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Weder der Triumph beim Eintritt in ein College noch der Triumph eines Maklers, dem das Muskingum-College in Anerkennung seiner Frömmigkeit und Freigebigkeit den Ehrendoktor der Rechte verleiht, ist ein so befriedigender akademischer Sieg wie das Vordringen in den Sophomoren-Jahrgang der Höheren Schule. Die Sophomoren werden als Männer und Frauen anerkannt, und sie sind auf Grund falscher Informationen und eines Glaubens, den sie auf ihre Eltern stützen, noch immer sicher, daß es sich verlohne, erwachsen zu werden und in den Genuß solcher Privilegien zu treten, wie das Rasieren, das Kinderkriegen, das Besorgen der Heizung und das Rülpsen nach dem Essen sind. Das ist die Zeit, in der man erwartet, daß die Jungen, wenn auch vielleicht heimlich, rauchen, und die Mädchen Freunde haben und Seidenstrümpfe tragen.
Obwohl der größte Teil seiner Energie und seiner Gedanken im American House aufging, fand Myron nun, da er fünfzehn Jahre alt und Sophomore war, die Höhere Schule unterhaltsam. Der äußere Rahmen war ziemlich übel. Die Kleinstädte Neu-Englands hatten noch nicht die Entdeckung gemacht, daß die Jugend nur in einem Milieu erzogen werden kann, für das Glas-Architektur, hunderttausend Dollar kostende Schwimmbassins, Turn- und Sporthallen mit professionellen Sportlehrern und Modellküchen mit Marmorwänden etwas Unerläßliches sind. Die Höhere Schule Black Thread Centers war eine schiefergraue Holzbude mit kleinen schmutzigen Fenstern und so gut wie gar keiner Ventilationsmöglichkeit. Die Fußböden waren rings um die Knorren in den Dielen abgetreten, und der einzige Schmuck bestand in Bildnissen der braven grauen Dichter. Die Pulte der Schüler waren mit Bandeisen auf dem Boden festgemacht, und die Lehrer hielten sich noch Äpfel und Straflineale in ihren Schubladen, an Stelle von graphischen Darstellungen über die tägliche Variation der individuellen Aufnahmefähigkeit.
Nach dem ihm täglich aufgezwungenen Umgang mit alten, abgeklapperten Reisenden – dreißigjährigen und noch älteren – fand Myron Gefallen an dem Zusammensein mit der grundlos lachenden Jugend. Von dem Lehrstoff dieses Jahres hielt er, abgesehen von der Geometrie und dem Deutschunterricht, nicht sehr viel. Caesar war langweilig – Latein war überhaupt langweilig. Was hatte der Ablativus absolutus oder das Gerundium oder die Tatsache, daß ad, ante, apud, circum, contra, inter, per und trans den Akkusativ regieren, was hatte das alles mit dem täglichen Leben in Black Thread oder New York oder Kalifornien zu tun? Er machte sich auch nicht viel daraus, ob Hamlet wahnsinnig war oder um welche Zeit Karl Martell gelebt hatte – was hatte Myron Weagle mit Karl Martell, und was Karl mit Myron zu tun? Einige Freude machte es ihm, in der Musikstunde leise mitzusingen und in der Zeichenstunde Töpfe und Petunien zu zeichnen. Und das Deutsche, das war wirklich etwas! Das konnte er dazu benutzen, sich mit den Bewohnern der kleinen Deutschenkolonie oben am Fluß bei Dutch Bend zu unterhalten und sich einen Riesenspaß daraus zu machen, daß er so tat, als ob er mit seinen Freunden deutsch spräche. »Be gehts it Ihr, meiner Frund?« schrien sie einander zu, und in ernsteren Stunden, in denen sie von ihren Plänen sprachen, erzählten sie einander, auf der Flußklippe hockend, daß sie eines Tages den Rhein hinauffahren und sich die Burgen und die Fräuleins ansehen würden, und dann sangen sie leise:
»Ik weiß nick wot soll it bedeiten
Dass ik so traurick bin.«
Am nettesten aber war die Geometrie. Myron liebte ihre Sauberkeit und Genauigkeit, die schlanken Dreiecke und hübschen Kreissegmente, die beweisbaren Tatsachen über Winkelgrößen – keine verschwommenen Unklarheiten wie Caesars Ansichten über die Gallier. Auf jeden Fall mußte er den Jahrgang absolvieren, weil er für das nächste Jahr die Erlaubnis hatte, den neuen Buchhaltungskursus mitzumachen, und das konnte nur nützlich sein, ob er nun Rechtsanwalt, Hotelier, Eisenbahner oder Kaufmann würde.
