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An einem verschneiten Sonntagnachmittag im Dezember ging Carl mit Gertie und Adelaide Benner, die nun tatsächlich nach New York gekommen war, im Central Park spazieren. Er wußte recht gut, daß er verdrossen war und sich keineswegs freundlich benahm, aber er konnte, so sehr er sich auch bemühte, seiner schlechten Laune nicht Herr werden. Adelaide sagte immer wieder züchtig und verlegen: »Es ist doch zu schlimm, daß ich euch Beiden im Weg bin. Kümmert euch gar nicht um mich, Tantchen wird euch den Rücken zudrehen, so oft ihr wollt.«
Und Gertie wurde bloß rot und murmelte: »Sei doch nicht albern.«
An der Achtzehnten Straße erklärte Adelaide: »Jetzt muß ich euch allein lassen, Kinderchen. Ich geh ins Metropolitan Museum. Ich seh mir ja zu gern Gemälde an. Daß ihr mir aber jetzt recht brav seid, ihr Beiden.«
Gertie antwortete mechanisch: »Ach, lauf doch nicht weg, Addy.«
»Natürlich, eine alte Jungfer wie ich wird euch sicher schrecklich fehlen!« Und damit war Adelaide auch schon verschwunden.
Carl dachte seufzend: »Wenn sie bloß diese dummen Anspielungen auf Gertie und mich lassen würde – –« Er bereute augenblicklich seine Gereiztheit und sagte zu Gertie, die gerade seinen Arm nahm: »Adelaide ist wirklich ein gutes Ding. Schade, daß sie gehn mußte.«
Gertie ließ seinen Arm fahren und brummte: »Wenn sie dir so sehr fehlt, kannst du ihr ja nachlaufen. Ich will mich, weiß Gott, nicht zwischen euch stellen.«
»Aber nanu, Gertie, was ist denn plötzlich? Was hast du denn? Ich wollte grade ein ganz ordinäres Vergnügen vorschlagen. Wollen wir nicht ins Casino gehn und Tee oder so was trinken?«
»Na, du könntest wirklich wissen, daß eine Dame nicht – –«
»Ach, Gertiechen, sag nicht ›Dame‹.«
»Ich kann es wirklich nicht nett von dir finden, Carl Ericson, daß du Witze machst, wenn ich ganz ernst bin. Und warum bist du überhaupt so lange nicht zu uns gekommen? Mamma und Ray haben auch schon davon geredet. Seit meiner Gesellschaft warst du nur ein einziges Mal bei uns, und dann bist du – –«
»Ach bitte, wir wollen doch nicht zu zanken anfangen. Es tut mir leid, daß ich nicht öfter kommen konnte, aber ich mußte mir immer abends noch Arbeit nach Hause nehmen. Du weißt ja, wie das ist – und wenn deine Tanzschule einmal richtig in Schuß ist – –«
»Ach, davon wollte ich ja mit dir sprechen. Ich bin fertig, einfach fertig mit der Vashkowska und ihrer scheußlichen alten Schule. Sie ist ein Biest, und beim russischen Ballett war sie bestimmt nie in ihrem Leben. Was, meinst du, hat sie die Frechheit gehabt, mir zu sagen? Sie hat behauptet, ich übe nie und gebe mir gar nicht richtig Mühe, wirklich etwas zu lernen. Und dabei habe ich gearbeitet, bis ich – – Tatsächlich, meine Nerven waren in einem unglaublichen Zustand. Wenn ich so weiter gearbeitet hätte, hätte ich bestimmt einen Nervenzusammenbruch gehabt. Tottykins hat schon einmal einen gehabt, und da bin ich mit ihr zu ihrem Doktor gegangen. Du, das ist aber wirklich ein reizender Mensch. Er heißt Dr. St. Clair und ist ein so gebildeter und sympathischer Mensch, und der sagte mir auch, ich habe ganz recht, daß die Vashkowska jetzt überhaupt von niemand mehr ernst genommen wird, und außerdem muß ich dir sagen, ich halte sowieso gar nichts von diesem symbolischen Tanzen. Ich bin endlich dahinter gekommen, was ich wirklich will. Ach Carl, es ist ja zu wunderbar! Ich studiere Keramik bei Miss Deitz; sie ist einfach herrlich und so künstlerisch, und sie hat ein süßes Atelier am Gramercy Park. Gemacht habe ich natürlich noch nichts, aber ich weiß, daß es mir sehr Spaß machen wird, und Miss Deitz sagt, ich habe von Natur aus Geschmack für Keramik und – –«
