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Achtes Kapitel

Professor Frazers nächste Vorlesung; ein regenschwerer Tag gegen Ende Oktober; hinter dem Collegegarten dehnten sich melancholisch die Stoppelfelder. Der Regen spritzte von den Tümpeln auf den abgetretenen Backsteinbürgersteigen auf, er triefte von den Bäumen und fegte um die Häuser, durchnäßte Füße und Beine.

Carl kam um ein Uhr in sein Zimmer zurück; er stützte die Füße gegen den verrosteten Ofen und sprach mit dem Türken. Am liebsten hätte er die Zeit angehalten, damit es nicht drei Uhr würde – die Stunde von Professor Frazers Vorlesung. »Ich komm mir vor, als hätt ich einen Kampf vor mir und eine Heidenangst davor. Hör dir doch den Regen draußen an. Himmel! die Alte läßt aber die Fenster verschmutzen. Hoffentlich sagt Frazer ihnen tüchtig und ordentlich Bescheid. Wir sollten ihm applaudieren können. Mir ist ganz komisch, so als ob was Tragisches geschehen würde.«

»Ach, den Hund bind draußen an«, gähnte der Türke, der ein treuer Anhänger Carls und darum auch Professor Frazers war, aber keine Phantasie hatte. »Reiß dich zusammen, Mensch; ich werd dir was Hübsches auf der Mundharmonika vorspielen, ja?«

»Ach hör auf! Ich hab eine solche Unruhe im Leibe, daß ich mir nichts anhören kann außer Kanonenschüssen.« Carl stapfte zum Fenster und betrachtete einen Wassertümpel, der das graugefärbte Gras in dem ärmlichen Hof überflutete.

Als es Zeit war, zum Kolleg aufzubrechen, platzte der Türke heraus: »Warum schwänzen wir nicht einfach und vergessen die ganze Sache? Schlag dirs aus dem Kopf. Gehen wir auf die Kegelbahn und schieben wir, bis wir ordentlich in Schweiß kommen.«

»Ausgeschlossen, Türke. Er wird alle Anhänger brauchen, die er hat. Und dir wärs genau so fürchterlich wegzubleiben wie mir. Jetzt bin ich wieder ganz munter; von mir aus kann der Tanz angehn. Hopp! Los!«

»Schön, alter Herr. Der Krach ist mir schon recht; ich will nur nicht zusehen, wenn du dich so blödsinnig aufregst.«

Durch den Regen, über den Collegehof, eilten mehr Studenten als gewöhnlich zu den Dreiuhr-Vorlesungen; sie hatten billige Regenmäntel an, klapperten die Steintreppe des Lehrgebäudes empor, redeten aufgeregt durcheinander, sahen zum Portal hinauf, als erwarteten sie eine Sensation. Viele starrten Carl an. Er kam sich ziemlich wichtig vor. Offenbar kannte man ihn als kampflustigen Anhänger Professor Frazers. Als er zum Eingang des Hörsaals A kam, sah er, daß so manche ihre eigenen Vorlesungen schießen ließen, um die Vorgänge bei Frazer nicht zu versäumen. Er stolzierte zu seinem Sitz, warf hochmütige Blicke auf die Zuläufer, die sich auf die freien Plätze in der hintern Hälfte des Saals drängten und in der Nähe der Tür umherstanden – Studenten anderer Jahrgänge, Mädchen aus dem Ort, der junge Lektor, der Französisch, Deutsch und Musik unterrichtete; ein paar Klubweiber aus der Stadt mit Augengläsern, in Galoschen und Wollstrümpfen, die sich an den Knöcheln bauschten. Alle flüsterten durcheinander, beobachteten einander, warfen immer wieder Blicke auf das Podium und die kleine Tür daneben, durch die Professor Frazer hereinkommen mußte. Carl wollte ihn mit einem Lächeln begrüßen, aber es war eigentlich ausgeschlossen, daß dieses Lächeln gesehen würde; es mußten hundertfünfzig Menschen, zum Teil sitzend, zum Teil stehend, im Raum sein, obwohl der Kursus nur siebzig Teilnehmer hatte und das ganze College in diesem Jahr von nur zweihundertsechsundfünfzig Studierenden besucht war.