Aber abgesehen von alledem war die Ursache für seine freudig erregte Stimmung zu Beginn des Sophomoren-Jahrgangs, daß er sich in seine hübsche Klassenkameradin Miss Julia Lambkin verliebt hatte.
Julia Lambkin gehörte eigentlich zur Aristokratie Black Thread Centers. Ihr Vater, Trumbull Lambkin, war nicht nur der führende Drogist des Ortes, was ihn gesellschaftlich nahezu einem Arzt gleichstellte, sondern auch Direktor in der Housatonic-Sparkasse, Mitglied des Bibliothekausschusses und Ältester bei der anglikanischen Kirche; außerdem lebten die Lambkins bereits seit drei langen, überlieferungsreichen Generationen in Black Thread. Julia war ein großes, schlankes Mädchen mit einem hellen Lachen, schönen Farben und üppigem kastanienbraunem Haar, das sie früher aufgesteckt trug als alle anderen Mädchen ihres Jahrgangs. Sie tanzte viel und empfing bei sich – empfing ganze Gesellschaften junger Leute zu Sommerabend-Veranstaltungen auf ihrer Veranda, bei denen es fast unendliche Mengen von Johannisbeerwein, Limonade und Bananentorte gab. Sie war eines der elf Mitglieder im exklusiven Pecout-Radfahrclub, der an kühlen Abenden, »Süße Marie« summend und auf die gewöhnlichen Fußgänger verachtungsvoll herabblickend, in schwindelndem Tempo dahinsauste, und sie war das einzige Mädchen in der Stadt, das sich den Luxus leisten konnte, ein echtes Columbia-Rad zu fahren!
Da die Besitzerin aller dieser Reize im Klassenzimmer nur drei Plätze von ihm entfernt saß, war es nicht verwunderlich, daß Myron (zusammen mit sieben, acht anderen jungen Herren) sich mit geradezu vulkanartiger Heftigkeit in Julia verliebte. Obgleich er sich nicht schmeicheln konnte, zur selben Clique zu gehören wie sie, machten sie viele Gesellschaften gemeinsam mit. In den neunziger Jahren waren die kleinen Städte in Connecticut noch demokratisch genug, um so etwas zu ermöglichen. Er tanzte Walzer mit ihr, und das machte er recht gut, aber wenn er versuchte, die Figuren der verschiedenen Quadrillen zu exekutieren, wirkte er plump und lächerlich, und dann zischte Julia ihm zu: »Ach, stell dich doch nicht so dämlich an!« Es war fürchterlich, aber er sah selbst ein, daß er sich dämlich anstellte.
Die ganze Schulzeit über warf er ihr über seine Geometrieaufgabe hinweg heimliche Blicke zu, während sie schnippisch den Kopf hochwarf und seine Blicke nicht erwidern wollte. Die anderen Sophomoren beobachteten sie und lachten, und ein kleines Ding von Mädchen, das die Frechheit kleiner unansehnlicher Frauen hatte (dieses Mädchen hat mittlerweile geheiratet, ist Mutter geworden und tut nicht gut; sie spielt Tag und Nacht Bridge und frequentiert einen hübschen Chiropraktiker) ließ durch die Bankreihen Zettel wandern, auf denen Dinge standen wie: »Myron ist verrückt nach Julia«, und diese Botschaften wurden von allen gelesen und bekichert. An den Abenden stapfte Myron, so oft er sich für eine Viertelstunde vom Hotel und seiner Arbeit freimachen konnte, an Julias Haus vorbei und himmelte sehnsüchtig mit offenem Mund und traurigen Blicken hinauf. Das Haus der Lambkins wurde in ganz Black Thread nur von den Wohnstätten des Besitzers des Boston Store und des Bankiers Mr. Dingle übertroffen. Es war aus ziemlich verblaßtem rotem Backstein gebaut und hatte dunkelgrüne Fensterläden und ein Mansardendach. Die Veranda lag nicht, wie es sonst üblich war, an der Vorderfront, sondern an der Seite, wodurch sie etwas Auserlesenes und Mysteriöses bekam. Myron starrte die Eleganteren und Unternehmungslustigeren unter seinen Jahrgangs-Kollegen an – manche der reicheren Jungen trugen weiße Hosen – die auf den Verandatreppen herumlümmelten und Julia die Cour schnitten.
