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Vierundzwanzigstes Kapitel

Carl stand vor dem zwölfstöckigen Mietshaus und musterte die Fensterreihen … Hier war sein Zuhause, Joralemon, Erinnerungen, Gerties Glaube und Verständnis … Sie hatte ihn ja immer verstanden … Aufgeregt ging er hinauf … Wie mochten die Cowles' jetzt sein?

Gertie empfing ihn in dem nach Mänteln riechenden Vorzimmer der Wohnung, sie nahm ihn bei beiden Händen und rief: »Ach Carl, es ist ja so schön, daß du da bist!« Hinter ihr zeigte sich die steifrückige Mrs. Cowles und begrüßte ihn mit hoher, müder Stimme: »Mr. Ericson! Ein Freund von Zuhause, und noch dazu so ein berühmter Freund!«

Gertie führte ihn in das Wohnzimmer. Er betrachtete sie. Vor ihm stand nicht ein Mädchen, sondern eine rundliche, massive Frau von dreißig Jahren mit kleinen Fältchen in den Mundwinkeln; aber ihre Augen strahlten ihn süß an, und ihr Haar über der breiten ruhigen Stirn war bezaubernd weich und braun. Sie trug ein fliederfarbenes Crêpe-de-Chinekleid, das ziemlich tief ausgeschnitten war.

Sie saßen in Stühlen und sprachen.

Ray kam herein, schlug Carl auf die Schulter und brüllte: »Na, da haben wir ja den fremden Herrn! Heiliger Strohsack, hast du dir auch einen Schnurrbart wachsen lassen? Nimm ihn dir lieber ab, bevor Gert anfängt, dich damit aufzuziehn. Zigarre?«

Zum ersten Male seit einem Jahr fühlte Carl sich zu Hause, zum ersten Male sprach er ohne ein Gefühl des Unbehagens.

»Hör mal, Gertie, erzähl mir was von meinen alten Herrschaften und von Bone Stillman.«

»Ja, deinen Vater habe ich noch kurz vor unserer Abreise gesehn, Carl. Du weißt doch, er arbeitet noch immer ein bißchen. Deine Mutter haben wir so weit gebracht, daß sie in den Nautilus Klub eingetreten ist – oft geht sie zwar nicht hin; aber einmal hat sie einen sehr netten Vortrag über ›Java und seine Erzeugnisse‹ gehalten, und sie hilft uns sehr mit dem Warteraum. Stillman habe ich sehr, sehr lange nicht gesehn. Ray, was hat – –«

Ray: »Ja, soviel ich weiß, ist Bone wieder losgezogen. Jemand hat mir erzählt, daß Bone oben in den Großen Wäldern sowas wie Forstheger oder Bergwerksinspektor ist. Jetzt muß er schon ziemlich nah an siebzig sein, übrigens.«

Carl: »So, Vater geht es also einigermaßen. Mit seinen Briefen ist nicht sehr viel anzufangen. Ach ja, sag doch, Gertie, was ist denn aus Ben Rusk geworden? Von dem hab ich jede Spur verloren.«

Gertie: »Ja, weißt du das denn nicht? Er war am Rush Medical College. Er soll dort sehr tüchtig gewesen sein. Er hat alle Prüfungen mit Glanz abgelegt, und jetzt praktiziert er zu Hause bei seinem Vater.«

Carl: »Rush?«

Gertie: »Ja, du weißt doch, in Chi – –«

Carl: »Ach ja, natürlich, in Chicago, natürlich, jetzt erinner ich mich. Ich hab es ja einmal gesehn. Aber! Dort war doch sein Vater auch?«

Ray: »Ja, freilich, der war auch dort.«

Dieser Punkt schien geklärt.

Carl: »So, so, Ben hat also wirklich Medizin studiert, obwohl – – Ach, sagt doch mal, was ist eigentlich mit Adelaide Benner?«

Gertie: »Die wirst du bald sehn! Sie kommt in ein paar Wochen nach New York und bleibt bei uns, bis sie sich eingerichtet hat. Denk bloß mal an, sie soll ein ganzes Jahr hier bleiben und Haushaltskunde studieren, und dann soll sie eine einfach blendende Position als Lehrerin an der Fargo Höheren Schule bekommen. Ich soll eigentlich gar nichts davon erzählen – du darfst mit keinem Wort verraten, daß – –«

Mrs. Cowles ( unterbrechend): »Adelaide ist ein gutes Mädchen … Ray! Wipp nicht mit dem Stuhl!«