Carl blickte hinter sich. Er ballte die Faust, schlug sich damit auf den Schenkel, zog den Atem ein und stieß ihn mit einem langen verzweifelten: »Teufffel!« wieder aus. Der Griechisch-Professor, ein kommagroßer Feldwebel, bei dem nichts Neues als moralisch gelten und nichts Altes von Studenten angezweifelt werden durfte, marschierte in den Saal und stellte sich in Positur wie ein Napoleon vor zwei Wachposten und einem Pinguin auf St. Helena. Ein Student im Hintergrund des Saales trat dem griechischen Gott brav seinen Platz ab. Der Gott setzte sich mit einem wohlabgemessenen Kopfnicken. Augenblicklich verließ ein absonderlich aussehender Mann mit Zelluloidkragen die Gruppe an der Tür, eilte zum Griechisch-Professor und ging ihm um den Bart. Das war der furchtlose Redakteur und Besitzer (zu Zeiten auch Setzer) der Plato Weekly Times, dessen Handpressen und dessen reine Jeffersonsche Politik aus den Tagen Washingtons stammten, der Zeitungsgewaltige, der weder Mensch noch Teufel fürchtete, wenn er sich auch in Gesellschaft seiner Wirtin unbehaglich fühlte. Er interviewte den Griechisch-Professor, der angesichts aller Versammelten wichtigtuerisch antwortete; dabei wedelte er demonstrativ mit einem Bündel Papier in der linken Hand herum und erzeugte mit seiner Füllfeder einen Sprühregen von Tintentropfen. Carl haßte alle beide, er fürchtete den Griechen als Spion, den der Lehrkörper Frazer auf den Hals hetzte, und malte sich aus, wie er den Redakteur mit Fußtritten regalierte – da ging plötzlich ein Raunen durch den ganzen Saal, und alle drehten den Kopf zum Podium.

Er wandte sich um. Er lächelte in seiner Heldenverehrung wie ein scheues Kind. Professor Frazer trat klein und bescheiden durch die niedrige Tür an dem Podium. Sein Mund sah verkniffen aus. In allem verriet sich die Verlegenheit. Seine Bewegungen waren ruckhaft. Er vermied es, die Zuhörerschaft anzusehen. Auf den Stufen, die zum Podium führten, wäre er fast gestolpert, und als er seine Notizen aus der Ledermappe holte und auf das kleine Vortragstischchen legte, zitterte seine Hand. Ein Zettel entglitt ihm und fiel vor die erste Sitzreihe. Fast alles im Raum kicherte. Frazer wurde rot. Eine Studentin in der ersten Reihe sprang aufgeregt vor, hob den Zettel auf und reichte ihn Frazer. Beide benahmen sich dabei ungeschickt, ihre Körper waren dicht beieinander. Die Mehrzahl der Anwesenden lachte ganz laut.

Professor Frazer setzte sich auf seinen niedrigen Stuhl, holte mit zuckender Hand die Uhr heraus und verglich die Zeit mit der Uhr an der Hinterwand des Saales – und so gespannt beobachteten die Amateurhenker ihr Opfer, daß aller Augen mit zur Wanduhr gingen. Selbst Carl machte sich dieses Nachäffens schuldig. Dabei sah er, daß der Redakteur, der da hinten stand, sich Notizen machte und schmutzig grinste: er erinnerte an einen Straßenköter, der einen Knochen stiehlt. Und der Griechisch-Professor beglotzte Frazers linkische Bewegungen mit einer finstern und gezierten Miene, die deutlich sagte: »Genau so, wie ich es erwartet habe«; er hatte die Ellbogen auf die Lehnen des Sitzes gestützt und hielt vor der Brust ein kleines, in Leder gebundenes Notizbuch, auf das er arrogant mit einem spitzen Bleistift klopfte. Er wartete. Wie ein Inquisitionsrichter …

»Der alte Grieche wird Notizen machen und dem Lehrkörper darüber berichten, was Frazer sagt«, dachte Carl. »Wenn ich nur seine Notizen in die Finger kriegen und vernichten könnte.«

Carl drehte sich wieder um. Es war Punkt drei. Professor Frazer war aufgestanden. Für gewöhnlich saß er während der Vorlesung. Fünfzig geflüsterte Bemerkungen kommentierten diese Tatsache; fünfzig reguläre Teilnehmer des Kursus gewannen dadurch, daß sie dies wußten, in ihren eigenen Augen Wichtigkeit. Frazer lehnte sich leicht an das Tischchen. Es verrückte sich unter seinem Gewicht um einige Zentimeter, aber diesmal war alles zu angespannt, um zu lachen. Er war bleich. Er legte seine Notizen noch einmal zurecht. Zweimal mußte er sich räuspern, bevor er in dem jetzt stillen, mit aasgeierhafter Aufmerksamkeit geladenen Raum, der nach feuchten, billigen Kleidern roch, beginnen konnte zu sprechen.

Das Prasseln des Regens war zu hören. Alles rückte sich in den Sitzen zurecht.

