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13

Mark Elphinstone verlangte mit einer Kopfbewegung Stillschweigen von Myron und ging durch den Speisesaal in die Küche hinaus. Nach zehn Minuten kam er wieder und ging die Treppe hinauf. Dann erschien er noch einmal in der Halle und stürmte in den Barraum. Als er herauskam, folgte ihm Fred Barrow de- und wehmütig, während Elphinstone bellte: »– ja, ja, damals sehr nützlich. Ich gebe Ihnen eine Pension von fünfzehn Dollar in der Woche. Mehr als Sie verdienen. Jetzt raus mit Ihnen. Gehen Sie hinauf packen. Ich erwarte, daß Sie am Abend nicht mehr da sind.«

Der widerspenstige Gast hatte, als er Elphinstone hereinkommen sah, seine Rechnung bezahlt und war auf den Zehenspitzen hinausgeschlichen. Elphinstone stützte sich mit seinen dicken Händen auf das Pult und sah zu Myron hinüber.

»Sie sind der neue Direktor. Geben Sie sich Mühe, daß in dieser Saison nicht noch mehr Geld verloren wird. Das ist wahrscheinlich alles, was Sie erreichen können.«

»Wie, ich – – Ich bin ermächtigt, einzustellen und rauszuschmeißen und die Gäste zum Zahlen zu bringen – –«

»Sie sind der Direktor, hab ich gesagt! Sie sind der Direktor! Das können Sie machen, wie Sie wollen! Sie haben die Leitung. Sie sind der Boss. Sie sind der Boss! Sie kriegen Gehaltserhöhung. Ich weiß nicht, was Sie jetzt haben. Keine Ahnung. Ich werde in der Zentrale nachsehen lassen. Ich schreibe Ihnen. Guten Morgen. Mein Automobil wartet draußen. Muß den Zug in St. Augustine kriegen. Guten Morgen.«

Noch vor Mittag hatte Myron bei dem Stellenvermittlungsbüro in Jacksonville telephonisch neues Personal bestellt: Küchenchef, zweiter Koch, Ökonom, Lagerverwalter, erster Barmann, Haushälterin, erster Page, Chefkellner, alles farbig; zwei Portiers und ein Buchhalter, weiß. Er machte zur ausdrücklichen Bedingung, daß niemand von dem bestellten Personal jemals in einem Umkreis von zwanzig Meilen um Tippecanoe gearbeitet hätte oder Verwandtschaft besäße, daß sie am nächsten Tag um acht Uhr früh im Zug sitzen müßten, und daß ihnen ganz im Vertrauen mitgeteilt würde, der neue Direktor des Tippecanoe wäre ein ganz verfluchter Yankee-Sklaventreiber, wenn sie also auf der faulen Haut liegen wollten, sollten sie auf die Stellungen lieber verzichten.

Vor dem Abendessen war Fred Barrow traurig gegangen, um den Abendzug nach dem Süden zu nehmen, und mit ihm waren Jared Lietrich und ein halbes Dutzend anderer Barraum-Koryphäen verschwunden. Sie verabschiedeten sich sehr kühl von Myron. Er hatte Schuldgefühle. Und vor dem Abendessen schickte er jedem einzelnen Angestellten des Hotels eine von ihm selbst getippte und hektographierte Benachrichtigung des Inhalts, daß alle ausnahmslos, ob sie Dienst hätten oder nicht, um halb zehn im Speisesaal vor ihm zu erscheinen hätten, widrigenfalls sie sofort entlassen wären. Diese Anordnung bezog sich auch auf den Barmann. Der Barraum sollte für den Rest des Tages geschlossen bleiben; der Vordereingang zur Halle sollte gleichfalls geschlossen und versperrt werden, die Gäste könnten die kleine Seitentür benutzen. An die Vordertür hängte er ein Schild, das er selbst mit einiger Mühe gemalt hatte: »Das Hotel steht unter neuer Leitung und wird reorganisiert. Bis zum 11. Januar keine Aufnahme von neuen Gästen.«

Den ganzen Nachmittag lang wurde er von durstigen Gästen belagert, die entsetzt darüber waren, daß ihre vielgeliebte Oase vertrocknet war. Feierlich gab er jedem einzelnen einen Freischnaps und seinen Segen. Nur wenige von ihnen kamen wieder, um ihn nochmals zu belästigen.

