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Alle Probleme des Lebens wirbelten in seinem Kopf herum; er merkte gar nicht, wohin er ging. Irgendwo stieg er in eine Straßenbahn ein, dann kaufte er sich eine schwere Zigarre, später saß er wieder in einem Straßenbahnwagen, der ihn nach Long Island brachte. Bei der achten oder zehnten Haltestelle stieg er aus, als der Wagen gerade wieder anfahren wollte. Dann ging er weiter, bis er auf einmal draußen auf dem Land war.
Es erschreckte ihn, daß er Ruth verlassen hatte, aber er hatte nicht den Wunsch zurückzugehn; er wollte sie nicht einmal anrufen. Er mußte dahinter kommen, was mit ihm los war; dahinterkommen, was er zu tun hatte.
Er war schon viele Meilen gewandert. Ein Wegweiser zeigte ihm in der trüben Dämmerung des nahenden Tages, daß er nicht weit von Mineola war. Das brachte ihn auf den Gedanken, den nahegelegenen Flugplatz aufzusuchen und dort den Morgenflügen zuzusehn.
Nachdem er an einem Imbißwagen heißen Kaffee getrunken und eine Kleinigkeit gegessen hatte, suchte er den Flugplatz auf. Es war fast niemand zu sehn. Schließlich fand er ein Schuppentor offen, aus dem gerade drei verschlafene junge Leute in Sweatern und Khaki-Hosen einen Eindecker herausschoben.
Carl sah beim Start zu, freute sich über die Musik des Motors und beobachtete dann den Flug. »Mm. Ganz gut. Sehr anständig. Ich könnte vielleicht größere Geschwindigkeit rausholen. Würd es gern wieder mal probieren.«
Überrascht merkte er, daß er eigentlich gar nicht fliegen wollte, daß nur seine Lippen gesagt hatten: »Würd es gern wieder probieren.« Er hatte so wenig Beziehung zur Aviatik, als ob er nie geflogen wäre. Er ertappte sich dabei, daß er Ruth diese Entdeckung in einem erträumten Gespräch mitteilte.
Der Eindecker machte eine glatte Landung; der Pilot und sein Mechaniker schoben die Maschine zum Schuppen. Carl wurde von ihnen gar nicht beachtet. Er begriff, daß er hier, wo er einmal geglänzt hatte, für diese Leute nicht mehr als ein ganz gewöhnlicher Zuschauer war.
Dann sah ihn der Pilot aber doch an, ging auf ihn zu und rief aus: »Sagen Sie, sind Sie nicht Falke Ericson? Das ist aber eine Ehre. Ich habe gehört, daß Sie irgendwo in New York stecken. Einmal am Abend im Aeroklub sind Sie mir sozusagen gerade vor der Nase weggelaufen. Ich wollte Sie etwas wegen des Bagby-Hydro fragen. Wollen Sie nicht reinkommen und mit uns ne Tasse Kaffee trinken? Wäre eine große Ehre für uns. Berry ist mein Name.«
»Danke schön. Wird mir ein Vergnügen sein.«
Während die jungen Leute ihn bewunderten und sich an diesem neunundzwanzigjährigen Veteranen inspirierten, gaben sie ihm seinen Glauben an sich selbst wieder. Er war klein und demütig gewesen. Sie schenkten ihm wieder Selbstvertrauen, überzeugten ihn davon, daß er jemand war, daß es einen Wert hatte, zu leben.
Doch die ganze Zeit wußte er, daß er allein sein wollte, um im Geiste mit Ruth zusammen zu sein. Und so halb und halb wußte er auch schon, daß er nach Mineola zurückeilen und mit ihr telephonieren wollte.
Als er die Straße entlangtrabte, dachte er nur an sie. Es fiel ihm nicht ein, daß er hier einstmals Istra, die Malerin Istra Nash, kennen gelernt hatte, auf deren Namen er sich kaum besinnen konnte. Istra war ein Zufall; Ruth war der Sinn seines Lebens.
Und mit einemmal kam die Lösung des Problems, als ihm plötzlich klar wurde, worin das Problem bestand.
Ruth und er mußten sofort weg; irgendwohin, ganz gleichgültig wohin, solange sie nur auf neuen Wegen gingen und miteinander gingen. Nach dieser einsamen Nacht wußte er positiv, daß er in der Freiheit, nach der es ihn verlangte, nicht glücklich sein konnte, wenn er nicht sie zum Kameraden hatte. Und er wußte auch, daß sie das Einzige, wofür ihre Ehe überhaupt da war, nicht getan hatten. Sie waren nicht ganz einfach ein Mann und eine Frau. Sie waren ein Mann und eine Frau, die gelobt hatten, neue Horizonte für einander zu finden.