Er machte nicht gemeinsame Sache mit ihnen. Er kam sich zu groß, zu plump und anmutslos vor; er kam sich deklassiert vor. Aber sein Herz weitete sich, um alles in sich aufzunehmen, was mit den Lambkins zu tun hatte – das Wohnhaus der Lambkins, den eleganten neuen Wagen der Lambkins mit dem feinen Whipcord-Verdeck, Mr. Trumbull Lambkin in grimmiger Hagerkeit mit grauem Backenbart, eingehüllt in Kampfer- und Formaldehyd-Gerüche. Mit der Zärtlichkeit eines Schwagers betrachtete Myron Julias Schwester Effie May, die damals vier Jahre alt war. Sie war ein süßes, kleines, goldhaariges Püppchen und hatte alle schönen Eigenschaften einer Hyäne. »Herrgott, Effie May ist wirklich ein raffiniertes kleines Balg!« strahlte Myron. Er übertrug seine Liebe sogar auf Fred, den Hund der Lambkins, ein scheußliches Tier, das von vorn ein Collie, von hinten ein Neufundländer und am ganzen Leibe scheußlich war und nichts so sehr liebte, wie nach nächtlichen Anbetern zu schnappen, die, wenn sie an Julias Haus vorüberkamen, langsamer gingen. Er schätzte sogar Julias Bruder Herbert, einen stets kalt und gelassen dreinblickenden jungen Herrn, der ein Jahr älter war als Myron, der ein überfreundliches »Guten Morgen« mit einem frostigen Nicken erwiderte und, wenn er freundlich gefragt wurde: »Wirst du in diesem, Sommer bei deinem Papa im Geschäft arbeiten?« knurrend erwiderte: »Ganz ausgeschlossen; ich werde mich weiter für Yale und meine Architektenlaufbahn vorbereiten.«
Herbert sprach wirklich so, und damals ertrug Myron es. Er ging am Lambkin-Haus vorüber, ging vorüber und ging vorüber, er litt, wenn er die Courschneider auf der Veranda sah, und sein Herz war einsam – es blieb auch noch einsam, wenn er zum Hotel zurückkehrte und sein Vater (der in der letzten Stunde nichts Wichtigeres getan hatte, als in den Zähnen zu stochern und sich zu kratzen) ihn ausschalt, weil er die Koffer eines Reisenden nicht in das Musterzimmer hinuntergetragen hatte. Er war sogar noch einsam, wenn er in später Stunde hinter dem Schanktisch in der Bar stand und der Raum erfüllt war von dem leisen Gerassel der Pokerchips, dem Klirren der Gläser, die mit den Worten »Ihr Spezielles« aneinander gestoßen wurden, und dem wiehernden Gelächter über die neueste Anekdote von Napoleon und dem toten Fisch.
Er hatte sich am ersten Tag des Sophomorenjahres verliebt, als ihm seine unterdrückte Leidenschaft durch die Erkenntnis offenbar geworden war, daß Julia, wie sie so dasaß mit ihrem zum erstenmal aufgesteckten Haar und dem stolz in die Luft gereckten schönen Kinn, nichts anderes war als das leibhaftige Ebenbild des Gibson Girl, der Venus und Schönen Helena jener Zeit. Ja! Er sah es nun – er blickte in sein eigenes Herz. Sie war das wahre Gibson Girl und mußte angebetet werden wie kein sterbliches Wesen sonst. Da er sich gerade dem gefährlichen Alter von fünfzehn Jahren näherte, verzehrte er sich nach ihr in leidvollem, hilflosem Schmerz. Er hatte nicht die entfernteste Vorstellung davon, was er eigentlich mit ihr vorhatte. Niemals wagte er bewußt an mehr zu denken als daran, neben ihr auf den Stufen der Veranda zu sitzen und ihr vielleicht beim Abschied die Hand zu drücken, aber dieses Verlangen hielt ihn in seinem luftlosen und mit Spinnweben dekorierten Zimmer im American House wach, während er ihr teueres Antlitz vor sich sah, ihre großen schönen Hände, ihren merkwürdigen Mund, ja sogar den Stoff ihrer schönen Perkalbluse mit den eleganten Puffärmeln.
