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Sechstes Kapitel

Zwei Stunden nach seiner Ankunft in Joralemon, wo er bis zu seiner Abreise nach dem Norden eine Woche bleiben wollte, sah er Gertie. Sie saßen in Schaukelstühlen auf dem Rasen, waren verlegen, schaukelten ausgiebig und schwatzten darauf los. Mrs. Cowles war überrascht und nicht gerade sehr erfreut, als sie ihn erblickte, aber Gertie murmelte, daß sie sehr vereinsamt gewesen wäre, und Carl hatte die Empfindung, er müsse Mrs. Cowles' Geringschätzung gegenüber edle Geduld an den Tag legen. Er ging so weit, »O Gertie!« zu seufzen, erschrak dabei aber, als binde er sich damit fürs Leben. Die vielen Kämme, die in Gerties Frisur staken, störten ihn. Er bemerkte, daß sein Schaukelstuhl in den Scharnieren knarrte, und erdachte eine Methode, ihn mit Eisenbändern zu versteifen. Sie sprudelte hervor, er werde der Große Mann in seinem Jahrgang werden. Er sagte: »Ach Quatsch!« und hatte das Gefühl, sein Kragen sei ihm zu eng … Er ging nach Hause. Sein Vater bemerkte, Carl komme zu spät zum Abendessen, er sei in Plato verschwenderisch gewesen, und »mit der ganzen Streckenläuferei« werde er schwerlich Geld verdienen. Doch seine Mutter strich ihm über das Haar und nannte ihn ihren großen Jungen … Er wanderte zu Bone Stillmans Hütte hinaus – er brannte vor Ungeduld, dem alten Pionier die Hand zu drücken – und wurde, zum ersten Mal seit seiner Heimkunft, beredt! Er erzählte von Professor Frazer und den Wonnen der Dichtkunst. Es war eine sehr anstrengende Woche für Carl in Joralemon. Adelaide Benner gab ein Abendessen für ihn. Sie saßen lachend und plaudernd unter den Bäumen, während auf den schwach erhellten Straßen Fahrräder vorbeiflitzten, und Leute, die er seit jeher kannte, flüsterten einander zu, dieser Ehrengast sei der als Held heimgekehrte Carl Ericson.

Zweimal fuhr Carl mit Gertie zum Tamarack See. Sie saßen am Ufer, und er schwatzte, während er flache Steine über das Wasser hüpfen ließ und mit seiner alten Mütze nach den lästigen Bremsen schlug, von den Großtaten des Türken, dem Automobil des Bankiers und den nebelhaften Hintergründen von Professor Frazers Vorlesungen. Gertie schien interessiert zu sein und lächelte in regelmäßigen Abständen; sobald sich Carl jedoch bei einer von Frazers abstrakten Theorien aufhielt, unterbrach sie ihn mit höchst konkretem Klatsch aus Joralemon … Er hatte den Argwohn, sie habe nicht ganz mit der Zeit Schritt gehalten. Sie machte zwar eine Anspielung auf New York, aber da er eben dieselbe Anspielung schon etliche Male im Laufe der beiden letzten Jahre vernommen hatte, gehörte sie für ihn zu Joralemon … Er hielt sie nicht einmal bei der Hand, wenn er auch darüber nachdachte, ob er es nicht tun könnte: ihre Hand lag so achtlos neben dem Rock auf dem Sand … In der Abenddämmerung des frühen Juni radelten sie zurück. Carl war guter Dinge, als ihre Räder mit langgedehntem, energischem Knirschen über die Straßen dahinfuhren. Die leisen Rhythmen der Frösche dämpften das Klirren ihrer Pedale, und der Himmel war riesengroß und hell und sehnsuchtsvoll.

Gertie jedoch schien nicht so guter Dinge zu sein.

Am letzten Abend seines Aufenthaltes in Joralemon veranstaltete Gertie ihm zu Ehren einen Leiterwagenausflug. Während die schmale Sichel des jungen Mondes still über den Nachthimmel wanderte, sangen sie alle schönen alten Lieder. Carl drückte Gertie die Hand, und sie erwiderte den Druck so rasch, daß er verlegen wurde. Unter dem Vorwand, bei dem Auspacken des Korbes mit dem Ingwerbier, den Hühnerbroten und den drei Kuchenarten helfen zu müssen, zog er seine Hand so schnell wie möglich zurück.