Um halb zehn stand er vor dem versammelten Personal in dem Speisesaal, der den kühlen, unlebendigen Geruch aller zweitklassigen Hotelspeisesäle auf der ganzen Welt hatte; einen Geruch nach leicht angefaultem Holz, nach altem Kleister hinter den Tapeten, nach Zitronenpastete, kalter Tomatensuppe und Butter und nach dem gelben Karton der Speisekarte.

»Setzen Sie sich, meine Damen und Herren – nein, nicht da hinten, kommen Sie an die Tische hier in meiner Nähe.«

Das weiße Personal ließ sich ängstlich an dem Tisch in unmittelbarer Nähe Myrons nieder; über dem Tisch dahinter waren dunkle Gesichter zu sehen, die eine etwas verlegene, aber vergnügte Miene zeigten. Myron hielt mit wohlüberlegter Komödiantengeste die Hand hoch, bis das Geflüster aufgehört hatte, und sprach dann scharf und laut. Unter den Zimmermädchen sah er Tansy Quills freundliches Gesicht, aber während er seine Rede hielt, vermied er sorgfältig jeden Gedanken an sie.

»Meine Damen und Herren, Sie alle wissen, wahrscheinlich besser als ich, daß es in diesem Hotel sehr schauerlich zugegangen ist – schlechte Bedienung, schlechtes Essen, schlechtes Inkasso und zu viel Trinken. Es muß etwas Ernstes geschehen. Ich bin der neue Direktor, der oberste Boss, verstehen Sie? Meine Anordnungen haben befolgt zu werden, und keine anderen, verstanden? Und ich fange damit an, daß ich Sie entlasse, Sie alle, jeden einzelnen! Sie sind alle entlassen!«

Ein allgemeiner Hauch des Entsetzens zitterte in der Luft, wie ein plötzlicher Windstoß, der sich an einem stillen Nachmittag aufmacht. Myron sah Tansys erbärmliche Miene, die Wut des glatten westindischen Küchenchefs, das Entsetzen des farbigen ersten Barmannes, der noch am Morgen desselben Tages eine hochgeschätzte Autorität für Pfefferminz-Cocktails und der Vertraute weißer Börsenmänner gewesen war.

»Sobald ich hier fertig bin, gehe ich in mein Privatbüro – das frühere Privatbüro von Mr. Barrow! – und bleibe bis Mitternacht dort. Ich bin bereit, mit jedem einzelnen von Ihnen zu sprechen, und den einen oder anderen stelle ich vielleicht wieder ein, vorausgesetzt, daß Ihnen klar ist, daß es sich um etwas völlig Neues handelt! Ausgeschlossen davon sind jedoch die folgenden; die Leute, die ich jetzt nenne, werden unter keinen Umständen wieder eingestellt: Küchenchef, zweiter Koch, Ökonom, Lagerverwalter, erster Barmann, Haushälterin, erster Page, Chefkellner, das ganze Büropersonal. Von den Genannten wünsche ich keinen mehr zu sehen – niemals! – Sie können nur morgen früh um ihre Papiere zu mir kommen. Das wäre alles. Diejenigen, die mich zu sprechen wünschen, können sofort in einer Reihe vor meinem Büro Aufstellung nehmen. Guten Abend!«

Der geschniegelte Küchenchef, der mit seiner Bildung so erfolgreich gewesen war, daß man ihn in den wenigen Wochen, die er hier war, schon zum Präsidenten des Theater- und Brüderlichen Versicherungsvereines der Ortschaft Tippecanoe gemacht hatte, erhob sich, um sehr manierlich zu fragen: »Boss, darf ich ein Wort sagen?«

»Ja – aber auch nicht mehr!«

»Sind Sie auf den Gedanken gekommen, daß die Gäste, wenn kein Koch da ist und auch sonst noch einiges am Personal fehlt, nicht gerade besondere Freude an dem Lokal haben werden – und höchstwahrscheinlich abreisen werden?«

»Der Gedanke ist mir gekommen, der Himmel sei gepriesen, Bruder. Sie sind alle entlassen!«

Eine unbehagliche Minute lang bot er ihnen die Stirn, obwohl er in seinem Innern reichlich Angst hatte. Es wurde geflüstert; die Gesichter sahen wütend aus. Nachträglich wünschte er, er hätte ein paar Polizeibeamte zugezogen, und war doch froh, daß er nichts so Albernes unternommen hatte. Kühl seine eigene heiße Furcht beobachtend, machte er sich klar, daß er bluffte; daß er ganz auf die Autorität angewiesen war, die ihm seine Stellung gab, nicht anders wie ein Polizist einer Pöbelansammlung gegenüber, die, gewohnt, von Symbolen und Formen gelenkt zu werden, vor sich lediglich die blaue Uniform mit den Messingknöpfen sieht und nicht den erschrockenen jungen Einfaltspinsel, der in der Uniform steckt.