»Ach, Frazer kann nicht widerrufen«, stöhnte Carl, »aber er hat Schiß.«

Carl wünschte sich mit einemmal weit fort von diesem sinnlosen Konflikt; er wäre am liebsten mit dem Türken über die nassen Straßen gewandert oder im Wagen des Bankiers mit einer Stundengeschwindigkeit von fünfzig Kilometern klatschend und spritzend durch die Pfützen gefahren. Ganz idiotisch konstatierte er, daß Genie Linderbeck sich kaum gekämmt hatte; er ertappte sich dabei, wie er vor sich hinsagte: »Frazer schmeißt um, schmeißt um, schmeißt um; er schmeißt um, schmeißt um, schmeißt um.«

Dann sprach Frazer. Seine Stimme klang rauh und ungleichmäßig, aber bald gewann er im Lauf des Vortrags die natürliche Ruhe des öffentlichen Redners.

 

»Meine Freunde«, sagte er, »ein Teil von Ihnen ist mit Fug und Recht hierhergekommen, um meine Vorlesung zu hören; einen andern Teil hat die Sucht hergetrieben, seine Neugier zu befriedigen: Gerüchte haben die Erwartung erweckt, ich werde höchstwahrscheinlich unsittliche und unanständige Reden führen, die Sie sich, geschwellt von Ihrer Sittlichkeit und Anständigkeit, nicht entgehn lassen wollen, und über die Sie bösartige und entstellende Berichte verbreiten werden, um in den Ruf furchtloser Wahrheitsverteidiger zu kommen. Ihren Wunsch zu befriedigen und Sie zu empören – die Versuchung dazu ist freilich viel größer als die, zu revozieren und reaktionär zu werden. Mir ist jedoch bewußt, daß dieser Ort und diese Zeit dazu bestimmt sind, daß Henry Frazer in einer Vorlesung seine Ansichten über das zeitgenössische Drama entwickelt. Ort und Zeit sind keineswegs dazu bestimmt, daß jemand sich als Märtyrer vorkommt und eine kindische Verteidigungsrede hält; auch nicht dazu, daß entweder ich selbst oder einer von Ihnen eine Sensationsreklame für sich macht. Nach diesen einleitenden Worten denke ich nicht im entferntesten daran, auch nur den geringsten Teil meiner Vorlesung der erstaunlich großen Anzahl neuer Freunde zu widmen, deren strahlende und taufrische Gesichter ich vor mir sehe. Ich werde weder so verlogen taktvoll sein, Sie willkommen zu heißen, noch so eingeschüchtert, Sie zu ignorieren. Ich werde Sie auch nicht auffordern, mit Klagen, die Sie über mich vorzubringen haben, zu mir zu kommen, Dazu gibt mir meine wirkliche Arbeit zu viel zu tun!

Ich zwinge mich nicht zu geduldigem Reden. Ich habe keine Geduld für Sie. Ich spreche nicht höflich. Ich glaube wirklich, ich werde nicht mehr lange höflich sein!

Einen Moment. Das klingt mir jetzt nach Phrase! Verzeihen Sie mir, und übersetzen Sie meine Unbesonnenheit in eine mehr alltägliche Sprache.

Wenn mir auch nur Gerüchte zu Ohren gekommen sind, so kann ich mir doch sehr gut vorstellen, daß Sie das ohnedies tun werden … Und nun, glaube ich, wissen Sie, wo ich stehe.

Also. Für die unter Ihnen, die sich für das glänzende Werk Bernhard Shaws ehrlich interessieren, werde ich zunächst in der Auseinandersetzung über die Wichtigkeit seines sozialen Denkens fortfahren, ich werde mich bemühen, es in Verbindung zu bringen mit der gewaltigen und stets an Einfluß gewinnenden Vision H. G. Wells' (den ich, obwohl er Romancier und nicht Dramatiker ist, wegen der großen Bedeutung seiner neuen Bücher, Kipps und Mankind in the Making, nicht übergehen kann) und ich werde auf den ernsten Sinn hinweisen, der sich meiner Ansicht nach hinter Shaws sarkastischen Bildern von den Masken des Lebens verbirgt.