»Ha? Ach so, sone Töppe und Vasen. Ich versteh schon.«
»(Werd nicht ordinär.) – und ich werde jeden Tag zu ihr ins Atelier gehn und dort arbeiten, und sie meint auch nicht, wie diese gräßliche Vashkowska, daß man sich wie ein Scheuerweib abrackern muß, wenn man etwas erreichen will. Miss Deitz hat so viel Künstlerblut. Und, ach Carl, sie sagt, ›Gertrude‹ paßt gar nicht zu mir (›Gertie‹ erst recht nicht!) und sie sagt ›Eltruda‹ zu mir. Findest du nicht auch, daß das ein süßer Name ist? Würdest du mich nicht gern ›Eltruda‹ nennen, manchmal wenigstens?«
»Hör mal, Gertie, ich will mich da nicht einmischen, und schließlich versteh ich auch nichts davon, aber ich hab doch ein bißchen den Eindruck, daß dich eine von diesen Kunstschmarotzerinnen in die Klauen gekriegt hat. Was weißt du von dieser Deitz? Hat sie wirklich schon was geleistet? Und wirklich wahr, Gertie – – Übrigens, ich will nicht grob sein, aber ›Eltruda‹, das könnt ich nicht aushalten. Das klingt ganz so wie ›Tottykins‹.«
»Na erlaube mal, Carl – –«
»Wart eine Sekunde. Woher weißt du, daß du das hast, was du ›Künstlerblut‹ nennst? Von mir aus, viel Glück, wenn du damit weiter kommst, aber woher weißt du, ob das Ganze nicht einfach daher kommt, daß du ganz gemütlich in deiner Wohnung lebst und nichts anderes zu tun hast, als Künstlerblut an dir zu entwickeln? Warum versuchst du nicht, bei Ray im Bureau zu arbeiten? Er ist ein ausgezeichneter Geschäftsmann. Das ist bloß ein Vorschl – –«
»Also erlaube, das ist – –«
»Sieh mal, Gertie, was ich immer an dir bewundert habe, das ist dein vernünftiges Wesen und – –«
»›Vernünftig‹! Ach, dieses Wort! Miss Deitz hat mir erst vor ein paar Tagen gesagt, es ist genau so schlimm –«
»Aber du bist vernünftig, Gertie. Das heißt, wenn du dir nicht von New York den Kopf verdrehen läßt; und wenn du deine Fähigkeiten für eine wirkliche Arbeit einsetzt. Wenn du Ray hilfst oder Unterricht gibst, oder ja, wenn du wirklich bei deiner Keramik oder bei deinem Tanzen bleibst und den ganzen Künstlerblutquatsch fort läßt. Nein, wart noch. Ich weiß, daß es mich nichts angeht; ich weiß, daß kein Mensch sich ändern wird, bloß weil ich ihn darum bitte, aber siehst du, du – und Ray und Adelaide – ihr seid die Freunde, zu denen ich gehöre, und es ist mir fürchterlich, wenn ich sehn muß – –«
»Also lieber Carl, jetzt könntest du auch mich zu Wort kommen lassen«, sagte Gertie in aufreizend sanftem Ton. »Wenn ich mirs richtig überlege: seit wann bist du eigentlich eine Autorität für Künstlerblut? Vielleicht darf ich dich daran erinnern, daß du in Joralemon gar nicht so wunderbar warst! Ich bin immer mit Freuden die erste, die anerkennt, was du als Flieger geleistet hast, aber das gibt dir meiner Ansicht nach noch lange nicht das Recht dazu – –«
»Hab ich auch nie behauptet!« erklärte Carl mit gespielter guter Laune.