Erst nach einem vollen Monat seiner Leidenschaft und seines Märtyrertums, an einem Oktoberabend, traf er sie allein auf der Veranda an. Trotz all seiner Scheu vor ihr war er kein allzu schüchternes Jungchen, und so schritt er, seinen ganzen Mut zusammennehmend, den kleinen Weg entlang, und setzte sich entschlossen auf die oberste Stufe, unterhalb ihres Schaukelstuhls.
»Halloh«, sagte er.
»Halloh.«
»Bißchen kühl.«
»Ja, es ist ein bißchen kühl.«
»Ganz allein heute abend?«
»Ja«, räumte sie ein, »ich bin ganz allein. Niemand scheint mich gern zu haben.«
»Ach doch, ich schon.« Es machte ihm Freude, daß er es zuwege brachte, die richtige Leichtigkeit und Eleganz in seinen Ton zu legen.
»Ach, natürlich, du!« Ganz ironisch. »Du kommst nie her.«
»Na, ich habe meine Arbeit im Hotel, Jule. Ich muß überall aushelfen.«
»Na, aber du könntest dich schon manchmal losmachen.«
»Na, es ist furchtbar schwer, loszukommen.«
»Sicher könntest du oft loskommen.«
»Na, meistens kann ich nicht loskommen.«
»Na, wenn du wolltest, könntest du schon loskommen.«
»Würd es dir Spaß machen, wenn ich loskommen könnte und rüber käme?«
Sie schleuderte den Kopf hoch – nicht ganz das richtige für ein großes, hübsches Gibson Girl – und näselte: »Jedenfalls zerbreche ich mir nicht den Kopf darüber, du Oberschlauer. Du hast wohl keine große Lust zu kommen, sonst würdest du dich schon öfter losmachen.«
»Na, ich werd versuchen, öfter loszukommen.«
»Na, wenn's dir gelingt, öfter loszukommen, dann werd ich dir vielleicht glauben, daß du Lust hast, nach mir zu schauen.«
»Na, ich werd mich öfter losmachen – du wirst ja sehen! Hör mal, Jule, kannst du nicht mal mit mir am Sonntag nachmittag ne kleine Spazierfahrt machen? Wir kriegen vom Hotel aus halbe Preise.«
»Ach, sieh mal, Herr Oberschlau! Deshalb hast du die übergroße Freundlichkeit, mich zum Spazierenfahren einzuladen – weil du den Wagen billig kriegen kannst!«
»Ach Herrjeh, du, ich hab doch nicht gemeint – –«
»Na, jedenfalls hast du's gesagt; ganz haarscharf genau das hast du gesagt – ihr kriegt halbe Preise, und deshalb könntest du vielleicht so herablassend sein, mich spazieren fahren zu lassen!«
»Das hab ich nicht gesagt! Jedenfalls hab ich es nicht so gemeint, und das weißt du auch recht gut! Wenn du kommen willst, schön, und wenn nicht, dann laß die großartige Angeberei! Wie wär's?«
Recht schwach piepste Julia: »Ach, ich würde ja sehr gern, aber Pa und Ma würden es nicht erlauben.«
»Warum denn nicht?«
»Sie hätten sicher nichts dagegen, wenn du herkommst, sozusagen unter ihren Augen, aber spazieren fahren würden sie mich nicht mit dir lassen.«
»Verflixt noch einmal, warum denn nicht?«
»Ach, es ist so schrecklich, es zu sagen – sie sind mit dir nicht ganz einverstanden.«
»Warum denn nicht?«
»Pa ist in solchen Sachen so schrecklich eigentümlich, und dein Papa ist Budiker.«
»Ist er nicht! Bloß weil eine Bar im Hotel ist – –« Bisher war er kühn gewesen und hatte fließend gesprochen, aber nun wußte er nicht, wie weiter, denn er begriff zu seinem Entsetzen, daß sein Vater zu der Klasse der Gastwirte gehörte, die in vornehmen Connecticut-Kleinstädten Pariahs waren. Verwirrt schloß er: »Er ist kein Budiker! Er ist Hotelier!«
»Na ja, aber ich fürchte, von Hoteliers hält Pa auch nicht besonders viel. Er findet, alle möglichen Leute bedienen und ihnen zu essen geben und ihnen ihre Betten machen, das ist ein bißchen gewöhnlich.«
»Also laß dir von mir sagen, Julia Lambkin, daß mein Pa noch nie in seinem Leben ein Bett gemacht hat. Er ist der Besitzer und Leiter! Er gibt bloß Schlüssel aus und führt Buch und macht lauter so Sachen!«