Ihre Blicke wichen seinen Augen aus, und er ging mitten durch sie.

Als er glücklich in der Halle war, merkte er, daß sein Genick vor Angst ganz steif geworden war.

 

Außer den Rädelsführern, die er unwiderruflich entlassen hatte, kam der größte Teil des Personals vor Mitternacht zu ihm ins Büro, bat demütiglich, dabehalten zu werden, und versicherte, Myron wäre ihnen immer so teuer gewesen wie ihr Augapfel, und sie hätten in ihm stets ihren lieben weißen Vater gesehen. Etwa vier von sechs stellte er wieder ein. Ein Moment der Befreiung von beunruhigenden Selbstvorwürfen war es für ihn, als Tansy Quill zaudernd hereinkam.

»Würden Sie – –« begann sie.

»Tansy, Sie sind die einzige, die ich unbedingt behalten wollte – nur mit dem Unterschied, daß Sie von nun an zweite Haushälterin sind. Es tut mir leid, daß ich Sie nicht ausnehmen konnte, als ich alle an die Luft setzte. Ich hätte sonst den ganzen Eindruck verpatzt, Sie verstehen schon. Gutes Kind! Selbstverständlich will ich Sie behalten.«

Er tätschelte ihre heiße Hand – es war das einzige Mal, daß er sie berührte, bis auf den Abschiedshändedruck im April, als die Tippecanoe Lodge schloß.

Im übrigen war ihm das von ihm selber abgehaltene Kriegsgericht ziemlich fürchterlich, weil er gezwungen war, arme Menschen auf die Straße zu setzen, die ihre Posten brauchten. Am liebsten wäre er schwach geworden und hätte doch alle behalten. Aber er war Teil einer Maschine, ebenso hilflos wie die anderen, und wenn er auch nur einen einzigen von den Leuten dabehalten hätte, die so vorzüglich in den Methoden Fred Barrows ausgebildet waren, hätte es lediglich dazu geführt, daß schließlich alle, er selbst nicht ausgenommen, entlassen, und das Lokal eventuell von Elphinstone ganz geschlossen würde. Er blieb also dem flehenden und schüchternen Lächeln jedes einzelnen gegenüber hart, während er sich, geradezu mit einem Gefühl der Übelkeit, darüber im klaren war, daß sein Verhalten Schulden und Hunger für eine Familie bedeutete.

Kurz vor Mitternacht, als er seine Heimsuchung – und die der anderen – zum größten Teil hinter sich hatte, drängte sich ein Gast durch die Reihe der Bittsteller, pflanzte sich vor Myrons Schreibtisch auf und fragte: »Haben Sie jetzt genug von Ihrem blödsinnigen, albernen Theater, Weagle? Wann wird die Bar wieder geöffnet? Ich schlage vor, daß das gleich jetzt geschieht, wenn etwas so Armseliges wie ein Gast in diesem verrückten Loch überhaupt etwas zu sagen hat!«

»Die Bar wird morgen mittag geöffnet, vorausgesetzt, daß hier um diese Zeit schon ein wenig mehr Nüchternheit herrscht, Mr. Fanton.«

»Ich habe auch gehört, daß Sie alle Angestellten hier entlassen haben. Was sollen wir essen? Floridaluft?«

»Das Frühstück wird etwas mager ausfallen, aber vor dem Mittagessen wird schon wieder komplettes Personal da sein. Übrigens, Mr. Fanton, da Sie ja schon dabei sind, Geschichten über meine Verrücktheit zu erzählen, können Sie die Gäste auch wissen lassen, daß ich morgen vormittag die Zimmer aller Gäste, die mehr als zehn Tage schuldig sind, abschließen und ihr Gepäck zurückbehalten werde, bis alles bezahlt ist. Ihre eigene Rechnung läuft jetzt, wenn ich mich nicht täusche, über drei Wochen!«