In meinem letzten Vortrag war ich bemüht, von der destruktiven Seite der sozialen Theorien von heute so wenig wie möglich zu zeigen; mehr von dem heißen Wunsch der modernen Denker nach positivem, aufbauendem Vorstellungsvermögen zu sprechen. Aber ich bin der Ansicht, man hat mich für allzu destruktiv gehalten; das belustigt mich, und ich werde dieser Ansicht zu Leibe rücken, indem ich aufzeige, wie destruktiv das moderne Denken ist und sein muß – ob es nun, die schwelende Fackel der Individualität in der Faust, mit Bakunin einhertobt, ob es mit Nietzsche zischt und pfeift oder mit Bernard Shaw den Olymp verlacht. Man hat von meinem »Radikalismus« gesprochen. Radikal! Begreifen Sie denn nicht, daß ich nicht behaupte oder andeute, es könnte vielleicht eines Tages in Amerika zu einer Revolution kommen, daß ich vielmehr jetzt erkläre: es herrscht hier, in dieser Minute, schon seit Jahren, tatsächlich zwischen Kapital und Arbeit der Kriegszustand? Von Tag zu Tag sagen mehr Menschen ganz offen und mit allem Nachdruck, daß wir unsere Armen aushungern, unsere eigenen Kinder mit überflüssigem Bücherwissen vollstopfen und die Kinder Anderer in Fabriken arbeiten und nachts in den Hurenvierteln auf den Straßen Zeitungen verkaufen lassen! Sie sagen, wir beweisen damit, daß wir mitten im Wahnsinn sind – ist Ihnen das unbekannt? Wenn Sie mir antworten, das sei keine Revolution, denn es gebe keine Barrikaden, so verweise ich Sie auf die nur allzu wirklichen Schlachten bei Homestead, Pullman und so weiter. Wenn Sie meinen, es hätte keine Kriegserklärung gegeben, es sei kein offener Krieg, werde ich Ihnen Leitartikel aus The Appeal to Reason vorlesen.

Wohlgemerkt, ich werde nicht sagen, ob ich auf der Seite der Revolutionskämpfer stehe oder nicht. Aber ich verlange von Ihnen, daß Sie um sich sehen und die Wichtigkeit der Industrietumulte und religiösen Beunruhigungen unserer Zeit verstehen lernen. Solange das nicht der Fall ist, werden Sie nichts begreifen; ganz gewiß nicht, daß Shaw etwas mehr ist als ein Enfant terrible; Ibsen mehr als ein griesgrämiger alter Mann mit Verdauungsstörungen und einem törichten Mangel an Interesse fürs Schlittschuhlaufen. Dann erst wird Ihnen klar werden, daß in den verstiegensten Äußerungen rothemdiger Streikführer nur zu oft mehr glühender Glaube und Ehrlichkeit enthalten sein kann als in den jungfräulichen Gebeten eines Mädchens, das in aller Demut christlichen Andachtsstunden beiwohnt, sich aber erlaubt, Emma Goldman ›diese fürchterliche Person‹ zu nennen. Folgen Sie den Führern der Arbeiterpartei. Oder bekämpfen Sie sie ordentlich und tüchtig. Aber übersehen Sie sie nicht.

Doch ich muß systematischer vorgehen. Wenn John Tanners unabhängiger Chauffeur, von dem Sie – ich hoffe es wenigstens – in Mensch und Übermensch gelesen haben – –«

 

Carl blickte um sich. Viele schnitten finstere Gesichter; einige neigten sich zur Seite, um mit einem verblüfften Kopfschütteln, das ganz deutlich hieß: »das verstehe ich nicht ganz«, mit ihren Nachbarn zu flüstern. Nasse Füße bewegten sich vorsichtig; rasche Atemzüge waren zu hören; Hände zupften nervös an Unterlippen. Der Griechisch-Professor schrieb sich etwas auf. Der Einfache Smith saß steif da und starrte mit undurchdringlicher Miene zum Podium. Carl fand Smiths finstere Ruhe abscheulich.

 

Professor Frazer kam zum Ende seines Vortrages:

»Wenn Sie wollen, geben Sie diesen Kursus auf, lesen Sie kein einziges von den Stücken, die ich Ihnen nenne, mißachten Sie, was ich sage, schenken Sie keiner einzigen meiner Behauptungen Glauben. Und ich will mich zufrieden geben. Aber tun Sie eines nicht – Sie sind doch lebendige Geschöpfe – verschließen Sie nicht Ihre Augen vor der Tatsache, daß eine durch die ganze Welt gehende Bewegung da ist, die eine größere, eine neue Welt aufbauen will – daß die Welt sie braucht – und daß es in Jamaica Mills, auf Grundstücken, die einem der Leiter des Plato Colleges gehören, zwei ganz besonders widerwärtige Kneipen gibt, mit denen Sie aufräumen müssen, bevor Sie etwas gegen mich vorbringen!« Zehn Sekunden Schweigen. Dann: »Das war alles.«

Die Zuhörerschaft begann sich langsam zu regen, während Professor Frazer hastig seine Papiere und seinen Regenmantel nahm und durch die Tür am Podium hinauseilte. Augenblicklich erhob sich ein wild durcheinandergehendes hitziges Gesumme.