»– dir einzubilden, daß du eine Autorität für Künstlerblut und Kunst bist. Leider hast du dir scheinbar den Kopf ein bißchen verdrehn lassen, weil – –«
»Ach verflucht … Oh, entschuldige, das ist mir bloß so rausgerutscht.«
»Es hätte dir aber nicht herausrutschen dürfen. Das läßt sich dann nicht mehr so einfach abtun.« Gertie sprach ganz in den Tönen einer eifrigen Joralemoner Schullehrerin, die dem schmutzigen kleinen Ericson aufträgt: »Jetzt gehst du hinaus und wäschst dir die Händchen.«
Carl sagte nichts, er ärgerte sich. Es tat ihm leid, daß er sich in dieses vage Gerede über »Künstlerblut« eingelassen hatte.
Noch sanftmütiger sprach Gertie weiter: »Du scheinst heute nachmittag leider nicht sehr gut aufgelegt zu sein. Schade, daß meine Pläne dich gar nicht interessieren. Wenn ich erwarten würde, daß du dich für dein scheußliches Gefluche entschuldigst, würde das sicher ein Beweis dafür sein, daß ich sehr künstlerisch bin, und deshalb wird es wohl besser sein, ich geh jetzt, und wenn du wieder besserer Laune bist – –« Sie war empörend freundlich, »– würde es mich freuen, wenn du mich anklingelst. Adieu Carl. Hoffentlich tut dir der Spaziergang wohl.«
Sie bog in einen Fußweg ab, und er brummte, beleidigt wie ein kleiner Junge, vor sich hin: »Herrjesus! Jetzt hab ichs getan!«
Er war in Joralemon.
In einem vorüberfahrenden Wagen saß eine Witwe, die keineswegs so aussah, als ob ihr viel daran läge, in der besten Gesellschaft Joralemons akzeptiert zu werden. Ein Grinsen zog über Carls Gesicht. Er lachte: »Weiß Gott! Das hat Gertie großartig gemacht. Ich soll sie anrufen und ganz klein und häßlich und bescheiden sein, und dann – päng! – das Mindeste, was ich dann tun kann, ist, daß ich sie um ihre Hand bitte und zum Altar führe und mein ganzes Leben lang in der Sonntagsschule von St. Orgul unterrichte. Komm mal her, Falke Ericson, wir wollen Kriegsrat halten. Ja, so hat Gertie sichs wohl ausgedacht. (›Eltruda‹!) Weil ich ›verflucht‹ gesagt hab, werd ich ein einsamer Reue Abendbrot essen – – Nein. Erst muß ich ganz allein und eifrig bereuend zu Fuß in die Stadt gehn, und dann futter ich allein, und so gegen acht Uhr hab ich meine eigene süße Gesellschaft so satt, daß ich anklingel und bitte, bitte mach. Quatsch! Es ist doch eigentlich hundsgemein, sich das so auszudenken, aber trotzdem – – Ich – nach allem, was ich erlebt hab, mach ich mir schwere Gedanken darüber, daß ich einmal ›verflucht‹ gesagt hab … Hallo, Taxi!«
Stolz fuhr er durch den Park und machte, höchst unzerknirscht, jeder hübschen Frau, die er sah, sehr zum Ärger ihrer zylinderbehuteten Kavaliere eine Verbeugung.
Er vergaß ganz die Existenz Gertie Cowles' und der lieben Leute von daheim.
Aber eine Taxe konnte er sich eigentlich nicht leisten, und deshalb mußte er seine Verschwendung wieder durch Sparsamkeit gutmachen. Um halb acht trat er verdrossen ins Miggleton in der Zweiundvierzigsten Straße und ließ sich an einem Tisch in der Nähe des Fensters nieder. Es waren nur wenige Gäste da. Carl fühlte sich sehr einsam. Er las eine Abendzeitung und starrte mißvergnügt durch das Fenster auf das Schneetreiben in der Zweiundvierzigsten Straße hinaus. Als er mit seinem Nachtisch fertig war und den Kaffee umrührte, sah er, daß gerade vor dem Restaurant ein Straßenbahnwagen stehn geblieben war. Ein hübsches, blondes Mädchen von zwei- oder dreiundzwanzig Jahren, das einen Weißfuchs trug, saß in seiner Blicklinie. Carl verrenkte sich den Hals, um besser sehn zu können. Er mußte an die junge Dame denken, die damals vor der Florida-Imbißstube in Chicago mit dem Schutzmann gesprochen und den Packer Carl auf den Gedanken gebracht hatte, Chauffeur zu werden.