»Bei Gott, mir ist in meinem ganzen Leben noch nie – –«

»Ein so unverschämter, größenwahnsinnig gewordener Hotelfritze vor die Augen gekommen! Ich weiß. Warten Sie ab. Das war erst der Anfang! Und sagen Sie mir nicht, daß alle zahlen und abreisen werden. Das wäre zu schön, um wahr zu sein! Gute Nacht, Mr. Fanton. Morgen vormittag werde ich Ihre Rechnung unter der Tür hineinschieben lassen.«

So geschah es auch. Aber Myron »ließ« nichts hineinschieben. Es war kein Page mehr da, der das hätte tun können. Myron machte selbst eine neue (wohl die dritte) Abschrift von Mr. Fantons Rechnung und steckte sie, bevor er um drei Uhr zu Bett ging, durch die Tür.

Es gehörte eine ganze Portion Energie dazu, daß er in dieser Nacht seine Tür nicht versperrte.

Natürlich passierte nichts.

Am nächsten Abend hatte er ein nicht sehr leistungsfähiges, aber erstaunlich williges Personal da; er hatte alle überfälligen Rechnungen einkassiert, mit Ausnahme der Rechnungen von vier Gästen, die den Betrag, den sie schuldeten, für größer hielten als den Wert ihres beschlagnahmten Gepäcks und vergnügt zur Ortschaft Tippecanoe hinübergingen, um mit der Bahn wegzufahren. Von den hundertzweiundfünfzig vergnügten Gästen, die am Morgen vorher noch dagewesen waren, hatte Myron fünfundsechzig verloren.

Er hatte sich auf größere Verluste gefaßt gemacht. Diejenigen aber, die dablieben, schienen langsam zu der Erkenntnis zu kommen, daß sie, obwohl Myron gemein genug war, Bezahlung für das, was sie genossen, zu erwarten, und obwohl der ernsthafte neue erste Barmann sie nicht zur Exekutierung ihrer Sangeskünste und vertraulichen Aussprachen über Sexualexperimente ermunterte, trotzdem ebenso viele Whiskysodas in sich schütten konnten wie vorher, und daß es, alles in allem, doch angenehmer war, besser zu essen, besser gefegte Fußböden zu sehen und von einem Personal bedient zu werden, das wirklich eifrig und prompt war.

Und Myron, dessen Personal gut funktionierte, nutzte alles aus, was er in St. Louis und in seinem möblierten Zimmer in New Haven an den Abenden nach seiner Arbeit über Vorveranschlagung und Bilanzkünste gelernt hatte. Er rieb sich das Gesicht mit kaltem Wasser ab, um so weit wach zu bleiben, daß er die über verschwommene Striche purzelnden Zahlen ins Auge fassen konnte. Er überprüfte die Bücher des entlassenen Ökonomen, Küchenchefs und Lagerverwalters. Er kam dahinter, wie viele Hunderte diese drei monatlich dem Hotel beim Materialeinkauf und beim Verkauf von übrig Gebliebenem gestohlen hatten. Er ersann neue Systeme, die es schwachem Menschenfleisch so gut wie unmöglich machten, wieder so nachlässig zu sein. Und wenn die täglichen Küchenberichte auf sein Pult kamen, las er sie wirklich, im Gegensatz zu Fred Barrow, der Berichte verlangt hatte, aber der Ansicht gewesen war, sie wirklich durchzusehen, hätte die Genauigkeit übertrieben und zur Pedanterie gemacht.

Myrons Monatsbilanz vom 27. Januar bis zum 27. Februar, gewissenhaft am 28. Februar an das New-Yorker Büro abgesandt, wies einen nur ganz geringen Leistungsrückgang auf, und die Anzahl der Gäste war von siebenundachtzig am zweiten Tag nach seinem Amtsantritt auf hundertdreiundzwanzig gestiegen. Er hatte sich die Adressen aller wohlhabend aussehenden Gäste, die er im Pierre Ronsard kennengelernt hatte, aufbewahrt und ebenso die Adressen der meisten von den »besseren« – das heißt reicheren – Gästen, mit denen er in New Haven zu tun gehabt hatte. Diesen allen hatte er Briefe geschrieben über die Herrlichkeiten des Badens am Strand der Pontevedra-Insel und des Tennisspielens unter Palmen zu einer Zeit, in der im Norden der Schnee alles zudeckte. Er hatte auch seinen neuen Bekannten aus den Hotels geschrieben, die er auf seiner Reise nach dem Süden erforscht hatte. Diese Briefe diktierte er einer jungen Stenotypistin, deren Gehalt er zunächst aus eigener Tasche zahlte, weil er abwarten wollte, ob sein Experiment sich als klug und lohnend erweisen würde.