Carl redete seinen Nachbar an: »Der Mann hat doch wirklich was los. Ob die Leute hier konservativ sind oder nicht, ist ihm ganz egal. Und das am Ende war vielleicht ne Sensation!«

»He? Was? Wer?« der Sophomore starrte ihn an.

»Ja. Na freilich! Was meinen Sie denn?« fragte Carl.

»Na, und was meinen Sie mit Ihrem ›was los haben‹? Ja, von wegen! Ein ganz stumpfsinniger Kerl ist das!«

»He?« rief der Nächste in der Reihe, ein Senior von der Y. M. C. A. »Wollen Sie sagen, daß es Ihnen gefallen hat?«

»Aber ja! Warum denn nicht? Ihnen nicht?«

»Natürlich! Na klar! Er hat ja nichts anderes gesagt, als daß solche verkommenen Weiber wie die Emma Goldman mehr taugen als unsere Studentinnen, und daß er hofft, seine Hörer werden auf seinen Kurs pfeifen und fortbleiben, und daß wir in Jamaica Mills was zu saufen kriegen können, und noch ein paar Kleinigkeiten von der Sorte, das war alles. Natürlich! Um solche Sachen zu lernen, sind wir hergekommen.« Der Senior knöpfte sich verärgert den Regenmantel zu. »Das ist – – Aber der Mensch ist ja wahnsinnig! Und wie er hergefallen ist über Anständigkeit und – – Ach, ich kann gar nicht darüber reden!«

»Na, bei Gott, von allen – allen – –« platzte Carl los. »Sie und Ihre Y. M. C. A. Ihr nennt euch religiös und dann verdreht Ihr so, was – Sie und Ihre – ach, Sie sind ja gar nicht wert, daß man mit Ihnen streitet. Ich glaub auch gar nicht, daß Sie hergekommen sind, um was zu lernen, Sie wissen ja alles schon.« Aufgeregt und verwirrt, bemüht, der Sache Frazers nicht durch Ungezogenheit zu schaden, fragte er in bittendem Ton: »Sagen Sie aufrichtig, hat Ihnen seine Vorlesung nicht gefallen, hat sie Ihnen keinen neuen Gedanken gegeben?«

Der Senior verkündete: »Nein, ›mir und meiner Y. M.‹ hats nicht gefallen. Und jetzt lassen Sie sich nicht von mir aufhalten, Ericson. Sie werden wahrscheinlich mit dem lieben Mr. Frazer einen Whisky-Soda trinken wollen; Sie sind ja einer von seinen Lieblingen. Hat er Ihnen das Saufen beigebracht? Sie sollen dabei ja recht tüchtig sein.«

»Sie werden sich entschuldigen, oder ich hau Ihnen die Fresse ein«, sagte Carl. »Ich versteh die Prinzipien von Professor Frazer nicht so, wie ich sollte. Ich kämpf nicht für sie. Wenn ich genug wüßte, täts ichs wahrscheinlich. Aber mir gefällt Ihr Gesicht nicht. Es ist zu lang. Es sieht aus wien Pferdegesicht. Daß ein Kerl mit einem Pferdegesicht in seinem Kolleg sitzt, ist eine Beleidigung für Frazer. Sie werden sich dafür entschuldigen, daß Sie ein Pferdegesicht haben. Verstanden?«

»Sie geben ja bloß an. Sie denken gar nicht dran, hier was anzufangen.«

»Entschuldigen Sie sich!« Carls Fäuste waren geballt. Von allen Seiten starrte man die Streitenden an.

»Hören Sie doch auf! Ich hab gar nichts sagen wollen!«

»Das hab ich mir ja gedacht«, fauchte Carl und drängte sich hinaus; dabei wälzte er sehnsüchtige, kindische Pläne, wie er mit seiner Ergebenheit zu Frazer gehen und ihm seine Dienste in einem Kampf anbieten könnte, dessen Ursache ihm mit jedem Augenblick unklarer wurde. Als er zum Fußballtraining hinauseilte, hatte er neben sich einen Schiedsrichter aus dem Juniorenjahrgang, der ihm zuredete:

»Beruhigen Sie sich doch, Menschenskind. Sie können nicht das ganze College verprügeln.«

»Aber es macht mich so wütend – –«

»Ach, ich weiß, aber ich muß Ihnen sagen, und wenn Sie noch so viel für Frazer übrig haben, wie er gesagt hat, daß Anarchisten vernünftiger sind als anständige Menschen, da ist er doch ein bißchen zu weit gegangen.«

»Das hat er doch nicht gesagt! Sie haben ihn nicht verstanden. Er hat gemeint – – Ach du lieber Gott, was hat das Ganze denn für einen Sinn!«

Er gab es auf und sagte kein Wort mehr.