Gertie: »Ja, nicht wahr, Mamma … Also, was ich eben sagen wollte: ganz unter uns, Carl, sie soll die Position an der Fargo schon ganz fix haben, die wartet schon auf sie, obwohl sie das nicht öffentlich bekannt geben kann, denn dann würden sich alle darauf stürzen und ihr die Stellung wegzuschnappen suchen. Ist das nicht fein?«

Carl: »Na freilich … Weißt du noch, wie wir das Maivergnügen bei Adelaide hatten und ich für meinen Korb nur Stoffpuppen und Maiblumen kriegen konnte? Herrjeh, damals hab ich mich benachteiligt gefühlt!«

Gertie: »Wir hatten doch manchmal wirklich nette Vergnügen, nicht wahr? … Ach, Carl, kannst du überhaupt vergessen, wie wir damals als ganz kleine Kinder davongelaufen sind?«

Carl: »Ich werd nie vergessen – –«

Mrs. Cowles: » Ich werde das nie vergessen! Du lieber Himmel! Ich glaubte, ich würde überhaupt nicht am Leben bleiben, so eine Angst hatte ich.«

Carl: »Aber jetzt haben Sie mir schon verziehen, nicht wahr?«

Mrs. Cowles: »Aber natürlich, mein lieber Junge!« ( Sie wischte sich mit einem Spitzentaschentuch einige Tränen ab. Carl ging quer durch das Zimmer und küßte ihre geäderte, blasse alte Hand. Dann zog er sich verlegen auf den Divan zurück und versuchte so auszusehn, als hätte er es nicht getan – –)

Carl: »Ach sag doch übrigens, was ist denn aus – – Na, ich komm jetzt nicht auf seinen Namen – – Na, du mußt es doch wissen, ich kenn seinen Namen so gut wie meinen eigenen, aber grade jetzt will er mir nicht einfallen – – Du weißt doch, er hat das Billardzimmer gehabt, der Sohn von dem – –«

( Von Mrs. Cowles kam ein leises mißbilligendes Geräusch. Ray grinste gemein und schüttelte heftig den Kopf.)

Gertie ( freundlich): »Ja … Er – ist aus Joralemon fortgezogen … Klemm meinst du.«

Carl ( hastig, nicht ganz begreifend, was Eddie Klemm angestellt haben könnte): »Aha, aha … Hat sich in Joralemon viel geändert?«

Mrs. Cowles: »Schreiben Sie Ihrem Vater und Ihrer Mutter, Carl? Das müssen Sie tun.«

Carl: »O ja, jetzt schreib ich ihnen ziemlich oft; eine Zeitlang hab ich es allerdings nicht getan.«

Mrs. Cowles: »Das freut mich, mein Junge, es ist doch schließlich ganz angenehm, daheim noch Familie zu haben, auf die man sich verlassen kann. Als ich nach Joralemon kam, fand ich es ja ein bißchen eng, aber jetzt bin ich älter geworden, und ich habe so lange dort gelebt, daß mir New York fast Angst macht, und ich muß sagen, manchmal bekomme ich geradezu Heimweh nach Joralemon. Ich würde gern Dr. Rusk – ich meine Bens Vater, den alten Doktor – an meinem Haus vorüberfahren sehn, obwohl ich natürlich, wie Sie ja wissen, sehr lange in Minneapolis gelebt habe, und ich glaube auch, ich müßte wohl die Gelegenheiten wahrnehmen, die einem hier geboten werden, und ich habe auch schon ganz ernsthaft daran gedacht, wieder mein Französisch aufzunehmen, obwohl es schon so lange her ist, daß ich es studiert habe – – Sie sollten es studieren, Carl, Sie werden finden, daß es den Geist veredelt; und Sie müssen auch ganz bestimmt oft Ihrer Mutter schreiben; es gibt nichts, worauf man so bauen kann wie auf die Liebe einer Mutter, mein Junge.«

Ray: »Hör mal, Du, Carl, du mußt mir alles von der ganzen Fliegerei erzählen. Wie ist das denn, wenn man fliegt? Ich hätt ja eine Heidenangst; es ist doch komisch, ich kann nicht von einem Wolkenkratzer runterschauen, ohne das Gefühl zu haben, daß ich runterspringen will. Herrgott! Ich – –«

Gertie: »Wart doch, bis Carl uns von selber erzählen will, Ray! Zuerst möchte Carl doch alles von zu Hause hören … Alle die vielen Jahre! … Du hast gefragt, was sich geändert hat. So viel war das nicht. Du weißt ja, es geht dort alles ein bißchen langsam. Ach, natürlich, das hätt ich beinah vergessen; du bist ja noch gar nicht in Joralemon gewesen, seitdem die alte Weide von Tubb bebaut worden ist.«