Myron war sicherlich einer der ersten Hoteldirektoren in Amerika, die an präsumptive Gäste überraschend offene und nicht allzu aufdringlich kordiale, persönliche Briefe schrieben. Es kann sogar sein, daß er der allererste war.

Die mit ihrer Anerkennung geizende Welt ehrt Homer, Hippokrates, Gutenberg, die Brüder Wright, Edison und Ivy Lee, den Erfinder der Kunst, die Propaganda in den Dienst des Regierens zu stellen, aber kein einziger Mensch entsinnt sich derer, denen wirklich wichtige Dinge des Lebens zu verdanken sind – der Entdecker des Feuers, des Kaffees und des Rades, der Erfinder des Taschentuches und der Zigaretten, der Neuerer, die zum erstenmal die Entdeckung machten, daß der Mensch nicht nur von sechs bis zwei, sondern statt dessen auch von Mitternacht bis acht Uhr schlafen kann, oder der schöpferischen Männer vom Schlage Myrons, die die ersten wirklich anreizenden und einschmeichelnden Werbebriefe schrieben.

Sein am 28. März abgesandter Bericht – es war der vorletzte in diesem Jahr, denn das Hotel schloß immer am 15. April – wies einen kleinen Gewinn auf, den ersten seit eineinhalb Jahren; er bedeutete ungefähr zwei Prozent des investierten Kapitals, also gegen zwölf Prozent mehr, als Fred Barrow in den zwei Jahren, seitdem er es zu seiner Lieblingsbeschäftigung gemacht hatte, Räusche zu sammeln, zu verdienen vermocht hatte.

Aber noch bevor dieser Märzbericht nach New York ging, war Ora Weagle in die Tippecanoe Lodge eingebrochen.

 

Ora kam so selbstverständlich herein, als hätte er Myron noch am Tag vorher und nicht vor eineinviertel Jahren zum letztenmal gesehen. Myron, der gerade sechs Gästen kalten Proviant für einen Ausflug zurecht machen ließ, starrte seinen Bruder an, als tauchte hinter den Gästen eine Erscheinung auf. Ora sah zerlumpt aus, er war alles andere als gut rasiert, und seine Haare waren in der Gegend der Ohren reichlich zottelig. Er schwankte, daß man den Eindruck hatte, er wäre sogar um diese Zeit, neun Uhr vormittags, angetrunken, obwohl er direkt von der Bahn kam. Aber er winkte Myron sehr von oben herab zu, schrie: »Hat keine Eile, Jungchen«, und schlurfte zu einem Stuhl, in dem er auch augenblicklich einschlief.

Als Myron ihn aufweckte, sah Ora ihn aus trüben Augen an, schüttelte sich, bis er wach war, und krächzte: »Ach. Ach ja, halloh, Myron. Wie wär's mit was zum Frühstück? Seit zwei Tagen habe ich keinen Bissen zu essen gehabt und keinen Tropfen zum Trinken!«

» Das hat dir nicht zwei Tage gefehlt!« schimpfte Myron schnuppernd.

»Ach nein; ich hab auch nicht die Absicht, ein Fanatiker zu sein – zu übertreiben! Na, halloh! Rührendes Bild der Wiedervereinigung von zwei liebevollen Brüdern! Ich hab New York satt – weißt du noch, was ich dir von dort geschrieben hab, ganz verdammt kaltes und ungemütliches Graupelwetter. Na, da dachte ich mir, wenn du mich auf einige Zeit unterbringen kannst, komm ich mal hierher, mir dieses berühmte Land der Romantik ansehen. Wie ist das mit dem Unterbringen – ordentlich?«

Ora hatte seine Ansprache mit weniger verstecktem Spott beendet als sonst, und so rief Myron zärtlich: »Aber selbstverständlich! Ich werd dir das beste Zimmer im Haus geben! Einfach wunderbar, daß du herkommen konntest. Ich hab dich in den letzten Jahren ja kaum zu Gesicht bekommen. Willst du ein Bad nehmen? Dann werd ich dir Frühstück hinaufschicken, oder wenn's dir lieber ist, kannst du auch runterkommen. Wir haben schöne, in der Sonne reif gewordene Orangen. Hier sind sie anders als oben in eurem scheußlichen erfrorenen Norden!«