»Na, du machst manchmal Betten, und einmal hast du für einen Reisenden ein Paar Socken ausgewaschen – das hat uns dein Bruder Ora erzählt!«
»Der dreckige kleine Schuft! Der kriegt noch ein paar Dinger von mir! Und übrigens, was denn? Bedient dein Vater nicht auch die Leute hinter seinem Ladentisch, und macht er ihnen nicht Rezepte für ihre Bauchweh?«
»Ich habe noch nie in meinem Leben so abstoßende Reden gehört! Kein anständiger Junge würde auch nur im Traum daran denken, in Anwesenheit einer Dame ein Wort wie Bau – also das, was du gesagt hast, zu gebrauchen! Und ich erkläre dir, schlauer Herr Weagle, daß ein Drogist keine Socken wäscht und keine Fußböden scheuert; er hat einen akademischen Beruf, und die Leute kommen zu ihm, um seinen Rat zu hören, wenn sie ernsthaft krank sind, und außerdem muß ich dir sagen, daß der alte Doc Winter, das habe ich selbst gehört, mit meinen eigenen Ohren, erklärt hat, daß mein Papa ein besserer Doktor ist als neun Zehntel von den Leuten, die sich Doktoren nennen, und wenn du denkst, daß ich auch nur eine Minute lang daran denke, hier sitzen zu bleiben und mir anzuhören, wie du meinen Vater beleidigst, dann irrst du dich ganz gewaltig.«
Sie rauschte ab ins Haus. So raffiniert war sie schon, daß sie die Tür, nachdem sie dazu angesetzt hatte, sie in netter, normaler Weise wütend zuzuknallen, mit aufreizender Ruhe und Langsamkeit schloß. Myron saß ganz zusammengebrochen da, er kam sich vor wie eine halbleere Wärmflasche. Unter Schmerzen stand er auf, und kummervoll entfernte er sich.
Aber diesmal gab er dem Hund Fred einen Fußtritt und hatte seine Freude daran.
Den ganzen Heimweg über gelobte er sich, inmitten Stürmen und Gewittern der Erniedrigung: »Wenn ich mal ein großer Doktor oder Rechtsanwalt bin, oder wenn ich mal ein großes Hotel besitze oder irgendwas, dann wird es ihr leid tun! Ich werd ihnen schon zeigen!«
Während er in einem versteckten Winkel nahe der Brücke auf einem umgestürzten Weidenstamm saß, dachte er über Mittel und Wege nach, an Wichtigkeit und Bedeutung zu gewinnen. Nie wieder wollte er einen Zelluloid-Kragen tragen, sondern immer nur leinene, wie am Sonntag, ganz gleichgültig, was sein Vater auch über die Kostspieligkeit reden mochte. Er wollte Deutsch so lernen, bis er es völlig beherrschte, und Julia Lambkin durch fließende Konversationen mit dem Lehrer verblüffen (was in Wirklichkeit weit über die Fähigkeiten des Lehrers hinausgegangen wäre). Er wollte sich, vielleicht durch das Pflücken und Verkaufen gewaltiger Mengen von Blaubeeren, höchstpersönlich ein Pferd und einen Wagen besorgen, voll Verachtung an ihrem Haus vorüberfahren und, wenn Herbert oder sie den Wunsch äußerten, mitzukommen, kurz angebunden antworten: »Bedauere, aber ich habe eine Verabredung!«
Seine Pläne für sich selbst gingen über in Pläne für das Hotel. Wenn es ein vornehmeres Etablissement wäre, könnte es Mr. Lambkin vielleicht imponieren. Selbstverständlich wollte Myron die Bar schließen. (Selbstverständlich wollte er das nicht, das gestand er sich sofort, selbst inmitten seines Wahnsinnsanfalls, ein.) Er wollte seine Mutter dazu überreden, einen Damensalon einzurichten. Kürzlich war er an einem Sonnabend mit seinem Vater nach Torrington gefahren, und dort hatte er in dem berühmten Hotel Zum Adler, das siebzig Zimmer hatte, einen Salon ganz in rotem Plüsch und Gold gesehen. »Das würde das Haus richtig vornehm machen«, dachte er, und dabei vergaß er Julia schon fast.