Er wußte ganz genau, daß es für Ruth und ihn – nicht für jedermann, aber sicherlich für Ruth und ihn – nur eine Pflicht gab: die Pflicht zur Freiheit, und daß sie diese Pflicht auch erfüllen mußten.
Am Telephon sagte er: »Ruth, ich bin gleich zu Hause. Ich bin die ganze Nacht gegangen. Jetzt ist mir alles klar geworden. Ich bin draußen in Mineola. Mit mir ist alles wieder in Ordnung, mein Kind. Ich kanns gar nicht erwarten, daß du auch so weit bist. Ich bin ungefähr in einer Stunde zu Hause.«
Sie antwortete in so gleichgültigem Ton, daß ihm auf die niederschmetterndste Weise klar wurde, er müsse erst Verzeihung dafür erlangen, daß er wütend fortgelaufen war; er müsse erst den Panzer des Grolls sprengen, in dem sie jetzt noch stak.
Erst als er in seinem Stockwerk den Fahrstuhl verließ, begriff er, daß Ruth ihn vielleicht gar nicht erwartete, vielleicht fortgegangen war. Er blickte unentschlossen zur Gittertür des Fahrstuhls und schlug sie dann zu.
»Wie ich angerufen habe, war sie da – –«
Er wartete. Vielleicht kam sie nachsehn, ob er heraufgekommen wäre.
Es zeigte sich nichts. Er legte die endlose Entfernung der drei Meter bis zur Eingangstür zurück, öffnete und ging mühselig durch die kleine Diele ins Wohnzimmer. Sie war zu Hause. Auf die Seitenlehne des Diwans gestützt, stand sie da, mit rotgeränderten Augen und einer angespannten Miene, die alles bedeuten konnte: Feindseligkeit, Angst, scheue Sehnsucht. Er streckte ihr seine Hände entgegen wie ein Gefangener, der um Gnade fleht. Sie breitete die Arme aus. Er vermochte kein Wort hervorzubringen. Die plumpen Laute, die »Worte« genannt werden, konnten den Sturm seiner Gefühle nicht ausdrücken. Er lief auf sie zu, und ihre Arme umfingen ihn. Er hielt sie fest und gab sich ganz in dem Kuß auf. Sein abgematteter Geist entspannte sich; ihr Körper entspannte sich in seinen Armen. Er wußte, nicht nur mit dem Verstand, sondern mit den gewaltigeren Kräften, die Verstand und Gefühl und Leib regieren, daß sie einander liebten.
»Jetzt ist auch bei mir alles in Ordnung«, sagte sie schließlich; »so wunderschön in Ordnung.«
»Ich muß dir noch alles erklären, ich hab allein sein müssen; dahinterkommen. Ich muß wohl einfach schauderhaft gr – –«
»Ach nein, nicht erklären! Unser Kuß hat ja alles erklärt.«
Als sie auf dem Diwan saßen und miteinander sprachen, war Ruth wie Carl der Meinung, daß sie augenblicklich, bevor es zu spät würde, fort müßten. Aber sie bestand darauf, praktische Pläne zu machen, und sie war es, die verwundert fragte: »Aber was würde denn geschehen, wenn alle so davonliefen wie wir? Wer würde die Kinder pflegen und dafür sorgen, daß die Felder gepflügt werden, damit die, die davongelaufen sind, etwas zu essen haben?«
»Ach«, rief Carl, »ich wollte, das wäre unser schwierigstes Problem. In tausend Jahren vielleicht, wenn alle so künstlerisch geworden sind, daß sie Bücher schreiben wollen, wird es schwer sein, genug Menschen zu finden, die sich abrackern wollen. Aber jetzt – – Sieh dir doch alle Bureaus an, in denen die Angestellten Tag für Tag schuften, sogar die unverheirateten. Sieh dir doch alle die jungen Familienväter an, die auf alles, was sie wünschen, verzichten, um Kinder groß zu ziehen, die dann wieder für ihre Kinder dasselbe tun werden. Die Lebensfackel wird immer weiter gegeben, aber niemand hat etwas davon. Die Menschen laufen vor der Sklaverei nicht oft genug davon, und deshalb kommen sie auch nie zu richtiger Arbeit.«
»Aber mein Herz, was soll sein, wenn wir eines Tages Kinder haben? Du weißt – – Natürlich, bis jetzt wollen wir ja gar keine, aber einmal könnte es doch dazu kommen, und wie sollen wir dann herum wandern – –«
»Ach ja, wahrscheinlich werden wir einmal Kinder haben, und dann werden wir eben wie die andern unsern Anteil am Schuften und Abrackern auf uns nehmen müssen. Unsere liebe Zivilisation bestraft ja nichts so sehr wie das Kinderkriegen. Wenn du Nahrungsmittel durch Verfälschung vergiftest, kannst du zu fünfzig Dollar verknallt werden, aber wenn du Kinder kriegst, nennt die Welt das ein Wunder – was es auch ist – und dann brummt sie dir schleunigst lebenslängliche Angst vor dem Boss auf.«