Dieselbe Gesellschaft gab Carl das Geleit auf den Bahnhof der M. & D. Als der Zug sich in Bewegung setzte, sah Carl, wie Gertie sich trostlos umwandte; ihre Schultern fielen vornüber, ihre Bluse zog sich am Rücken hoch. Er beklagte es, daß er in dieser Woche nicht zärtlicher zu ihr gewesen war. Er malte sich aus, wie er, eingehüllt vom Duft des Nachmittags, hingerissen vom Mysterium des Geschlechts und von dem ehrfürchtigen Verlangen, ihr in ihrer Einsamkeit Schutz und Beistand zu gewähren, Gertie am Ufer des Tamarack-Sees küßte. Er wollte zurück – zurück für einen Tag noch, für einen Ausflug mit Gertie. Aber er nahm eine technische Zeitschrift in die Hand, sah einen Artikel über Segelflugzeuge, las im ersten Abschnitt eine Prophezeiung über das Flugwesen, ließ sich in seinem Sitz zurücksinken, steckte den Kopf in die Zeitschrift – und das Nachmittagsidyll mit Gertie war verschwunden.

Dieser Aufsatz über Segelflugzeuge fiel ihm im Juni des Jahres 1905 in die Hände. Die Eroberung der Luft stand noch so sehr in den Anfängen, daß ihm alles, was er da las, neu und wunderbar erschien; denn es war drei Jahre, bevor Wilbur Wright die Welt mit seinen Flügen in Le Mans in Erstaunen versetzte; vier Jahre, bevor Blériot den Kanal überflog – allerdings war es auch schon eineinhalb Jahre her, daß Wright zum erstenmal heimlich in einem motorgetriebenen Aeroplan in Kittyhawk aufgestiegen war, und vierzehn Jahre, daß Lilienthal seine aufsehenerregende Serie von Segelflügen begonnen hatte, denen die Experimente Pilchers und Chanutes, Langleys und Montgommerys folgten.

In dem Artikel wurde erklärt, wenn man nur Benzin- oder Alkoholmotoren herstellen könne, die leicht genug seien, werde in zehn Jahren alle Welt ins Bureau fliegen; jetzt sei es an der Zeit, daß junge Leute als Pioniere des neuen Zeitalters den Segelflug übten. Carl kam zu dem Schluß, das Fliegen wäre sogar noch schöner als das Automobilfahren. Er machte Entwürfe für drei epochemachende neue Aeroplane, die er mit einem zerbissenen Bleistiftstummel an den Rand der Zeitschrift zeichnete.

Gertie war meilenweit weg, verborgen hinter unzähligen Dreideckern und Helikoptern und raffinierten Eindeckern, welche der erfinderische Zauberer C. Ericson schuf und erbarmungslos wieder vernichtete … Im Sitz gegenüber begann ein kleiner Junge zu heulen; Carl nahm ihn seiner ermüdeten Mutter ab und überredete ihn dazu, Fuchs und Gans zu spielen.

Zu dem Türken und den Drahtlegern stieß er in einem Prärieflecken – einem Haufen zerstreut auseinanderliegender, ungestrichener Holzhütten mit Kaufläden, deren, von Blechgiebeln gekrönte, falsche Fronten eine Höhe von zwei Stockwerken vortäuschen sollten. In den Höfen waren Schweineställe, und die einzige Kirche der Ortschaft hatte einen vierschrötigen weißen Turm, dessen Höhe durchaus nicht imponieren konnte. Vor einer nicht gerade freundlich aussehenden Kneipe standen Bauernfuhrwerke. Carl war sehr schlecht gelaunt, doch der Türke machte ihn mit einem Hörer der pharmazeutischen Fakultät der Universität in Minnesota bekannt, der seine Ferien bei den Arbeitern verbrachte, und sie wanderten zu dritt über duftende Wiesen. So begann bei Carl ein Sommer des rasenden Tempos.