Carl: »Doch nicht die alte Weide am See? Aber, aber! Was du nicht sagst! Ja, siehst du! Und ich hab dort immer Taschenratten gejagt.«

Gertie: »Jaja. Ach, du würdest es gar nicht wiedererkennen, so sehr hat sichs dort geändert. Mindestens zehn, zwölf Häuser müssen jetzt dort stehen. Es sind sogar zementierte Bürgersteige da und alles, und Mr. Upham hat dort ein Haus, ein wirklich nettes Häuschen mit verglaster Veranda und allem, was dazu gehört. Das weißt du natürlich, daß inzwischen kanalisiert worden ist, und es gibt eine Menge moderne Badezimmer, und fast jeder Mensch hat einen Ford. Wir hätten uns auch einen gekauft, aber wo wir doch vor hatten, so bald fortzuziehn – – Ach ja, und das Schulhaus hat eine Feuerleiter bekommen.«

Carl: »So, so! … Ach, übrigens, Ray, sag doch mal, was macht Howard Griffin?«

Ray: »Ja, Howard hat an der Chicagoer Rechtsfakultät promoviert und sich dann in Denver niedergelassen. Es geht ihm recht gut, soviel ich weiß … Noch ne Zigarre, alter Junge? Übrigens, weil wir von Plato reden, du hast natürlich gehört, daß der alte S. Alcott Woodski als Präsident geschaßt worden ist, wegen Ketzerei, irgend was mit Baptismus; sein Nachfolger ist der Dekan geworden. Der arme alte Kerl, so gemein wie der Dekan war er sicher nicht … Übrigens weißt du, Carl, ich war ja immer der Ansicht, daß man dich dort ziemlich übel behandelt hat – –«

Gertie ( unterbrechend): »Einfach fürchterlich – – Ray, leg doch die Füße nicht auf den Divan. Es war einfach schrecklich, Carl, ich hab immer gesagt, wenn Plato seinen größten Sohn nicht richtig zu ehren – –«

Mrs. Cowles ( verschlafen): »Schauderhaft … Und leg die Füße nicht auf den Stuhl dort, Ray.«

Ray: »Ach laßt meine Füße in Frieden! … Alle haben gewußt, daß du ganz recht gehabt hast, wie du dich hinter Professor Frazer gestellt hast. Du weißt doch noch, wie ich allen im Omega Chi Bescheid gesagt habe, wie sie gemeint haben, es ist verdreht von dir, daß du dich für ihn einsetzt. Und wie du in der Kapelle aufgestanden bist – – Herrgott, das war wirklich mutig.«

Gertie: »Wirklich, du hast recht gehabt, und jetzt, wo du so berühmt geworden bist – –«

Carl: »Ach, ich bin nicht so – –«

Mrs. Cowles: »Ich war einfach starr … Kinder, seid nicht böse, aber ich muß euch jetzt allein lassen. Mr. Ericson, es ist wirklich eine Schande, daß ich so früh schläfrig werde. Als wir noch in Minneapolis lebten, bevor Mr. Cowles das Zeitliche segnete, er war ein richtiger Nachtvogel, da blieben wir immer – immer –« ( ein Gähnen) »– weiß Gott wie lange auf. Aber heute abend – –«

Gertie: »Ach, mußt du schon gehen? Ich wollte Carl grade Rarebits machen. Carl kennt meine Rarebits noch gar nicht.«

Mrs. Cowles: »Mach ihm doch nur welche, mein liebes Kind, und ihr jungen Leute bleibt eben auf und amüsiert euch so lange, wie ihr wollt. Gute Nacht allerseits. Ray, bitte, daß du mir ganz bestimmt nachsiehst, ob das Fenster ganz fest zu ist, bevor du schlafen gehst. Ich werde so nervös – – Mr. Ericson, ich bin sehr stolz bei dem Gedanken, daß einer von unseren Joralemoner Jungen es so weit gebracht hat. Manchmal weiß ich allerdings nicht recht, ob der liebe Gott wirklich will, daß die Menschen fliegen. Die vielen Unfälle, und Sie wissen ja selbst am besten, wie oft Flieger tödlich verunglücken usw. Erst vor ein paar Tagen habe ich gelesen, ein so großer Prozentsatz – – Aber wir waren sehr stolz darauf, daß Sie der erste unter allen waren. Ich erzählte noch in der Eisenbahn einer Dame, daß wir einen Freund haben, der ein berühmter Flieger ist, und es hat sie ganz kolossal interessiert, daß wir Sie kennen. Gute Nacht.«