 

Er war überzeugt davon, daß die Studenten, die um seine Anhängerschaft wußten, versuchen würden, ihn zu Unbesonnenheiten hinzureißen. »Lieber Gott, bitte, gib mir nur einen von den Dickschädeln, damit ich ihn zu Brei zerdresche, und dann will ich gut sein und die Schnauze nicht wieder auftun«, so betete er in aufrichtiger Demut, während er sich vor seinem Schränkchen auskleidete.

Carl mußte mit den meisten der anderen Ersatzmänner warten, und fast alle klatschten über die Vorlesung. Alle diskutierten aufgeregt über Frazers anklagende Behauptung, daß irgendein Mitglied des Lehrkörpers Grundstücke besitze, auf denen Kneipen stünden, und versuchte zu erraten, wer gemeint sein könne, aber nicht ein einziger sprach für Frazer. Zwanzigmal wollte Carl richtig stellen; zwanzigmal drängte es ihn so sehr zum Sprechen, daß er Atem holte, den Mund öffnete; aber jedesmal brummte er sich zu: »Ach, halt die Klappe! Du machst es ja nur noch schlimmer.« Studenten, die der Vorlesung beigewohnt hatten, erklärten, Professor Frazer habe Bombenwerfen und Lasterhaftigkeit propagiert, und die andern glaubten es, freuten sich salbungsvoll über den Skandal.

Carl hockte hoch oben auf zwei Barrenstangen und baumelte aufgeregt mit den Beinen, während die andern ihn heimlich beobachteten – schlank und groß saß er da, vor seine porzellanblauen Augen hatte die Wut einen Schleier gelegt; seine blonde Skandinavierhaut war rot; unter dem eng anliegenden Fußballtrikot zeichnete sich seine kräftige Brust ab.

Das Gummiband seines Nasenschützers knallte scharf; er zupfte daran und spielte auf dieser harten kleinen Harfe ein Haßlied.

Eine Kleinigkeit brachte ihn zum Explodieren. Tommy La Croie, der französische Kanadier – ein hitziger, ewig grinsender, tabakkauender, ganz sympathischer junger Raufbold mit einem bösen Maulwerk – sah Carl ins Gesicht und sagte laut: »Dann ist mir noch aufgefallen, daß die Hosen, die Frazer angehabt hat, nicht gebügelt waren. Komisch, daß die feinen Affen aus Yale, wenn sie verdreht werden, am Baden und am Schneider sparen.«

Carl ließ sich vom Barren heruntergleiten. Er ging zur Reihe der Ersatzleute hinüber, musterte einen nach dem andern verächtlich, steigerte sich in die Rolle eines kämpfenden Revolutionärs hinein und erklärte: »Die eine Hälfte von euch ist zu blöd, um Frazer zu kapieren, und die andere Hälfte sind alte Klatschtanten, die Tee trinken sollten«; verdrossen ging er in den Ankleideraum, während hinter ihm die Ersatzmänner lachten und einer rief: »Es tut uns sehr leid, daß Sie mit uns nicht einverstanden sind, aber wir werden uns Mühe geben, es zu ertragen. Wollen Sie das ganze College verprügeln, Ericson?«

Als er im Ankleideraum war, brannten ihm die Ohren. Er hatte nicht das Gefühl, sehr großen Eindruck gemacht zu haben.

 

Von den nächsten ein oder zwei Tagen mit allen Einzelheiten berichten – das hieße ganze Bände mit Betrachtungen über die kindischen und heldenhaften Züge füllen, die sich in Carls Treue gegen Frazer mischten; tausend über den Collegegarten getragene Gerüchte wiederholen, die besagten, daß der Lehrkörper Frazers Rücktritt fordern würde; erklären, warum Frazers Behauptung, daß ein Lehrer Grundstücke mit Kneipen besitze, eine kurze Weile in aufgeregten Flüstertönen besprochen und ganz vergessen wurde, während Frazers Ruf als »Verdrehter« durchaus nicht in Vergessenheit geriet, ganz einfach, weil der Mist die Mistgabel über alles haßt; es hieße Carls kurzen Besuch bei Frazer und seine verwirrende Entdeckung, daß er nichts zu sagen hatte, schildern; die tapferen Berichte des Lokalblättchens über die Frazeraffaire wiederholen und den großen Eid des Türken, Frazer »durch Hölle und Hochwasser hindurch« zu unterstützen, sowie seinen oft wiederholten trutzigen Satz: »Na, weiß Gott! Wir werdens den Hammeln schon zeigen, aber ich wollte nur, wir könnten was tun«; es hieße von öden Unterrichtsstunden erzählen, deren Langweiligkeit Carl jetzt, da Frazers Vorlesungen ihn interessierten, erst ganz zum Bewußtsein kamen.