Die Arbeiter legten den ganzen Tag hindurch Telephondraht von Mast zu Mast, wobei sie die Späße weit herumgekommener Männer trieben, und an den Sonntagen faulenzten sie auf Heuschobern und tauschten Erinnerungen über Schicksale aus, die sie zwischen Winnipeg und El Paso erlebt hatten. Carl faßte den Entschluß, nach seinen Prüfungen mit Gertie zu diesem Leben der Natur zurückzukehren. »Mit der Zeit« würde er eine Ranch kaufen. Oder er würde mit dem Türken Forschungsreisen in Alaska oder im Orient unternehmen. »Jus?« pflegte er sich in seinen Monologen zu fragen, »Jus? Ich in einem muffigen Bureau? Kommt gar nicht in Frage!«

Vier Wochen lang blieb die Drahtlegerkolonne in einer ganz jungen, rasch aufblühenden Stadt von neuntausend Einwohnern, wo sie ein komplettes Telephonnetz einrichteten. Im Südosten der Ansiedlung lagen sanft ansteigende Anhöhen. Als Carl am ersten Abend nach ihrer Ankunft mit dem Türken und dem Mann von der pharmazeutischen Fakultät auf einem Hügel stand, erzählte er ihnen von den Prophezeihungen der Zeitschrift über die Aviatik und fügte hinzu, diese Hügel wären Lilienthal für seine Segelflüge wahrscheinlich geeignet erschienen.

»Hört mal! Großer Strohsack und Heiliger Bimbam! Bauen wir uns doch einen Segelflieger!« rief er begeistert aus.

»Ausgezeichnet!« antwortete der Pharmazeutiker. »Wie würden Sie das anstellen?«

»Na ja – äh – ich denke, man könnte aus Weiden ein Gestell machen – das heißt, man müßte; die Weiden an den Bächen sind die einzigen Bäume hier in der Gegend. Und das Gestell würde man mit gefirnisstem Leinen bespannen – so hats wenigstens Lilienthal gemacht. Aber der Teufel soll mich holen, wenn ich weiß, wie man die Tragflächen biegen – krümmen – muß, so hat ers gehabt. So muß es sein. Man wird wohl gekrümmte Spreizen nehmen müssen. So wie Viertel-Faßreifen … Aber am besten wärs wohl, wir versuchten einen Chanute-Segelflieger zu machen – einfach zwei glatte übereinander angeordnete Flächen statt einer einzigen, die ganz in sich verdreht ist wie ein Fledermausflügel, so wie das Segelflugzeug Lilienthals war … Oder wir können ein paar Experimente mit Papiermodellen machen – Aber nein! Donnerwetter! Bauen wir uns nen Segelflieger.«

Und das taten sie auch.

Mit brennenden Köpfen studierten sie die nüchtern aussehenden Auftriebs- und Luftwiderstandstabellen, die Carl telegraphisch in Chicago bestellt hatte. Nur mit ihren Unterhemden bekleidet, arbeiteten sie alle heißen Prärieabende hindurch in dem nach Oel riechenden, fettigen Generatorenraum des Kraftwerks, vor den Dynamos, die ununterbrochen bösartig grüne Funken sprühten und zur Begleitung des modernen Zauberwerks die mystische Silbe »Om-m-m-m« summten.

Sie gingen auf die Suche nach zwei Zentimeter starken Weidenschößlingen, vertauschten sie aber schließlich mit lufttrockener Esche vom Holzhof. Sie überzogen Leinen mit einer dünnen Firnisschicht, sie unterbrachen sich, um wütende Debatten über Einfallwinkel zu führen und zu brüllen: »Also dann sieh doch mal her, du Schafskopf; ich werd dirs aufzeichnen.«

Am letzten Sonntag, den sie in der Stadt verbrachten, stellten sie ihren Segelflieger zusammen; er hatte eine einzige Tragfläche wie ein Monoplan, eine Spannweite von sechsdreiviertel Metern, einen Schwanz und unterhalb der Tragfläche eine Doppelstange, in die sich der Flieger einhängte; für die Hände waren zwei Halteschnüre an der Vorderkante der Tragfläche angebracht; ausbalanciert wurde die Maschine durch Körperbewegungen.

Am Montag luden sie das Segelflugzeug in der Morgendämmerung auf einen Wagen und galoppierten damit zu einem zwölf Meter hohen Hügel hinaus. Sie starrten den sanften Abfall hinab, dessen Steilheit und Länge mit jeder Sekunde wuchs, und dachten an Lilienthals Tod.