Sie aßen die Welsh Rarebits, bei deren Bereitung Carl mithalf, und tranken Bier dazu. Gertie rief ihn in die saubere Küche und erklärte, während sie ihm eine Schürze umband, mit schönem Gleichmut:

»Wir können uns kein Mädel leisten (eigentlich sollte ich wohl ›Dienstmädchen‹ sagen), weil Mamma so viel von unserm Geld in Rays Geschäft gesteckt hat; du darfst dir also nichts Großartiges erwarten. Aber du hilfst doch gern, nicht wahr? Du mußt den Käse schneiden. Du mußt ihn in ganz kleinwinzige Würfel schneiden.«

Carl half gern. Er fühlte sich dadurch nur umso mehr zu Hause. Es war schön, mit Menschen zusammen zu sein, die ihn sofort verstanden, wenn er sagte: »Ich glaub, es gibt wirklich schlechtere Lehrer wie Professor Larsen – –«

Als sie, die Rarebits vor sich, am Tisch saßen, rief Gertie aus:

»Ach, Ray, jetzt mußt du Carl deine neue Sache zeigen; es ist zum Schreien komisch, Carl.«

Ray stand auf, nahm mit zwei raschen Griffen Kragen und Krawatte ab, knöpfte den Kragen hinten zu, zog seine Weste vergnügt mit dem Rücken nach vorn an, legte sein Gesicht in Falten salbungsvoller Frömmigkeit und wandte sich um, in einer Minute zu einer ganz anständigen Kopie eines Bühnengeistlichen geworden. Mit gefalteten Händen näselte er: »Nun, in Christo geliebte Schwestern, hören wir Markus 34, Vers 16 bis 19«, während Carl vor Wonne auf den Tisch schlug, weil er sah, wie der alte Ray, der breitschultrige Junge, der Damenheld, der tüchtige Geschäftsmann, die Augen senkte und in frömmelnden Tönen winselte.

»Jetzt muß du was machen!« riefen Ray und Gertie; und Carl sang zögernd, was er von Forrest Havilands albernem Lied noch im Gedächtnis hatte:

»Ich stieg auf in einem Ballon ganz groß und fein,
»Die Menschen auf der Erde, die sahen alle aus wie'n Schwein,
»Wie 'ne Maus, wie'n Heuschreck, wie Fliegen und wie Flöh'.«

Dann beschloß Gertie, ohne daß man sie darum gebeten hätte, das »Einsammeln der Goldenen Garben« zu tanzen, was sie in der Schule Mme. Vashkowskas, vormals (sehr vormals) beim russischen Ballett, gelernt hatte.

Sie erklärte ihre Arbeit; skizzierte die Theorie des sinnlichen und des ästhetischen Tanzes; erzählte von den Herrlichkeiten Nidschinskys; sprach von ihrem Ehrgeiz, den Kindern das Neue Tanzen beizubringen. Carl lauschte voll Ehrfurcht, und voll Ehrfurcht sah er zu, während Gertie die Goldenen Garben einsammelte, rein hypothetische Garben, auf einem Feld, das den größten Teil des Wohnzimmers einnahm.

Nach den Darbietungen zog Ray sich diskret zurück. Er ging nicht ausdrücklich und offiziell zu Bett, er war eben mit einemmal nicht mehr da. Gertie und Carl waren allein, und endlich sprach er von Forrest Haviland und Tony Bean, vom Fliegen und vom Abstürzen, von begeisterten Mengen und von den nebelerfüllten Luftwegen.

Sie erzählte ihm wiederum von ihrem Streben, etwas Modernes und Gebildetes zu tun. Sie hatte zwischen dem Tanzen und dem Schaffen modernen exotischen Schmucks geschwankt; sie war sehr froh, daß sie das erste gewählt hatte, es brachte den Kontakt mit dem Volk … Sie hatte unlängst mit echten Bohemiens, wahren Feuergeistern, dem geraden Gegenteil der langweiligen Leute Joralemons, zu Abend gegessen. Es war in einem wunderbaren Lokal in der Zehnten Straße im Westen gewesen, sehr ausländisch, alle hatten Wein getrunken und Spaghetti und kleine Bücklinge gegessen, und die Frauen hatten ganz furchtlos Zigaretten geraucht, einige wenigstens. Sie war mit einem Mädchen aus Mme. Vashkowskas Schule hingegangen, einem wunderbaren Geschöpf aus London in Nebraska, das mit einem ganz bezaubernden Mädchen im Three Arts Klub wohnte. Sie hatten einen Künstler mit schwarzen Haaren und Kohlenaugen kennen gelernt, der einen Yankeenamen hatte, aber einfach göttlich italienische Lieder sang, bei jeder Gelegenheit, so sehr moussierte er von Lebensfreude.

