber hören Sie doch –«

»– weil ich nämlich zufällig selbst Falke Ericson bin.«

»Was für ein Esel ich bin«, stöhnte der Mann mit der Schildpattbrille. »Natürlich, jetzt erinnere ich mich auch wieder an Ihr Bild.«

Phils Mund stand offen, Ruth lachte, alle anderen im Zimmer schnappten nach Luft. Der lange und kahlköpfige Mason Winslow zerbrach sich den Kopf über die Frage, wie man Flieger beim Tee empfängt.

Und Carl war verlegen wie ein kleiner Junge, den man beim Marmeladenaschen erwischt hat.


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