»Also Liebling, ich kann ja nichts dafür.«
»Ich wollte gar nicht so geschwollen daherreden. Aber es macht mich immer wütend, wenn ich daran denke, wie der Staat die Menschen dafür bestraft, daß sie arbeiten und Kinder kriegen wollen. Wer weiß, wenn genug von uns aus der braven normalen Tretmühle davonlaufen würden, dann würden die Menschen vielleicht anfangen darüber nachzudenken, wozu sie sich eigentlich damit abschinden, Unmengen von Alkohol und allen möglichen Dingen zu erzeugen, die kein Mensch braucht.«
»Vielleicht, mein Falke … Aber meinst du nicht, daß wir uns in deiner Hütte in den Rocky Mountains langweilen könnten, wenn wir ungezählte Monate dort wären?«
»Ja, das wird schon so sein«, meinte Carl nachdenklich. »Die Rebellion gegen ein enges Eheleben muß viel mehr sein als eine so kleine Veränderung wie von der Stadt aufs Land ziehen. Für manche Menschen ist es wahrscheinlich das Schönste, in einer unordentlichen Wohnung zu leben und viel Leute bei sich zu haben, und für andere, irgendwo in der Vorstadt zu wohnen und zu sehn, daß das liebe Weibchen Präsidentin vom Verschönerungsverein wird. Für uns aber, glaub ich, ist das Schönste, Abwechslung und nie stehen bleiben.«
»Ja, das glaube ich auch. Falke, mein Falke, ich bin fast die ganze Nacht wach geblieben, und da ist mir klar geworden, daß wir wirklich eins sind. Nicht wegen irgend einer Trauungszeremonie, sondern weil wir einander im Ernst und im Spiel verstehn können. Ich wußte, daß wir es von neuem versuchen müssen, was immer auch geschehn ist … Ich habe in der letzten Nacht ganz allein eingesehn, daß es sich nicht darum handelt, wer gerade an einem Streit schuld war; daß es niemandes ›Schuld‹ war, sondern ganz einfach die Verhältnisse, und die werden wir ändern … Wir wollen keine Angst davor haben, frei zu sein.«
»Nein! Himmel! ist das Leben schön!«
»Ja! Wenn ich bedenke, wie herrlich das Leben sein kann – so wunderbar herrlich – dann weiß ich, daß alle Propheten die Menschen lieben müssen. Und wenn sie auch noch so sehr über die Nichtswürdigkeiten klagen, an die das Leben vergeudet wird … Aber ich bin kein Prophet. Ich bin ein Mädchen, das schrecklich verliebt ist, und will nichts anderes, als daß du bei mir bleibst.«
Drei Monate später, im Februar 1915, reisten Ruth und Carl zu Schiff nach Buenos Ayres, Amerikas neuem Exportmarkt. Carl war Vertreter der VanZile Motor Corporation für die Republik Argentinien, war im Besitze eines höchst unwichtigen Gehalts, aller erdenklichen Möglichkeiten zu großen Geschäftsabschlüssen und schöner, kometengleicher Hoffnungen. Ihr Glück war wie ein Zauber. Sie hatten nicht wieder gestritten.
Das D. S. Sangrael, Ziel Buenos Ayres und Rio, war vom Schnee in den Sommer gefahren. Carl zitierte Kipling:
»›The Lord knows what we may find, dear lass,
Und the deuce knows what we may do –
But we're back once more on the old trail, our own trail, the out trail,
We're down, hull down on the Old Trail – the trail that is always new.‹
Auf jeden Fall«, erklärte er, »weiß nur der Teufel, was wir nach Argentinien machen werden, und das ist mir auch piepegal. Und dir?«
Zur Antwort drückte sie ihm die Hand, und er redete weiter:
»Ach siehst du, Kind, jetzt hab ich doch, bevor wir von New York abgereist sind, ganz vergessen, im Adreßbuch nachzusehn, ob es eine Gesellschaft zur Verbreitung von Verrücktheiten unter den Wohlanständigen gibt. Die hätte uns doch als Missionare ausschicken können … Da ist ein fliegender Fisch; und morgen werd ich nicht sehn müssen, wie Angestellte die Uhr stechen; und du wirst hören können, wie ein Matrose die Ventilatoren umstellt; und da oben auf dem Fockmast hockt ein kleiner Stern, der singt; aber das Schönste und Großartigste ist, daß du hier neben mir bist, und daß wir in Fahrt sind. Wie herrlich ist doch das Leben, wenn man nicht darauf verzichten muß zu leben, damit man genug Geld zum Leben verdient.«