Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
»Ich weiß gar nicht, wo meine ganze Zeit hinkommt«, war Effie Mays Lieblingsbemerkung. Sie sagte es in der letzten Zeit öfter als »wunnerbar«.
Sie bewohnten in Mount Vernon jetzt ein größeres Haus, das aber in der selben Gegend lag wie ihr früheres. Sie spielte nach der Schulzeit mit Luke, der schon ein großer Junge von acht Jahren war, sie machte an Abenden, an denen Myron keine Lust zu lesen hatte, eine kleine Kartenpartie mit ihm, sie unterhielt sich mit den Nachbarn über Blumensamen und die Haltbarkeit von Knabenhosen, schmückte die Kirche mit Blumen und suchte, sehr unregelmäßig, einen Musik- und Literaturklub für Frauen auf – sie lebte dasselbe geschäftige und planlose Leben, das sie in Black Thread geführt hätte, nur daß sie alle zwei Wochen einmal in die Stadt fuhr, um einen Abend im Theater oder einen ruhigen freundlichen Nachmittag mit Bertha Spinney in einem Speakeasy zu verbringen.
Sie war recht zufrieden und lutschte mit stets gleichbleibendem Vergnügen nicht weniger Süßigkeiten als früher. Sie war sehr dick und sah mit ihren vierunddreißig aus wie eine muntere Vierzigjährige; da sie Oras Spötteleien nur noch selten zu hören bekam, sah sie in Myron einen Weisen, und sie wußte auch, daß er ohne sie ebensowenig existieren konnte wie ohne frisches Wasser.
Myron hatte angerufen, daß er um sieben Uhr zu Hause sein würde, und Luke durfte aufbleiben und auf ihn warten. Luke fuhr auf seinem Dreirad auf dem zementierten Weg von der Straße zum Haus hin und her und fiel gelegentlich in die von Käfern angefressenen Rosensträucher. Die hohe Gestalt seines Vaters mit den nervösen Bewegungen kam um die Straßenecke.
»Hallo, Pap-pa!«
»Hallo!«
»Hal-LO!«
»Hallo, Junge!«
»Was hast du mir mitgebracht?«
»Nichts!«
» Gar nichts?«
»Gar nichts!«
»Wirklich überhaupt gar nichts?«
»Nein, mein Lieber! Meinst du denn, daß ich dir jeden Abend ein Geschenk mitbringen muß?«
»Na klar!«
»Wer hat dir denn das beigebracht?«
»Das hab ich in der Schule gelernt, und außerdem sagst du's immer zu Ma.«
»So, mach ich das, ja?«
»Mhm, klar, jeden Tag!«
»Na, dann werd ich wohl doch nachsehen müssen, ob mir jemand ein bißchen Schokolade in die Tasche gesteckt hat. Aber Luke, das muß ich dir sagen, ich bin ein Feind davon, in großen, rationalisierten modernen Betrieben wie unserem hier die Disziplin mit solchen Mitteln wie Geschenken aufrecht zu halten.«
»Mhm. Au, das ist fein – Nußschokolade!«
»Luke! Wie würdest du es finden, direkt draußen auf dem Land zu leben, aber in der Nähe von einem hübschen Gasthof mit ausgezeichnetem Essen – Fischen und Schwimmen und Wiesen und Wandern und Eichhörnchen und – ach, und Blumen – alles, weißt du! Richtiges Land! Wie würdest du das finden?«
»Gar nich.«
»Nein, ernsthaft! Würd es dir nicht sehr gut gefallen auf dem Land?«
»Nö. Mir gefällt's hier. Auf dem Land ist alles so gewöhnlich – wie bei Onkel Herbert. Bleiben wir hier. Oder ziehen wir nach New York. Das wär schick! Dann könnt ich zweimal im Tag ins Kino gehen!«
Myron dachte nach: »Das macht mir's ja sehr leicht! Ich seh schon, alles wird ganz begeistert davon sein, wenn ich von hier weg geh, um einen Landgasthof aufzumachen. Herrlich! Ach, Teufel! … Aber Luke wird es schon gefallen! Ich werd es eben so machen, daß es ihm gefällt!«
»Ich hab dir ixmal davon erzählt, daß ich einen wirklich erstklassigen Gasthof bauen will«, sagte Myron. »Du weißt ja – mein Grundstück bei Center. Nekobee-See.«
»Ja, natürlich, zigtausendmal«, sagte Effie. Sie gähnte und lächelte dann entschuldigend.
»Also, ich hab jahrelang nur drüber geredet und nie Mumm genug gehabt, es auch auszuführen, aber jetzt werd ich es endlich wirklich tun!«
»Wirklich?« Sie war sehr zärtlich, aber völlig unbeeindruckt.