»Und was zu trinken?«

»Na – – Wenn du willst.«

Nach dem Bad und einem umfangreichen Frühstück – von dem Ora allerdings nur Orangen, Kaffee und ein kleines Stückchen Toast bewältigen konnte – ausgerüstet mit einer Privatflasche Whisky und untergebracht in einem großen, dämmerigen Zimmer mit dunkelfarbigen Rosen in einem irdenen Krug und mit einem Balkon, von dem aus er über bewaldetes Hügelland auf die Pontevedra-Bucht blicken konnte, kam sich Ora wie neugeboren vor, und als Myron zu ihm ins Zimmer trat, höhnte er: »Na, der großmächtige Boss, der Direktor hier, wird dich armen Stehkragenproletarier ganz gehörig dafür heruntermachen, daß du deinen bedeutungslosen Bruder in die Hochzeitsappartements gesteckt hast! Na ja! Das Zeitungsgeschmiere bringt vielleicht nicht viel, aber jedenfalls bin ich nicht von brummigen Chefs abhängig!«

»Ich bin selber der Chef.«

»Ha?«

»Ich bin Direktor hier, der ganze Laden steht unter mir.«

»Den Teufel bist du! Direktor!« Ora konnte sich nicht genug tun an verächtlichem Gelächter. »Na, ich hab dir das ja schon längst gesagt – in New Haven, glaub ich, war es. Ich hab dir gesagt, daß du ein richtiger Jugendbuchheld bist. Selbstverständlich der richtige Karrieremacher! Fleißig. Vorsichtig. Nie was riskieren – nie mit einem Mann trinken, wenn er dir nicht nützlich sein kann! Der typische amerikanische Romanheld; der liebliche junge Schleicher! Dem Boss die Hand küssen und nüchtern bleiben und eine schöne Hand schreiben, und dann wirst du die Tochter vom Alten heiraten können und einen dicken Bauch kriegen und ein großes Tier werden, während der arme, faule, respektlose Schafskopf von Dichter es zu nichts bringt und in der Gosse verkommt.« Ora trank einen Schluck – und noch einen Schluck. Er liebkoste den Whisky mit der Zunge und ersann eine neue Satire, als Myron plötzlich loslegte:

»Ich hab's, Ora. Geben wir zu, daß ich ein dummer Streber und Arbeitsmensch bin und du ein beschwingtes Genie – –«

»Ja, du guter Gott, Myron Weagle, du hast dir ja eine ganz tolle Sprache zugelegt! Ihr habt Schwein, ihr Nachtportiers, ihr könnt aufbleiben und habt Zeit zum Lesen, während ich versuche, Wildwestfiguren zu schaffen! Wenn du so weiter machst, wirst du bald reden können wie ein richtiger kleiner Kavalier!«

»Willst du jetzt den Schnabel halten?« Ora starrte verblüfft diesen neuen, keineswegs überbescheidenen Bruder an. »Es ist ganz richtig, daß du Phantasie hast oder Genie oder was es sonst ist, und daß ich nicht viel davon hab. Aber ich hab herzlich genug und die Nase und alles mögliche andere voll von deinen Spöttereien, Ora. Ich bin, was ich bin – und dann noch was dazu! Es freut mich, daß du hier bist, und ich hab deine Geschichte im Yankee Doodle ausgezeichnet gefunden, das hab ich dir auch geschrieben, aber ich hab auch was geleistet und weiß es, und ich will nichts mehr von diesem witzig sein sollenden Gerede hören – und ich wünsche auch nicht, daß du dich schon am frühen Morgen so betrinkst – zehn Uhr, und du bist ein Junge von – warte mal, du bist ja erst dreiundzwanzig Jahre alt. Vergiß das nicht! Ich werd mir Mühe geben, daß du's hier gut hast, aber deine Geistesblitze behalt für dich. Kapiert?«

»Ach, ja – ja – selbstverständlich – ich hab bloß einen schwachen Versuch gemacht, witzig zu sein. Wirklich, ich bin dir fürchterlich dankbar. Ora, mein Sohn, du bist abgeblitzt. Geh hin und häng dich auf«, sagte Ora mit einem bescheidenen Lächeln, das ihn mit einemmal aus einem verkommenen Strolch in einen reizenden Jungen verwandelte.

Am nächsten Tag gingen sie miteinander angeln.