Er brachte seine Eltern wirklich dazu, seinen erträumten Salon einzurichten. Seine Mutter hatte Bedenken: es würde so viel Geld kosten, und außerdem würde dann ein Fremdenzimmer weniger da sein. Aber Myron erklärte mit Nachdruck, daß alle Zimmer ja doch nur in der Hochsaison, im Frühling und im Herbst, wenn die Reisenden viel zu tun hatten, besetzt waren, und wenn sie einen Salon hätten, könnten sie die Lehrerinnen und andere alleinstehende Frauen an sich ziehen, die im Boarding-House als »Ständige« das Rückgrat des Geschäfts gewesen waren, aber nicht im Hotel wohnen wollten, weil es da keine anderen gemeinsamen Räume gab als die Bar und eine Halle, die von Spucknäpfen und Männern mit tief in die Stirn gezogenen Hüten verunziert war.
Der Salon wurde eingerichtet – es war der erste Erfolg, den Myron Weagle als schöpferischer Hotelleiter hatte; so wurde er später bei Rotary-Club-Frühstücken und Handelskammer-Dinners manchmal zu seinem Entsetzen genannt.
Der neue Salon des American House war ein künstlerischer Triumph. Mutter Weagle und Myron fuhren mit der Eisenbahn bis nach Hartford, um dort in Altläden das Mobiliar zu kaufen. Auf dem Fußboden lag ein goldfarbener echter Wollteppich – anfangs gefiel er Myron nicht so gut wie der knallrote Teppich, den sie im Salon ihres Boarding-House gehabt hatten, aber als einige Zeit verstrichen war, fand er ihn vornehmer und recht geeignet dazu, sogar eine solche Aristokratin wie Julia Lambkin in Erstaunen zu versetzen. Die Tapete war schön giftgrün und mit gelben Klecksen gemustert, die wie Fische ohne Köpfe aussahen. Die Einrichtung war geradezu üppig: vier Lehnstühle mit etwas schäbig gewordenem braunem Samtbezug und kleinen unechten Spitzendeckchen an Rücken- und Seitenlehnen, drei gerade Stühle, vier Porzellanspucknäpfe und ein als Bücherbord dienender Klapptisch, auf dem sechs von Hotelgästen zurückgelassene Romane und ein zehn Jahre altes Adreßbuch der Provinz Beulah paradierten. Ferner waren imposante Spitzengardinen da und Plüschvorhänge mit Troddeln. Aber die beiden Glanzpunkte des neuen Salons waren eine riesengroße Vase mit Weidenkätzchen und vergoldeten Schilfkolben (die Vase war ganz mit Briefmarken beklebt und darüber noch einmal glasiert) und der kostbare Tisch in der Mitte mit den geschwungenen Beinen, die eine, nur zum Teil von einer gestickten Decke dem Auge des Beschauers entzogene, echte Marmorplatte trugen. Es war, alles in allem, der schönste Raum, den Myron – abgesehen vom Salon der Lambkins – in seinem ganzen Leben gesehen hatte, und als Mutter Weagle und er die Einrichtung vollendet hatten (es war sehr aufregend gewesen, den besten Platz für die exotische Vase mit den Briefmarken zu finden) schlich er sich einige Tage lang immer wieder hinauf, um einen Blick hinein zu werfen und begeistert aufzuseufzen. Und als er Ora dabei erwischte, daß er sich, mit einem Buch, in einen Samtsessel gelümmelt und die Füße auf einen anderen gelegt hatte, zerrte er ihn am Ohr hinaus.
Als er aber am nächsten Sonntag Julia in einem neuen blauen Kleid mit Rüschen, die großartig durch den Staub schleiften, mit einem prächtigen neuen großen Hut, auf dem künstliche Veilchen und Vergißmeinnicht auf zartem grünem Samtgrund blühten, zur Kirche gehen sah, da verblich aller Glanz des Salons, und sein in den letzten Tagen gehegter Ehrgeiz, ein großer Hotelier zu werden und vielleicht noch Bedeutenderes zuwege zu bringen als diesen Salon, erschien ihm vulgär und minderwertig. Es verlangte ihn danach, einen neuen blauen Kammgarnanzug und einen neuen Hut zu besitzen und Julia in die Kirche zu folgen.