»Ja. Es ist mein Ernst. Jetzt paß einmal gut auf, Effie. Wenn ich es ausführe, oder sagen wir lieber, sobald es so weit ist, wird es auch für dich Folgen haben. Wir werden dort wohnen müssen – ich möchte ein Lokal haben, das ich das ganze Jahr in Betrieb halten kann – auch Wintersport – und wir werden dort wohnen müssen.«
»Aber, ach Liebling!« Sie quiekte wie eine in die Ecke getriebene Maus. »Ich kann doch nicht von den netten Nachbarn hier weg, und der Junge ist doch an die Schule hier gewöhnt und so, und Center – ach, es war natürlich sicher reizend, so in der Nähe der Familie zu sein, aber daß man nie nach New York kommen und was sehen kann – ach, ich glaub, das wär gar nicht nett!«
»Wir werden versuchen, jeden Winter, oder sagen wir jeden Spätherbst, in der toten Saison, nach New York zu fahren und dort nichts anderes zu tun, als Unfug zu treiben und uns zu amüsieren, und das ist doch etwas, wofür wir bis jetzt nie Zeit gehabt haben.«
»Na – –«
Sie betrachtete ihr geliebtes Wohnzimmer, das große Schrankgrammophon, den automatischen Heizungsregulator, den großen silbernen Mixbecher, der dem Bruder Herbert ein Dorn im Auge sein würde. Er wußte, daß sie sich bemühte, sich zusammenzunehmen, und er liebte sie geradezu für ihre verwirrte Tapferkeit.
»Na, wenn du meinst, daß es richtig ist, Myron.«
»Hör zu! Ich werd für uns eine große Villa beim Gasthof bauen – viel mehr Platz zum Spielen für Luke als hier, und ob die Schule in Center für ihn wirklich schlechter sein wird als die hier, weiß ich noch gar nicht. Die Jungs hier bei New York sind so fürchterlich frech und altklug und impertinent. ›Na klar‹!«
»Na ja, ich denke, es wird ja auch im Gasthof ein paar nette Leute geben.«
Er wußte, daß sie ein Gefühl der Unsicherheit hatte. Sollte er nicht diesen überflüssigen Plan aufgeben und bei der Pye-Charian bleiben? Nein! Ein Kammerdiener sein für Nick Schirovsky und seine Freunde oder, im besten Fall, sein Leben mit dem Führen von Cafeterias en gros verbringen? Behagen und ein ruhiges, sicheres Können, das war die Tradition der alten Gasthöfe zum Silbernen Löwen, zum Weißen Lamm, zum Goldenen Ochsen und wie sie alle hießen, die Lokale, in denen seit jeher müde, durstige, hungrige Männer Ruhe und Rast gefunden hatten. Und er würde etwas viel Schöneres schaffen, als es je gegeben hatte.
»Aber ich wollte, Effie könnte es genau so sehen«, dachte er.
Er sprach ganz offen darüber mit Ora, denn Ora, so sagte er sich, war der einzige, der verstehen würde, daß er etwas tun wollte, das nicht ganz konventionell war.
Ein Jahr, nachdem er Ora mit seinem Mädchen aus dem Westward hinausgeworfen hatte – das war jetzt nahezu zehn Jahre her – waren sie einander auf der Straße begegnet, hatten sich verlegen die Hand gedrückt und waren dann zusammen lunchen gegangen. Seit damals hatte er Ora öfters gesehen. Er machte zu seiner Freude die Entdeckung, daß Ora eine ziemlich regelmäßige Beschäftigung hatte – er schrieb Kurzfilme und Artikel für die neuen Filmzeitschriften – und tat den weisen Ausspruch: »Gewiß, er betrinkt sich ja ziemlich oft, aber es gibt eine ganze Anzahl von begabten Menschen, die diese unglückselige Gewohnheit haben!«
Er schilderte den Vollkommenen Gasthof und sprach von seinem Entschluß, von der Pye Charian Gesellschaft wegzugehen. Er erwartete die erste Zustimmung seit Otto Gritzmeier.
»Na!« sagte Ora. »Ich finde, du bist ein verdammter Narr. Du hast hier eine ausgezeichnete Gelegenheit, bei diesen erstklassigen Bootleggern vorwärtszukommen und eines Tages Mitglied der Firma zu werden, und wenn du einmal so weit bist, kannst du ja zu irgendeiner anderen großen Gesellschaft übergehen, die sauber oder nicht mehr als durchschnittlich unsauber ist. Und du willst weg und wieder so ein dummes, versnobtes Teestübchen aufmachen, genau so, wie's damals mit dem American House war! Mein lieber Myron, ein Mensch, dessen stärkste Seite nicht die Originalität ist, sollte nicht herumstolzieren und versuchen, mit seiner Originalität Eindruck zu schinden!«
»Ich werd's aber trotzdem tun!« brummte Myron und begann vom Baseball zu reden.
