Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Kettengaragen, die ebenso bekannt werden müssen wie Kettenkolonialwarenläden & Kettenrestaurants. Würde von allen Automobilisten frequentiert werden, weil als verläßlich bekannt. Außerdem Vort. durch Engrospreise.
Es sollte »Black Thread Inn« heißen.
Er wollte so vernünftig sein, keinerlei Dankbarkeit von Black Thread Center dafür zu erwarten, daß er dem Ort dieses neue Gewerbe brachte, in dem viele von den Ansässigen Beschäftigung finden konnten. Er war sogar bereit, wenigstens sagte er sich das, sich von seinen alten Schulkameraden, die ihn jetzt so gut kannten und die er völlig vergessen hatte, beschimpfen zu lassen als ein Mensch, der »sich vor ihnen aufspielen« wolle.
Dennoch, damit, daß er dieses Gefäß der Modernität und des Geschmacks hier schuf, würde wirklich etwas für die Heimat seiner Kindheit getan sein.
Aber er wollte sich sehr davor hüten, sich preisen zu lassen oder gar prahlerisch zu werden, wenn er mit Erfolg ein Grand Trianon schaffen sollte. Er wollte derselbe gerade, anspruchslose Geschäftsmann bleiben, der er immer gewesen war, und sich auf keine unsinnigen Versuche mit Phantasie, Idealismus, Originalität einlassen.
Das Frigate Haven Manor hatte, Hauptgebäude und Dependancen zusammen, dreihundertzehn Zimmer. Das war zu viel. Er plante für den Black Thread Inn zunächst hundertzwanzig Zimmer und ein Häuschen für sich selbst, das Ganze so angelegt, daß mit Anbauten und Dependancen eine Vermehrung um weitere hundert Zimmer möglich war.
Er fuhr rasch nach Black Thread, um sich sein Grundstück anzusehen. Es war noch besser, als er gedacht hatte. Er besprach die Sache mit T. J. Dingle, dem jungen Bankier von Center, der sich sofort bereit erklärte, sich mit zehntausend Dollar zu beteiligen, und mit Mrs. Dingle, die noch rascher versprach, sobald der Gasthof fertig sei, könne Myron sich darauf verlassen, daß Ted und sie jeden Sonntag zum Souper kommen würden. »Da wird man endlich in dieser Wildnis etwas Anständiges zu essen bekommen!«
»Aber!« sagte Dingle. »Es ist eine notorische Tatsache, daß neuenglische Hausmannskost die beste der Welt ist.«
»Ich weiß, mein Lieber. Notorisch ist das richtige Wort. Sie ist so gut, daß sie vor einem versteckt wird«, antwortete seine Frau.
Den ganzen Winter hindurch war Myron, während er mit den Architekten Pläne für den Gasthof beriet, bemüht, Pye und Charian eine Vorstellung davon zu geben, was er erreichen wollte – eine Aufgabe, die dadurch sehr kompliziert wurde, daß er es selbst nicht genau wußte. Sie hatten nicht das geringste Verständnis für die Idee, den Typus des guten alten englischen Gasthofes an das Amerika der später Zwanziger Jahre anzupassen; sie stellten sich einen Bumsbetrieb vor, der nur deshalb auf das Land verlegt würde, damit er in einigermaßen Sicherheit gewährender Entfernung von zudringlichen Prohibitionsbeamten und scheidungslüsternen Frauen wäre, und höchstens noch vielleicht, damit man ein wenig Golf spielen und schwimmen könnte, um zwischen den einzelnen Trinkstunden den Appetit zu schärfen.
Aber: »Ach, ich werd schon mit ihnen fertig werden. Wenn das Ganze mal dasteht, werden sie's schon kapieren. Und natürlich soll es lustig zugehen – nur nicht mit diesen ganzen Scheußlichkeiten«, sagte sich Myron hartnäckig.
Er arbeitete die Einzelheiten der Finanzierung aus. Dabei erwiesen sich Pye und Charian großzügig genug, genau so wie sie sich bei den Blumenspenden für das Begräbnis eines Bootleggers großzügig erwiesen hätten. Sie ließen widerspruchslos zu, daß Myron seinen Besitz am Nekobee-See, das Grundstück für den Gasthof, mit fünfundzwanzigtausend Dollar bewertete, obwohl es ihn seinerzeit nur zehntausend Dollar gekostet hatte, und sie waren einverstanden damit, ihm für seine Dienste während der Bauzeit und für die Zusammenstellung des Personals vierhundert Aktien der Gesellschaft extra zu bewilligen und ihm außer einem Jahresgehalt von zwölftausend Dollar von der Eröffnung des Gasthofes an freie Wohnung in einem zum Hotel gehörigen Gebäude zu gewähren.