 

Carl kam aus Genie Linderbecks Zimmer zurück und fand auf dem Kleiderrechen aus schwarzem Nußbaum einen Brief von Gertie Cowles vor. Er las ihn nicht, redete sich aber mit Erfolg ein, er freue sich darüber, und ging pfeifend in sein Zimmer hinauf.

Auf Holzstühlen saßen weit zurückgelehnt die mächtigen Senioren Ray Cowles und Howard Griffin, und zwischen ihnen der Herr der Welt Mr. Bjorken, der Fußballtrainer, ein kräftiger, liebenswürdiger, ziemlich religiöser junger Mann, der ein Anhänger des Fußballspiels, der äußeren Mission und der demokratischen Partei war.

»Hallo! Wartet ihr auf mich oder auf den Türken?« stammelte Carl, während er allen ernsthaft die Hand schüttelte.

»Wir sind bloß für einen Augenblick raufgekommen, um mit Ihnen zu sprechen«, sagte Mr. Bjorken.

»Tut mir leid, daß der Türke nicht da war.« Eine kaum hörbare innere Stimme riet Carl, ein ernsthaftes Gespräch mit seinen Besuchern so lange wie möglich hinauszuschieben.

Ray Cowles räusperte sich. Noch einmal im Laufe seines Lebens so viel »Reife« und klägliche Weisheit an den Tag zu legen wie in diesem Augenblick, war dem schwarzhaarigen Adonis, der stolzen Blüte aus Joralemons Blumengarten, nicht bestimmt. »Wir wollen mit dir ernsthaft über etwas reden – um deiner selbst willen. Du weißt, ich habe mich immer für dich interessiert, und Howard auch, und selbstverständlich haben wir auch als Bundesbrüder Interesse für dich. Immer für unser altes Joralemon und Plato, was? Mr. Bjorken meint – wir könntens ihm eigentlich gleich sagen, glauben Sie nicht, Mr. Bjorken?«

Der Trainer nickte mit königlicher Huld. Carl rutschte auf der Holzkiste herum, auf der er hockte, und spürte, wie sein erschrockener Magen den Boden verlor.

»Also, Mr. Bjorken meint, es steht so gut wie fest, daß du nächstes Jahr in die repräsentative Mannschaft kommst, und vielleicht kannst du auch schon in diesem Jahr ein paar Minuten beim Hamling Spiel mitmachen und dein ›P‹ kriegen.«

»Wirklich?«

»Ja, wenn du etwas für das alte Plato tust; genau so, wie du erwartest, daß Plato etwas für dich tut.« Ray war ganz aufrichtig. »Aber wenn du die Mannschaftsdisziplin mißachtest und der Omega Chi Schande machst, dann nicht. Ich kann natürlich nicht als reguläres Mitglied der Mannschaft sprechen, aber als Senior höre ich Dinge – –«

»Was meinst du mit ›Schande‹?«

»Wissen Sie nicht, daß die ganze Mannschaft außer sich ist, weil Sie sich so sehr in diese Frazer-Sache eingelassen haben?« fragte der Trainer. »Cowles und Griffin und ich haben die ganze Angelegenheit durchgesprochen. Die Art und Weise, wie Sie für Frazer eintreten –«

»Hören Sie mal«, unterbrach ihn Carl, »bei meiner Ansicht über Frazer bleib ich. Die Leute haben ihn nicht verstanden.«

»Ausgezeichnet, mein Junge«, sagte Howard Griffin beruhigend. »Wir wollen nicht versuchen, deine Ansichten über Frazer zu ändern. Wir sind deine Freunde. Das weißt du. Wir sind stolz darauf, daß du dich für ihn einsetzt. Die Sache ist bloß die: jetzt, wo er praktisch schon so gut wie an die Luft gesetzt ist, jetzt sag uns bloß, was es ihm oder dir oder irgend jemand anderm nützen soll, wenn du alle Leute wütend machst, indem du sie dir vorknöpfst, weil sie nicht einer Meinung mit dir sind. Sag deine Meinung; aber laß dich nicht in Balgereien ein! Erweck doch nicht bei allen den Eindruck, daß du ein Narr bist.«