Das Mädchen in der Straßenbahn unterhielt sich mit ihrer Nachbarin, deren Züge von Humor und Lebensfreude sprachen; sie war brünett und sah gut gewachsen, aber nicht sehr groß aus; auf ihrem Kopf saß ein einfacher kleiner Hut, der gut zu ihrem braunen Fohlenmantel paßte. Beide machten einen sehr vergnügten Eindruck.
Der Straßenbahnwagen fuhr ab, und schon verlor Carl in dem Dschungel der Großstadt die beiden Bekanntschaften, die er eben gemacht hatte. Der Wagen mußte noch einmal halten. Carl packte seinen Mantel, warf der Kassiererin ein Fünfzigcent-Stück zu, stürzte, ohne auf seinen Rest zu warten, hinaus, lief über die Straße, wobei er um ein Haar überfahren worden wäre, rannte um den Wagen herum und sprang auf.
Als er sich gegenüber den Mädchen niedersetzte, fragte er sich, was er nun tun sollte. Die beiden nahmen gar keine Notiz davon, daß er da war. Und wozu hatte er sich so beeilt? Der Wagen stand noch immer. Doch diese Überlegungen hinderten ihn nicht daran, durch eine Zeitung gedeckt, seine ahnungslosen Opfer mit großem Behagen zu beobachten.
In der unnatürlichen Stille, die in dem haltenden Wagen herrschte, hörte er die beiden Mädchen über irgendeinen »George« sprechen. Er konnte gerade genug verstehen, um zu erkennen, daß sie der ziemlich eleganten, ziemlich kultivierten Klasse angehörten, deren Vertreter als »New Yorker« bekannt sind – sie mochten russisch-amerikanische Prinzessinnen sein oder Fürsorgearbeiterinnen, schlecht bezahlte Erzieherinnen oder Schauspielerinnen, oder vielleicht waren sie auch ganz einfach zwei jener Mädchen, die ein Automobil und einen nützlichen Papa in der Familie haben.
Auf jeden Fall war es offenbar unmöglich, sie anzusprechen.
Das große Mädchen mit dem aschblonden Haar schien, obwohl ihr Teint durchaus nichts Olivenfarbenes hatte, Olive, ihre muntere Gefährtin Ruth zu heißen. Carl hatte sich an Olives lebloser Schönheit ebenso bald sattgesehn wie an ihrem Schirm mit dem Silbergriff. Ihre einzige Tugend war, daß sie gut zuzuhören verstand. Aber die weniger blendende, die weniger schöne, weniger verführerische Erscheinung, die dunkelhaarige Ruth, war zum guten Kameraden geboren. An ihrem Lachen konnte man hören, daß sie zu den Frauen gehörte, denen kein Erdbeben, keine Überschwemmung und keine Schwangerschaft den Sinn für Humor rauben kann.
Die Verkehrsverstopfung war endlich behoben. Der Wagen bog um eine Ecke und fuhr in nördlicher Richtung. Carl musterte die Mädchen.
Ruth, die etwa vier- oder fünfundzwanzig Jahre alt sein mochte, war nicht groß, aber bei aller Zierlichkeit kräftig. Sie hatte üppiges, leicht gewelltes dunkelbraunes Haar, das metallisch schimmerte, und auffallend schwere dunkle Augenbrauen. Wenn sie lächelte, waren nicht nur ihre Augenwinkel daran beteiligt, sondern auch ihre Nase, eine zarte, aber pikante Nase, die zittern konnte wie ein Rehschnäuzchen. Carl bemerkte, daß sie beim Lachen eine ganz bestimmte Art hatte, ihre schweren Lider rasch zu heben und einen mit einem Blick aus blauen Augen – man hätte braune erwartet – zu überraschen. Sie hatte ein weiches, aber grübchenloses Kinn und glatte, knabenhaft schmale Wangen. Ihre gekreuzten Füße waren schmal und schienen in den faltenlosen Lackpumps (eine lächerliche Fußbekleidung für einen verschneiten Abend) vor Tanzlust nicht stillhalten zu können.