Er stieß vorsichtig seine Grundstücksoptionen und seine kleinen Beteiligungen an der Pye Charian Gesellschaft, am Frigate Haven Manor und am Laurel Farms für etwas mehr als fünfundsechzigtausend Dollar ab, so daß er zusammen mit dem auf fünfundzwanzigtausend Dollar bewerteten Grundstück am Nekobee-See neunzigtausend Dollar für die Investierung in seinem Projekt hatte.
Die neue Gesellschaft wurde gegründet mit einem Kapital von dreihunderttausend Dollar, geteilt in dreitausend Einhundertdollar-Aktien, von denen Myron dreizehnhundert besaß, Pye und Charian je achthundert und T. J. Dingle einhundert … Pye und Charian konnten allerdings, das verhehlte sich Myron nicht, mit ihren sechzehnhundert Aktien Dingle und ihn überstimmen, aber was hatte das schon zu bedeuten? Die Art, wie er das Lokal baute und leitete, mußte sie so begeistern, daß sie sich niemals einmischen würden, und nach fünf oder sechs Jahren konnte er so weit sein, sie auszukaufen, und wenn sie dann dabei ein hübsches Sümmchen profitierten, so würde er sich darüber nur freuen können – sie würden es ja damit verdient haben, daß sie im Anfang so großzügig gewesen waren. Es sah alles herrlich aus!
Die eigentlichen Aktiven betrugen also bei einem Aktienkapital von dreihunderttausend Dollar zweihundertfünfzigtausend, und wenn da von »Verwässerung« überhaupt die Rede sein konnte, denn schließlich repräsentierten ja auch die Erfahrung und der Einfluß Myrons etwas, dann waren es eben nur fünfzigtausend Dollar. Myron berechnete, daß der Bau eines Hotels mit hundertzwanzig Zimmern, das Herrichten des Grundstücks und des Seeufers zweihundertzwanzigtausend Dollar kosten würden, und daß die achtzigtausend Dollar genügen mußten für Einrichtung, Materialbeschaffungen und Verluste bis zum Erzielen der ersten Profite. Man beschloß, eine Hypothek von fünfzigtausend Dollar aufzunehmen, aber erst nach Beendigung des Baus. Myron war gegen alles, was nicht völlig korrekt und sicher war, und Dick Pye ließ sich schließlich dazu bewegen, damit einverstanden zu sein.
(In Wirklichkeit wurden für Bau, Einrichtung und Reserven gegen Verluste natürlich vierzigtausend Dollar mehr als erwartet gebraucht, und die Hypothek mußte erhöht werden, aber um alle diese Dinge kümmerte sich ihr Freund und Ratgeber, der Oberst Ormond M. Westwind.)
Als Nachfolger in der Leitung der Pye Charian Hotels mußte Myron einen neuen Mann aus Chicago einarbeiten. Jimmy Shanks, der sich Hoffnungen auf die Stellung gemacht hatte und vermutete, Myron hätte von ihm abgeraten – »was ich auch getan hab, aber der verdammte Idiot hat kein Recht, herumzulaufen und zu sagen, daß ich es getan hab!« gestand Myron Alec – war alles andere als erfreut. Aber Jimmy war kein kultivierter und kindischer Carlos Jaynes. Er war Myron gegenüber noch freundlicher und liebenswürdiger und herzlicher als früher und viel gefährlicher.
Bevor Myron sich mit den Plänen der Architekten einverstanden erklärte und sie auch nur eine Betonform für den Gasthof herstellen ließ, mußte er sich die europäischen Gasthöfe und Restaurants ansehen. Er mußte es tun. Er wollte mit der amerikanischen Tradition alles von europäischer Hotelpraxis vereinen, was sich hier akklimatisieren ließ. Pye und Charian hatten nichts dagegen einzuwenden, daß er im Frühjahr 1926 auf drei Monate nach Europa reiste, aber auf seine eigenen Kosten.
Europa!
Er reiste nach Europa! Er sollte alle berühmten historischen Sehenswürdigkeiten und Schönheiten kennenlernen, als da sind das Savoy, der Embassy Club, die Smithson & Batty Hotel Furnishings Co., das Café Royal, Simpson, den Cheshire Cheese, Foyot, Voisin, das Ritz, das Crillon und das Meurice in Paris, eine Flasche Vouvray, Ciro, die International Wall Tapestry Cie., den Weinberg von Chambertin, den Tour d'Argent, das Adlon, das Stephanie, die Frankfurt a. M. Wurstgesellschaft, das Beau Rivage in Lausanne, die Villa d'Este, das Albergo Russia in Rom, die Royal Augustan Antipasta Exportation Company, das Grand in Stockholm – alles in Europa, was von Bedeutung war. Vielleicht blieb ihm sogar auch noch Zeit für die Westminster Abtei, Napoleons Grab, Pompeji und eine Gemäldegalerie.
Eine verzückte Wallfahrt!