Richard Montgomery Pye empfing ihn in seinem Büro, das aussah wie ein von einem Stahlfabrikanten hergestelltes Louis-Seize-Boudoir, und bemerkte ganz formell: »Ich will nicht ausdrücklich sagen, daß die Firma, oder daß mindestens Adolph Charian und ich es ablehnen würden, Ihren Gasthof zu finanzieren. Aber ich finde, das Projekt ist für einen Mann mit Ihren Fähigkeiten ziemlich klein. Im besten Fall würde es einen Gewinn von ein paar Hunderttausend abwerfen. Sie sehen, Weagle, ich decke meine Karten auf. Wir sind mehr als zufrieden mit Ihnen. Ich finde, daß Sie manchmal übervorsichtig sind und sich zu sehr den Kopf über Sparmaßnahmen zerbrechen, aber schließlich neigen wir vier alle zu sehr zum Spekulieren, und Sie halten uns zurück. Sie haben die Geduld, mühsam nach der Firma zu suchen, die das Pfund Zwieback um einen Sechzehntel Cent billiger verkauft, und Sie klauen nicht gewohnheitsmäßig die Griffe vom Safe im Büro. Warum wollen Sie denn nicht bei uns bleiben und ins große Geldmachen reinkommen? Wir könnten Sie in ein paar Jahren als Partner aufnehmen und es Ihnen leicht machen, ein hübsches Paket Aktien zu erwerben, und ich kann mir sehr gut vorstellen, daß wir ein Hotel in Schwung bringen, das doppelt so groß ist wie das hier.«
»Und doppelt so lärmend!« dachte Myron bei sich.
»Verzichten Sie also noch auf ein Jahr oder so was auf diese Idee und bleiben Sie bei uns.«
»Nein, es tut mir leid, Pye, aber ich bin fest entschlossen. Wollen Sie mit Charian reden? Oder soll ich? Oder soll ich mich wegen der Finanzierung woanders umtun? Ich denke, ich werd außer dem, was ich selber habe, noch ungefähr zweihunderttausend brauchen. Soll ich mit Charian sprechen?«
»Nein, lassen Sie mich nur machen. Ich werd Sie dann verständigen. Aber ich hoffe, Sie überlegen sich's noch.«
Nach zwei Tagen teilte Dick Pye ihm mit, daß Charian und er sich beteiligen würden, aber unter Ausschluß ihrer anderen Partner, Westwinds und Schirowskys, da deren schöne Gaben mehr auf dem Gebiet des Strafgesetzbuches lägen – auf dem Gebiet des Brechens und Umgehens von Paragraphen – und sich weniger zur Führung eines Landgasthofes und Exploitierung von Gänseblümchen eigneten. Pye und Charian hatten hundertfünfzigtausend zur Verfügung; die übrigen fünfzigtausend konnten mit Hilfe einer Hypothek aufgebracht werden.
»Aber wir finden es noch immer dumm von Ihnen, daß Sie so was halbes wie so ein kleines Kurhotel aufmachen wollen, und sind bloß deshalb bereit, unser Geld reinzustecken, weil wir Sie für tüchtig und verläßlich halten. Wir raten Ihnen noch einmal, sich die ganze Geschichte sorgfältig zu überlegen«, sagte Pye durchaus nicht begeistert.
Und fast ebenso wenig begeistert war Alec Monlux, der aufgeregt erklärte: »Wenn die Sache schief gehen sollte, bist du hier draußen; im Hotel geht heute alles so rasch, daß es über Nacht anders wird. Und ich hätte auch gedacht, du hast genug von den ländlichen Freuden mit Pflanzenpracht und Taschenratten. Ich wenigstens hab noch von Iowa her die Nase voll. Ich finde, Effie May hat ganz recht: nur in New York kannst du dich an allen großen, reichen, wichtigen Leuten reiben und immer ordentlich poliert bleiben.«
Es war tatsächlich niemand mit seinen Plänen einverstanden außer Gritzmeier und, ganz unerwarteterweise, Jimmy Shanks, dem plump liebenswürdigen Direktor des zum Pye-Charian-Konzern gehörigen Dickens.
»Na klar, Myron, das ist eine großartige Idee. Lassen Sie sich bloß nichts von diesen geleckten Affen einreden«, sagte ihm Jimmy in schmelzendem Ton. »Sie schaffen die Sache, und dann gehen Sie hin und bauen noch andere, bis Sie einen ganzen Lake Placid haben, der Ihnen gehört – das heißt, wenn Sie sich die Arbeit machen wollen, was Sie ja sicher nicht tun werden. Es wird Ihnen schon einen Riesenspaß machen, einfach ein gutes kleines Lokal mit allererstem Publikum und ausgezeichnetem Futter zu führen und die Möglichkeit zu haben, daß Sie Ihr eigener Herr sind und ein bißchen Luft schnappen und, so oft Sie Lust darauf haben, angeln gehen können. Eine großartige Idee! Weiß Gott, ich würde auch lieber so was machen, statt vierundzwanzig Stunden im Tag vierhundert aufgeregten Aktienmaklern die Hand drücken zu müssen!«
Myron kam gar nicht auf den Gedanken, Jimmy Shanks könnte etwa deshalb so begeistert sein, weil er nichts dagegen hatte, Myrons Stelle zu erben.