(Kein Mitglied der Familie Weagle ging zur Kirche. Der Betrieb eines Hotels, insbesondere wenn das Sonntagmittagessen die Galamahlzeit der Woche ist, fördert nicht den Besuch des Gottesdienstes. Tom Weagle grunzte bisweilen: »Also, ihr könnt ja über die Religion sagen, was ihr wollt, aber ich kann euch erklären, fromm sein hat noch keinem Menschen geschadet, und es ist das einzige, was die meisten von diesen Lümmeln und Viechern und diesen ganzen ungebildeten Pöbel in Zucht und Ordnung hält.« Mrs. Weagle bemerkte: »Ich kann euch bloß sagen, was ich zu ihm gesagt habe. Ich habe ihm gesagt, ein Buch wie die Bibel, hab ich gesagt, das schon viertausend Jahre alt ist, und noch niemand hat es widerlegen können, das muß von Gott offenbart sein, und da gibt's gar kein Streiten, hab ich gesagt.« Aber höchstwahrscheinlich wandte keiner der Weagles auch nur fünf Minuten im Jahr an Gedanken über Fragen der Theologie oder Kirchenkunde, mit der einzigen Ausnahme von Ora, der gelegentlich höchst interessante Beunruhigung in der Familie hervorrief, indem er erklärte, er würde Katholik oder Anglikaner oder Buddhist oder Sabbath-Adventist.)
Der Stolz auf den neuen Salon wich von Myron, als er in Julia, die mit ihrem Blumenhut das bei den Einwohnern der Provinz Litchfield als gotisch geltende Portal der Kongregationisten-Kirche durchschritt, eine Körper gewordene Lichtgestalt zu sehen glaubte, die ihn blendete und zu einem armen lächerlichen Wesen machte; wehmütig verzichtete er auf seine Pläne, ein großer Hotelier zu werden, und suchte nach einem Beruf, der würdiger wäre der Traditionen Trumbull Lambkins, jenes vornehmen Verkäufers von Tabletten und Badeschwämmen. Innerhalb von zwei Wochen war Myron endgültig und unwiderruflich entschlossen, Arzt zu werden, Rechtsanwalt, Offizier, Forscher, Bankier, Tabakspflanzer mit tausend Morgen Land im Tal des Connecticut-River, Kapitän eines Transozeandampfers und Griechisch-Professor – diese Sprache wählte er, weil sie die ihm am fernsten liegende von allen bekannten war. Zwischendurch, aber nicht ganz so ernsthaft, dachte er daran, Tramp zu werden oder verhungerter Trapper in den Wäldern des Nordens und Julias kaltes und unbeständiges Herz zu brechen, indem er sie wissen ließ, daß sie sein Leben ruiniert hätte.
Das Spiel: »Was machen wir nach der Schule?« war in der Höheren Schule nichts Ungewöhnliches, aber keiner der anderen Jungen betrieb es mit solcher Ernsthaftigkeit, solchem energischen und praktischen Entwerfen bis ins Einzelne gehender Pläne, mit so aufgeregten Briefen an Universitäten, in denen Vorlesungsverzeichnisse bestellt wurden. Er sprach mit Ora darüber, der sich, obgleich er erst dreizehn Jahre alt war, eines reicheren Wortschatzes und mehr mißverstandener Buchgelehrsamkeit erfreute als alle anderen Knaben, die Myron kannte. Ora brachte ihn oft zur Verzweiflung; Ora bockte und war wehleidig; er machte niemals, wenn es sich vermeiden ließ, irgend etwas von den leichten Arbeiten, die ihm im Hotel zugewiesen wurden, und er kam immer zu spät zum Essen. Aber nun wandte sich Myron an ihn als ein Orakel, das einen reichen Erfahrungsschatz besaß.