Nichts Kokettes schien in ihrem Wesen zu sein. Sie war jung und sauber; süß, ohne zuckrig zu wirken; zu jung, um viel von den wilden Kämpfen der Welt zu wissen; zu glücklich, um zu ahnen, daß hinter allem eine Traurigkeit stand, vor der es kein Entrinnen gab; und doch eine Frau, die durchaus nicht immer wünschen würde, daß man sie »beschütze«, die nicht in der Einbildung lebte, daß sie das Zentrum sein müsse, um das sich alles dreht.
So etwa träumte Carl, bis er sich lächelnd sagte: »Ich könnt mir fast einbilden, daß ich sie schon in- und auswendig kenne.« Das große Problem für ihn war, ob sie ihm schließlich, wenn er die beiden tatsächlich kennen lernen sollte, wirklich lieber sein würde als Olive. Wenn er sie nur ansprechen könnte – – Aber das war in New York noch viel schwieriger, als einen Schutzmann zu verprügeln oder mit dem Bürgermeister bekannt zu werden. Sicherlich verschwanden sie bald aus seinem Gesichtskreis.
Da standen sie auch schon auf und gingen auf die Plattform hinaus.
Sie durften aber nicht für ihn verschwinden. Er warf einen Blick durch das Fenster hinaus und spielte geschickt den Verwirrten, der zu seiner Überraschung merkt, daß er aussteigen muß. Noch immer die Zeitung vor dem Gesicht haltend, verließ er nach den beiden den Wagen. Seine ernsthafte Beschäftigung mit dem Blatt sagte allen, die ihn etwa beobachteten, daß er ein würdiger Bürger wäre, der niemals auf den Gedanken kommen könnte, fremden jungen Damen nachzugehen.
In dem beleuchteten Wagen waren ihm seine neuen Freundinnen nahe gewesen, doch jetzt, als sie an einer fremden Straßenkreuzung standen, schienen sie unerreichbar fern. Er studierte ein Straßenschild und stellte fest, daß er in der Madison Avenue war. Als sie bei der -undfünfzigsten Straße in östlicher Richtung einbogen, blieb er unter einer Laterne stehen, holte ein Kuvert aus der Tasche und überzeugte sich noch einmal von der Adresse seines lieben alten Freundes, der in der -undfünfzigsten Straße wohnte und seinen Besuch erwartete. Das tat er, um den Schutzmann an der Ecke von der völligen Reinheit seiner Absichten zu überzeugen. Dann folgte er den rasch vorwärtsschreitenden Mädchen, wobei er eifrig die Hausnummern studierte und des öfteren auf seine Uhr sah. Er durfte sich um keinen Preis bei seinem lieben alten Freund verspäten.
Die Gegend verwirrte Carl ein wenig. Die Mädchen, auf deren Spuren er dahin ging, schienen so gar nicht in dieses etwas herabgekommene Viertel zu passen. Eines der Häuser unterschied sich von den andern dadurch, daß fünf Automobile davor hielten, und hier blieben die Mädchen stehn. Carl ging weiter, stieg die nächste Treppe hinauf und drückte dort auf den Klingelknopf.
»Eine komische Gegend!« hörte er nebenan eine der beiden Freundinnen sagen. Seiner Meinung nach mußte es Ruth sein. »Können wir direkt hinauf gehen, oder müssen wir klingeln? Die Gesellschaft muß ja ganz verrückt sein. Anarchisten – –«
»Eine Gesellschaft, so?« dachte Carl.
»– doch wohl klingeln, glaube ich, aber – – Ja, bei Mrs. Hallet werden wir sicher die sonderbarsten Leute sehn«, sagte die Stimme der andern, und schon schloß sich die Tür hinter ihnen.
Ein verlegener Carl merkte, daß ein Dienstmädchen die Tür, an der er geklingelt hatte, öffnete und ihn erstaunt musterte.
»W-wo – – Wohnt Dr. Brown hier?« stammelte er.
»Nein«, und das Mädchen schlug ihm die Tür vor der Nase zu.
Carl stöhnte: »Nein? Mein lieber alter Brown? Wohnt nicht hier? Was? Was soll ich da bloß tun?«
Auffallend guter Laune ging er zu dem Haus hinüber, in dem Ruth und Olive verschwunden waren. Zu zweien und dreien kamen Leute. Ja. Die Herren waren im Frack. Er hatte erfahren, was er wissen wollte.