Carl erschrak. »Herr Jesus!« rief er, »hoffentlich hast du nicht viel mit dem langhaarigen Gesindel zu tun.«

»O nein! Ich nehm die Leute ja gar nicht ernst, es hat mir nur Spaß gemacht, einmal dabei zu sein.«

»Manche darunter sind natürlich sehr klug.«

»O ja, sehr!«

»Aber ich glaube, die Leute halten sich nie lange.«

»O nein, sicher halten sie sich nicht lange. Ach, Carl, ich bin viel zu alt und viel zu dick, um zu den Bohemiens zu gehören – –«

»Unsinn! Du siehst so – ach, Donnerwetter! Ich weiß nicht recht, wie ichs ausdrücken soll – na ja, so wirklich! Es ist einfach herrlich, wieder mit euch allen zusammen zu sein. Ich will nicht sagen, daß du nicht mehr als ›ein so nettes, braves Mädel‹ bist. Ich meine eben, du bist sowohl verläßlich wie künstlerisch.«

»Ach, du kannst ganz beruhigt sein, ich nehm sie schon nicht zu ernst. Außerdem sind sicher viele von den Leuten, die in Bohémerestaurants gehn, gar nicht Künstler. Sie gehn eben hin, um die Künstler zu sehn; sie sind fürchterlich gewöhnlich – – Findest du gewöhnliche Menschen nicht auch fürchterlich? Natürlich will ich etwas von dem Leben dort sehn, aber ich meine – – Findest du nicht, daß die Künstler und alle, die dazu gehören, schrecklich salopp in ihrer Moral sind?«

»Also – –«

»Ja«, seufzte sie nachdenklich. »Nein, ich bleibe bei meiner Kirche und bei allem – wirklich wahr. Ach, Carl, du mußt in unsere Kirche kommen – St. Orgul. Sie ist zu reizend. Die Kirche ist nur zwei Straßen von hier, und weißt du, mit der Untergrundbahn ist es hierher gar nicht weit. Und die Gottesdienste sind so schön. Ich bin der Ansicht, Gottesdienste sollen schön sein. Findest du nicht auch? Weißt du, dort ist es nicht so, als wenn wir ein Haufen armer Leute wären, die sich in einer Mission die Seelen retten lassen … Was für Kirche besuchst du denn? Du wirst doch wirklich manchmal in unsere kommen, nicht wahr?«

»Mit dem größten Vergnügen. Ach sag doch, Gertie, bevor ichs vergesse, was macht Semina jetzt? Ist sie verheiratet?«

Damit war Gertie ein willkommener Anlaß zu der Mitteilung gegeben, sie selbst sei nicht verlobt.

An dieses Problem hatte Carl gar nicht gedacht; als er aber wieder in seinem Zimmer saß, war er froh zu wissen, daß Gertie frei sei.

 

Carl lunchte mit Ray Cowles im Omega Chi Delta Klub. Zwei Abende später führten Ray und Gertie Carl und Gerties Freundin, das herrliche Geschöpf aus London in Nebraska, in die Oper. Carl wußte nicht viel von der Oper. Mit andern Worten: da er ein normaler junger Amerikaner mit Collegebildung war, wußte er überhaupt nichts davon; doch er lauschte dankbar Gerties klugen Erklärungen, warum Mme. Vashkowska Wagner höher schätzte als Verdi.

Mittlerweile hatte er eine ganz formelle Einladung zu einer Gesellschaft bekommen, die am nächsten Freitagabend bei Gertie stattfinden sollte.

Am Donnerstagabend lehrte Gertie ihn einen neuen Tanz, den Turkey Trot, und zeigte ihm auch eine neue Tour im Boston, die Mme. Vashkowska erfunden hatte.

Es war ein wunderschöner Abend. Daheim! Ray kam auch; sie tranken zu dritt Kaffee und aßen belegte Brötchen dazu. Auf Gerties Vorschlag drehte Ray wieder seinen Kragen um und zeigte seine »Sache mit dem Geistlichen«. Wenn die Vorführung diesmal auch nicht ganz so lustig wirkte wie zuvor, war Carl amüsiert; und er sang auch sein Ballonliedchen, damit Ray es lernen und im Bureau vorführen könnte.

Am schönsten aber war es, als Gertie ihm beim Abschied sagte: »Hoffentlich kannst du morgen recht früh zu der Gesellschaft kommen, Carl; du weißt doch, wir wären dir sehr dankbar, wenn du uns ein bißchen helfen könntest.«


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