»Wenn ich offen sein soll«, fügte Mr. Bjorken hinzu, »wenn Sie so viel böses Blut machen, ist die Wahrscheinlichkeit, daß Sie Frazer schaden, mindestens ebenso groß wie die, daß Sie ihm nützen. Hören Sie mal. Wenn der Lehrkörper Frazer schon an die Luft gesetzt hätte, würden Sie dann noch immer herumlaufen und dagegen hetzen?«

»Das hab ich mir noch nicht überlegt, aber wahrscheinlich würd ichs so machen.«

»Das hab ich ja gefürchtet. Aber haben Sie denn noch immer nicht begriffen, wie wenig es nützen kann, wenn ein einziger Sophomore den Versuch macht, dem Lehrkörper sein Verhalten vorzuschreiben?« Das sagte wieder der Trainer, aber Howard und Ray unterstützten ihn mit mandarinenhaftem Kopfnicken. »Wohlverstanden, ich habe nicht die Absicht, Ihnen persönlich nahezutreten, aber Sie müssen doch zugeben, daß Sie nicht gut erwarten können, alles zu dirigieren. Wozu soll es denn gut sein, herumzulaufen und ein großes Geschrei für Frazer zu machen? Ganz abgesehen von der Frage, ob zu erwarten ist, daß er rausgeschmissen wird oder nicht.«

»Also«, brummte Carl, sich nervös am Kinn reibend, »ich weiß nicht, ob es direkt zu was gut sein kann – höchstens, daß es vielleicht dieses verfluchte schlafmützige College ein bißchen aufweckt; aber es macht mich so gottsverdammt wütend – –«

»Ja, ja, das verstehen wir, alter Junge«, sagte der Trainer, »aber andererseits müssen Sie bedenken, wozu es gut ist, still zu halten und das Spiel zu spielen. Ich hab Sie von Kipling reden hören. Also, Sie sind wie ein junger Offizier – ein Subalterner, so heißt das, nicht? – in einer Geschichte von Kipling, der unter Befehl steht, und es gehört eben zu seinem Spiel, daß er sich ordentlich ranhält, den Mund nicht aufreißt und seine vorgesetzten Offiziere nicht kritisiert.«

»Ach, das wird schon stimmen, aber – –«

»Also, genau dasselbe gilt für Sie. Können Sie das nicht einsehen? Überlegen Sie mal. Was würden Sie von einem Leutnant denken, der alle Generäle kommandieren will? Das ist genau dasselbe … Außerdem, wenn Sie still halten, können Sie noch in diesem Jahr in die Mannschaft kommen, das kann ich Ihnen tatsächlich versprechen. Verstehn Sie das jetzt richtig. Das ist keine Bestechung; wir wollen, daß Sie imstande sind, zu spielen und wirklich etwas für das alte Plato zu tun – im Sport. Aber wenn Sie weiter rebellieren, können Sie unmöglich in die Mannschaft kommen.«

»Wir wollen doch nichts anderes von dir«, warf Ray Cowles ein, »als daß du dich nicht in aller Öffentlichkeit blamierst – was du vielleicht schon getan hast, fürchte ich. Bewunder den Frazer, so viel du willst, sprich mit deinen Freunden über ihn, und laß dir deine Ansichten über ihn nicht nehmen, nur glaub nicht, daß du rumlaufen und ein großes Geschrei über ihn machen mußt. Die Leute bekommen ja eine falsche Vorstellung von dir. Es ist mir fürchterlich, dir das zu sagen, aber sogar im Omega Chi haben ein paar von den Jungs über dich geredet und mich gefragt, ob du nicht wirklich richtig verdreht bist. Ich sag dann immer: ›Natürlich ist er nicht richtig verdreht, du armseliges Huhn‹, aber ich kann ja nicht überall sein und immer allen Leuten antworten, und du kannst nicht das ganze College verprügeln. So kann man in der Welt nichts erreichen. Du weißt ja gar nicht, was für einen schlechten Eindruck du machst, wenn du zu offen redest. Verstehst du, wie ichs meine?«

Als der Rat der Alten sich erhob, richtete Carl an Ray die schüchterne Frage: »Also ganz aufrichtig jetzt: haben viele gesagt, daß ich ein Narr bin?«

»Eine ganze Menge leider. Alle reden über dich … Jetzt hängt alles von dir ab. Du brauchst gar nichts Besonderes zu tun, du darfst dir bloß nicht einbilden, daß du alles verstehst, und mußt still bleiben. Bleib still, bis du die Schwierigkeiten, die der Lehrkörper hat, ein bißchen besser verstehst. Klar? Klingt das nicht ganz vernünftig?«


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