Erst als er sich alle Pläne völlig fertig zurechtgelegt hatte, erzählte er Effie May an einem Februarabend daheim in Mount Vernon davon. Er sprach voll jubelnder Begeisterung darüber und schloß mit den Worten: »Wir werden uns einfach kolossal amüsieren, ganz davon abgesehen, daß wir eine ganze Menge lernen werden, und wenn du keine Lust hast, in alle die Hotels und so weiter zu laufen, die ich mir ansehen muß, kannst du in Paris oder Rom bleiben.«
Doch sie sah keineswegs begeistert aus. Sie sagte nicht: »Wunnerbar.« Sie zauderte. »Könnten wir Luke mitnehmen?«
»Das ginge nicht gerade besonders gut, und ich glaub auch nicht, daß er etwas davon hätte, alles in so raschem Tempo – das wäre ziemlich anstrengend für ihn, er ist doch erst neun Jahre alt.«
»Ich könnt ihn nicht drei ganze Monate hier lassen – mehr als drei Monate mit der Hin- und der Rückfahrt.«
»Na, ich will sehen, es so einzurichten, daß wir ihn mitnehmen können, wenn du das Gefühl hast, daß wir es tun sollen. Er könnte wohl mit dir in Paris bleiben. Es gibt doch eine ganze Menge Dinge, die ihm Spaß machen würden.«
»Aber – –«
»Willst du nicht mitkommen?«
»Ach doch. Europa! Aber – –«
Es wurde ihm erbarmungslos klar, daß sie von der Furcht erregt war, die ihr vertraute Sicherheit zu verlieren, von der Furcht vor dem Unbekannten und wahrscheinlich Feindlichem. Es war ihm recht elend. Er wollte sich nicht von ihr fort entwickeln; er fand nicht den geringsten Gefallen an den Eheexperimenten seiner Zeit. Das Experimentieren im Geschäftsleben genügte ihm durchaus; in dieser Hinsicht unterschied er sich nicht sehr von den Biologen und Forschern, die mit jeder neuen Idee in der Biologie und der Erforschung der Dschungel kokettieren, aber in Dingen der Religion, der Politik und der Liebe stockkonservativ sind. Er wollte Europa eigentlich kaum für sich selbst, er wollte es aus dem egoistischen höchst unegoistischen Wunsch, es in seine beiden Hände zu nehmen und ihr zu zeigen.
»Aber es war doch eine großartige Sache für dich, nach Bermuda zu fahren!« sagte er.
»Ja, ich weiß. Aber damals war ich jung. Ich hatte auch gar keine Verantwortung – ein Haus und ein Kind und alles mögliche. Und – – Ach, wahrscheinlich würd ich es großartig finden, sobald ich einmal dort bin und mich daran gewöhnt hab – aber du willst ja schon in drei Wochen reisen – in drei Wochen – ach, so rasch kann ich unmöglich fertig sein – Koffer und Kleider und Wäsche und alles nachsehen und so weiter – ich könnt es nicht!«
»Aber Kind, im Alten Land kriegt man noch immer Kleider zu kaufen!«
»O nein, nein, nein! Ich könnt es nicht!« Er sah, daß sie wirklich ganz ernsthaft erschrak. »Fahr du nur allein hinüber, Luke und ich kommen ein andermal mit dir, wenn du länger bleiben kannst und er älter ist!«
»Gewiß, gewiß, Herzchen, wie du willst! Machen wir heut abend eine Partie Pinochle?«
Dann würde er eben überhaupt nicht fahren. Unsinn! Was er brauchte, konnte er in Büchern und Zeitschriften nachlesen. Warum, so rechtete er mit sich, sollte er nicht ein einzigesmal etwas für Effie tun? – das arme Ding, das hier vergraben war und nichts zu ihrem Vergnügen hatte!
Er hörte nicht auf sich. Er mußte fahren. Er konnte nicht anders.
Er war auf dem Promenadendeck des D. S. Duilio, Ziel Neapel.
Als gerufen wurde: »Alle Begleitpersonen von Bord!« sagte er mit zitternder Stimme zu Effie May und Alec Monlux: »Ihr werdet jetzt wohl runter müssen. Ich wollte, ihr kämt mit. Es wird gar keinen Spaß machen, ohne euch beide zum Reden und Schimpfen. Seid artig, ihr beide, und laßt euch kein Holzgeld andrehen. Ach Herrgott, ich wollte wirklich, ihr kämt mit! Könnt ihr denn nicht absichtlich durch einen unglücklichen Zufall nicht rechtzeitig vom Schiff herunterkommen? Na, jetzt geht ihr wohl besser los!« Er küßte Effie, nicht als Ehemann, wie er es in den letzten Jahren getan hatte – es war ein wirklicher Kuß, in dem er von dem Bewußtsein, ihre Lippen zu spüren, ganz überwältigt wurde – und führte sie besorgt zur Laufplanke.