Er lief zum nächsten Taxenstand, fuhr rasch nach Hause und riß sich die Kleider vom Leib. Dann rasierte er sich in aller Hast und zog sich den Frack und sein schönstes Frackhemd an. Mit einem Griff raffte er Zylinder, Halstuch, Handschuhe, Brieftasche, Taschentuch, Zigarettenetui und Schlüssel zusammen, lief zu dem wartenden Wagen hinunter und fuhr zurück.
Vor dem Haus, in welchem die Gesellschaft abgehalten wurde, blieb er stehn und suchte auf dem Briefkasten vor der Tür den Namen Mrs. Hallet, den Olive erwähnt hatte, konnte ihn aber nicht finden. Die Eingangstür war nicht verschlossen, und vergnügt stieg er die steile Treppe hinauf, die kein Ende zu nehmen schien. Als er im obersten Stockwerk anlangte, fand er eine Tür offen, die zu einem großen Raum voll laut durcheinander schwatzenden Menschen führte.
Von Ruth und Olive war nichts zu sehn.
Ein Dienstmädchen kam auf ihn zu und flüsterte: »Hier, bitte. Am andern Ende.« Er folgte ihr gefügig und legte Hut, Mantel und Stock auf einen Haufen von Überkleidern, die in einem kleinen Zimmer auf einem Bett lagen.
Nun mußte er sich in den Strudel der fremden Menschen stürzen, aber er hatte Lampenfieber. Während er die Treppe hinaufstieg, hatte er noch das Gefühl gehabt, mit den beiden Mädchen in Kontakt zu sein, jetzt glaubte er ihnen jedoch noch ferner zu sein als vorhin auf der Straße, und überdies wußte er ja auch noch gar nicht, ob die Hausfrau ihn willkommen heißen würde. Er zündete sich eine Zigarette an und lauschte dem Stimmengewirr im Nebenzimmer.
Er wurde aus seiner Unsicherheit erlöst, als ein neuer Gast kam und im selbstverständlichsten Ton der Welt sagte: »Eine schauerliche Fülle. Darf ich Sie um Feuer bitten?«
Carl folgte ihm zur Hausfrau, einer kleinen, eifrigen Dame, die unablässig damit beschäftigt war, eine muntere Miene zu zeigen und bei jeder Kopfbewegung ihre goldenen Haarfransen durcheinander baumeln zu lassen. Er drückte ihr die Hand und sprudelte hervor: »Ich fürchtete schon, ich könnte nicht kommen. Mein Stück – aber dann ist es schließlich – –«
Er war sehr aufgeregt, doch die Hausfrau schrie nicht nach der Polizei, sondern rief: »Es freut mich ja so, daß Sie überhaupt kommen konnten. Übrigens, ich möchte Sie mit Miss Moeller bekannt machen. Mr. Aeh – Mr. – –«
»Ich dachte mir ja, daß Sie meinen Namen vergessen haben.« Carl war überaus brüderlich und liebenswürdig. »Ericson, Oscar Ericson!«
»Aber natürlich, wie dumm von mir; Miss Moeller, das ist Mr. Ericson, Sie wissen ja – –«
»Sehr angenehm, Miss Mmm«, sagte Carl manierlich.
Als er zehn Minuten in einer Ecke mit Miss Moeller gesprochen hatte, konnte er sich frei machen und auf die Suche nach Ruth gehen.
Wie sollte er sie nur finden? Es war doch nicht möglich, die Hausfrau zu fragen: »Sagen Sie mal, wo steckt denn Ruth?«
In dem großen Zimmer war sie nirgends zu sehn. Wenn er wenigstens Olive finden könnte …
Er ging umher, nickte völlig fremden Leuten zu, die freundlich zurücknickten, und musterte systematisch alle Gruppen und Grüppchen. Von Ruth war nichts zu entdecken.
Er wechselte noch einmal einige Worte mit der Hausfrau, und als er sich glücklich wieder von ihr losgeeist hatte, entdeckte er ein Zimmer, das er noch nicht abgesucht hatte – und dort sah er endlich Ruth und Olive.