»N-n-n-na«, sagte der Türke zähneklappernd, »wer probierts als erster?«

Alle drei taten so, als kontrollierten sie noch einmal die Zurringe; einer wartete auf den andern, bis Carl knurrte: »Ach, na schön! Wenn ich muß, werd ichs tun.«

»'s bricht mir natürlich das Herz, dir die Ehre zu überlassen«, sagte der Türke, »aber ich bin kein Egoist. Ich überlaß es dir. Brrr! Das ist so schlimm, wie wenn man im Frühling zum ersten Male ins Wasser springt.«

Carl lächelte über diesen Vergleich, während das Flugzeug, an dem er hing, hochgehoben wurde. Der Gegenwind, der mit einer Stundengeschwindigkeit von vierundzwanzig Kilometern daherkam, strich unter der Tragfläche hinweg, und augenblicklich wurde die Maschine hochgetrieben wie ein Kork im Wasser. Carl lächelte nicht mehr. Was er da führen wollte, war ein gefährliches Ding mit eigenem Leben. Als er die Arme über die Stange legte, stieß und rüttelte es ihn. Er wollte aufhören und sich das Ganze überlegen. »Los!« schnauzte er sich an und begann hügelabwärts gegen den Wind zu laufen.

Wieder hob der Wind die Maschine. Entsetzt konstatierte Carl, daß seine Füße den Boden nicht mehr berührten. Er flog tatsächlich! Er trat wild in der Luft umher. Sein ganzer Körper strengte sich an, in der Luft ins Gleichgewicht zu kommen, nicht die Herrschaft über sich zu verlieren, das Fallen zu verhüten, vor dem er jetzt das uralte instinktive Entsetzen empfand.

Das Flugzeug begann nach einer Seite zu kippen, anscheinend unaufhaltsam, wie ein Blatt Papier, das sich im Wind umdreht. Eine Zehntelsekunde lang war Carl vor Angst übel. Jede Zelle seines Leibes schauderte vor der herannahenden Katastrophe. Er schwang seine Beine nach der Seite hin, die sich aufwärtsbewegte. Unter diesem Ausgleichsmanöver legte die Maschine sich wieder richtig. Jetzt segelte sie glatt dahin, acht Meter über dem abfallenden Boden, und Carl hing ganz behaglich in der Doppelstange unter der Tragfläche, wie ein Artist, der unter jedem Arm ein Trapez hat. Er wagte hinunterzublicken. Der Rasen, etwas Grünes, im Sonnenlicht Flirrendes, schoß unter ihm dahin. Er jubelte. Fliegen!

Der Apparat kippte nach vorn. Carl lehnte sich mit weit ausgebreiteten Armen zurück. Eine Bö packte die Tragfläche an der Kopfseite. Da das Flugzeug hinten Übergewicht hatte, stellte es sich auf und schwebte dann bis zu einer Höhe von elf bis zwölf Metern empor. Langsam, wie es schien, unaufhaltsam, richtete die ganze Maschine sich senkrecht auf.

Carl baumelte an einem armseligen Stück Holz und Leinwand, das für den Bruchteil einer Sekunde einfach am Wind klebte, wie ein Blatt Papier im Zug an der Tür. Der Apparat kenterte, glitt seitlich durch die Luft und sackte ab, wieder horizontal gestellt, jetzt aber verkehrt – Carl lag oben.

Elf, zwölf Meter abwärts.

»Jetzt passierts«, war sein einziger Gedanke während des Sturzes. Die linke Kante der Tragfläche schlug krachend, mit einem entsetzlichen Knirschen auf den Boden. Aber das dämpfte den Sturz. Carl schoß vorwärts und fiel auf die Schulter.

Er stand auf, rieb sich die Schulter, und während er sich darüber wunderte, daß er am Leben geblieben war, kamen die beiden andern zu ihm heruntergelaufen.

»Herrjesus«, sagte er. »Ich bin froh, daß der Kasten den Sturz abgedämpft hat. Schade, daß wir nicht Zeit haben, einen neuen Apparat mit Tragflächenverwindung zu bauen. Hört mal, wir werden zu spät zur Arbeit kommen. Jetzt aber fix. Los gehts!«

Die andern standen da und kriegten den Mund nicht zu.


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