Ora war ein besserer Angler als Myron. Er war unter der Leitung Tom Weagles, einen Gedichtband in der einen und einen Krug Apfelgeist in der anderen Hand, unter den Zweigen der Weiden am Housatonic ausgebildet worden.

Am Tag darauf sah Ora Tansy Quill.

Sie kam, frisch und appetitlich in einer neuen Leinenuniform, einen Korridor entlang und inspizierte die Zimmer. Der Stapel Handtücher, den sie im Arm hatte, schien gar nicht einer Bediensteten zu gehören, denn sie waren ein Teil der schimmernden neuen Wäsche, die Myron zum Ersatz der scheußlichen alten Handtücher besorgt hatte, die noch von Fred Barrow da waren.

»Herrgott, die sieht ja herrlich aus! Ein süßes Negerpüppchen. Wer ist das?« wollte Ora von Myron wissen.

»Zweite Haushälterin – Miss Quill, Miss Tansy Quill.«

»Stell mich vor!«

»Keine Rede! Du kommst mir nicht in die Nähe von Tansy!«

Aber noch am selben Abend sah Myron seinen Bruder mit Tansy auf dem Grundstück lustwandeln und hörte ihn von weitem schmachten: »– ja, ein schwer arbeitender Dichter, nicht mehr als ein unpraktischer Dichter –« und: »ganz derselben Meinung; der gute Myron, der beste und klügste Mensch, den ich in meinem ganzen Leben –«

Die Sorgen, die sich Myron über Oras Absichten hinsichtlich Tansys machte, verdarben ihm zur Hälfte die Freude, die es ihm bereitete, als er Anfang April den Brief von Mark Elphinstone bekam, um den er gebetet hatte:

»Lieber Weagle: Wenn Sie das Tippecanoe schließen, kommen Sie mich in New York aufsuchen. Ich werde etwas für Sie haben, weiß allerdings noch nicht genau, was, hängt von unserem Gespräch ab, suchen Sie mich auf, sobald Sie ankommen.«

Er versuchte Ora zu überreden, daß er mit ihm nach dem Norden käme, aber Ora erklärte: »Nein, ich glaube, ich bleibe noch eine Zeitlang hier – vielleicht bis Juni. Ich hab eine Hütte auf der Insel gefunden, die ich für zehn Dollar monatlich mieten kann. Dort wird sich ausgezeichnet schreiben lassen. Ich hab eine Idee für eine lange Erzählung über das große Moor hier – das ist voller Atmosphäre – Tausende von Quadratmeilen schwermütiger Zypressen und wilder Orangenbäume, geheimnisvolle Wasserläufe und Mokassinschlangen und Panther und versteckte Zufluchtsstätten für Neger, die sich von ihrer Kettenkolonne geflüchtet haben, und ihre Königin – ein wunderbares farbiges Ding. Weiß Gott, von mir wird die Welt zum erstenmal richtig die Psychologie des Negers in Liebe und in Sorgen erfahren! Ganz zu schweigen von der großartigen Atmosphäre. Und natürlich ist das hier der richtige Platz dafür, das ganze Material zusammenzubekommen!«

»Aber hier gibt es ja gar nicht Tausende von Meilen Sumpf! Der größte im Umkreis von fünfzehn Meilen ist ungefähr vier Morgen groß. Und ich zweifle sehr daran, ob auf zweihundert Meilen hier ein Panther zu finden ist. Und von der Psychologie der Neger hast du keine Ahnung.«

»Ach, zum Teufel, das beweist wieder einmal, daß du gar nichts verstehst! Wenn du einen geschulten Blick und Beobachtungsgabe hast, kannst du alles, was du brauchst, auf vier Morgen sehen – oder auch auf einem halben Morgen. Und Tansy Quill hat mir versprochen, mir bei der Psychologie zu helfen. Für ein Zimmermädchen ist sie recht klug. Fang jetzt nicht mit deinen finstern Mienen an. Du hast eine dreckige Phantasie! Typisch puritanisch bist du – du siehst immer was Unrechtes, wo gar nichts ist! Tansy und ich sind einfach Freunde. Ach ja, richtig, könntst du mir vielleicht hundert Dollar pumpen, damit ich durchkomme, bis ich mit meiner Geschichte fertig bin? Du kriegst es auf die Minute zurück, wenn ich mein Honorar hab. Du weißt doch, wie ich bin: ich zahle immer meine Schulden.«


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