»Du müßtest Geschäftsmann werden«, erklärte Ora herablassend. »Du kannst es aushalten, wenn du an einem Pult sitzt und Zahlen zusammenzählst. Dich hat nicht einmal die Arithmetik gelangweilt. Herrgott, mich macht sie einfach blödsinnig! Aber ich werd ja auch nie ein Geschäftsmann werden. Vielleicht ein Nautor.«
Von den frühesten geschichtlichen Zeiten an hatte Ora sich gewünscht, Nautor zu werden. Ungleich Myron hatten weder Jurisprudenz noch Bankwesen jemals Lockungen für ihn gehabt, obgleich in keiner Weise festzustellen ist, woher sein schriftstellerischer Ehrgeiz kam, denn er hatte nie in seinem Leben eines dieser exotischen, die Nacht zum Tage machenden Geschöpfe gesehen.
Myron stimmte halben Herzens zu, allerdings nicht ohne unbeholfen darauf hinzuweisen, daß ihn weniger das Geldverdienen interessierte als das Leiten und Verwalten von Institutionen – Hotels, Krankenhäuser, Gerichte. Vielleicht, so meinte er, gab es auch Geschäftsleute, und zwar erfolgreiche, die nicht geldgierig waren, sondern etwas leisten wollten. Dieser neue Gedanke begeisterte ihn, und in den nächsten zwei Wochen war er, im Verlauf seiner Beratungen mit Ora, Fahrradfabrikant, Präsident einer Gewehrfabrik in New Haven, die so billige Flinten herstellte, daß jeder Farmer junge sich eine leisten konnte, und Führer sämtlicher Messingindustrien Connecticuts. Noch niemals hatte er sich mit Ora so gut vertragen wie jetzt, er übersah sogar unangenehme Tatsachen wie leer gebliebene Holzkisten und unterwarf sein unromantisches Schicksal Oras dichterischer Sehergabe. Er ließ es sogar endlich über sich ergehen, daß Ora ihm »Hiawatha« vordeklamierte. Doch ihre brüderliche Kameradschaft endete mit einer Tragödie.
Myron kam auf dem Rückweg von der Schule um eine Ecke und fand Ora, umgeben von freundlichen und feindlichen Zurufen, in einem verzweifelten Kampf mit Herbert Lambkin, der drei Jahre älter war als Ora und um zwanzig Pfund schwerer. Blut troff aus Oras Nase über seinen ganzen eleganten Etonkragen, in sein Haar mischten sich heftig fließende Tränen, aber er hielt sich gar nicht schlecht. Er rannte Herbert den Kopf in den Bauch, trat ihn gegen die Schienbeine, zerkratzte ihm den Hals, und obgleich der ältere Kämpe gelegentlich einen kräftigen Hieb auf Oras Ohr landen konnte, machte er allmählich schlapp, und die ganze Bande spendete dem jungen Krieger und Barden mit Gebrüll Beifall.
Myron stieß ein Wutgeheul aus und schleuderte sich vor, als wollte er einen Kopfsprung machen. Er packte Herbert am Kragen, er versetzte Herbert einen Schlag auf die große Lambkin-Nase, er versetzte ihm Fußtritte, verfolgte ihn in ein Seitengäßchen und kam dann freudestrahlend zu seinem lieben kleinen Bruder zurück. Als sie fortgingen, schluchzte Ora, und als Myron zart und beruhigend sagte: »Na, na – du hast dich einfach großartig gehalten!« brüllte der liebe kleine Bruder: »Der Teufel soll dich holen, der Teufel soll dich holen, du bist hergekommen und hast alles verpatzt, wie immer!«
»Hah?«
»Ich hab Angst vor Bert gehabt, dann hab ich mich zusammen genommen und die Angst unterdrückt, und da bin ich auf ihn losgegangen, wie er meinen Hut gepackt hat. Und dann hab ich auf einmal überhaupt keine Angst mehr gehabt. Ich war wütend. Von Angst keine Rede. Und ich hab ihn verhauen. Und dann bist du gekommen und hast mich dabei unterbrochen und hast alles verpatzt, und jetzt hast du die ganze Ehre, verflucht noch einmal! Aber so machst du's ja immer!«
Wochenlang war Ora nicht für vertrauliche Gespräche zu haben, und Myron mußte sich ganz einsam und allein den Kopf darüber zerbrechen, ob er zum Arzt, zum Schiffskapitän oder zum Revolverfabrikanten prädestiniert war.
Dann erschien im American House der erleuchtete Priester des Handels, Mr. J. Hector Warlock, und bannte alle Zweifel.