Nachher überlegte er, ob er sie nicht ein wenig gehetzt hätte. Trotzdem, es war gut so; es dauerte nur noch eine halbe Stunde, bis die Laufplanke zum Pier hinübergezogen wurde und Amerika ganz und gar vom Schiff abgetrennt war.
So unglaublich es war, der große Dampfer begann sich zu bewegen – nur hatte man auf diesem gewaltigen Stück Stahl den Eindruck, was sich bewege, sei das Pier. Unermüdlich winkte er Effie und Alec zu, die sich aus der Menschenmenge heraushoben, als wären sie beide doppelt so groß wie die anderen. Er liebte sie! Wer hatte eine so verständnisvolle Frau, einen so treuen Freund? Und es war ihm eine Freude, daß der gute alte Jimmy Shanks, wenn er auch gleich wieder gehen mußte, eigens hergekommen war, um ihm Lebewohl zu sagen und eine Schachtel Zigarren mitzubringen.
Nun entfernte sich das Ende des Piers vom Dampfer. Er konnte Effie und Alec nicht mehr erkennen. Mit einemmal war er trostlos vor Einsamkeit, vor Angst, er würde sie nie wiedersehen, und er plagte sich mit dem Gedanken, ob er nicht ein Tor sei, seine vertraute Arbeit zu lassen und sich – welche Anmaßung! – an das Ausspionieren fremder Methoden zu machen, die er doch nie verstehen würde.
Er war so einsam, daß er früh zu Bett ging – und ausgezeichnet neun Stunden schlief; so lange hatte er – das wußte er genau, denn solche Dinge behielt er sehr gut im Gedächtnis – nicht geschlafen, seit er vor seiner Ehe mit Influenza bettlägerig gewesen war.
Am nächsten Vormittag schickte er dem Chefsteward seine Geschäftskarte.
Während der ganzen Überfahrt besichtigte er Kühlräume, elektrische Grills, die Einrichtung der Kajüten, die Vorbereitung der Menüs durch Küchenchef und Chefsteward, das Stewardlogis, die Auswahl und Zubereitung der belegten Brötchen für die Tabletts, die um zehn Uhr abends serviert wurden, die Wäschevorräte. Er war beschäftigt und zufrieden, und nur gelegentlich erinnerte er sich daran, daß er einsam sein müsse. Er nahm sich die Zeit, Gibraltar anzusehen, aber er hatte wirklich nicht Muße genug, sich, wie er sich vorgenommen hatte, die Brücke, den Kapitän und den Atlantischen Ozean anzusehen.
Er hatte Luciano Mora ziemlich zurückhaltend geschrieben. Schließlich war Luciano kein Empfangschef im Westward mehr, sondern Direktor des großartigen Hotel Pastorale in Neapel und wurde wahrscheinlich von Gästen, die er in New York kennengelernt hatte, zu Tode gequält, so wie Myron von Gästen belästigt wurde, die meinten, weil sie ihn einmal im Connecticut Inn oder in der Tippecanoe Lodge gesehen hätten, müßten sie Freizimmer kriegen.
Er freute sich sehr, als er am letzten Tag der Überfahrt einen Funkspruch von Luciano bekam: »Die Schlüssel Neapels sind dein bin am Pier.«
Der verzückte Wallfahrer fuhr also in einem der schönsten Häfen der Welt ein und dachte, während er offenen Mundes den Vesuv und das Amphitheater Neapels betrachtete: »Herrgott, ich hab ja gewußt, daß Europa eigenartig und alt und so weiter sein wird, aber auf eine so großartige Landschaft war ich nicht gefaßt, höchstens vielleicht in den Alpen. Ob diese großen weißen Kleckse Hotels sind? Herrliche Lage!«
Luciano Mora war nicht am Pier – er war plötzlich ganz rätselhafterweise auf dem Schiff, während noch angelegt wurde, und brüllte mit einem jugendlichen Stimmaufwand, als wäre er Hausdiener im Westward: »Myron, das ist ja großartig! Hier stell ich dir Italien vor! Wie gehts Effie und dem Jungen und Alec? Das war doch eine schlimme Sache mit dem alten Mark! … Luigi! das Gepäck von Mr. Weagle! … Er wird die Zollsachen erledigen und es dir dann in deine Zimmer bringen. Komm!«
(Luciano war der einzige Mensch in Italien, der Myron Weagles komischen ausländischen Namen aussprechen konnte.)
Myron hatte sehr viel Eigenart, gutes Essen und völligen Mangel an Organisation im Pastorale erwartet. Er war ein wenig erstaunt über das Englisch und die Fixigkeit des Bediensteten, der fünfzehn Minuten nach Myrons Ankunft mit dem Gepäck in seinem Zimmer war; er wunderte sich über die Großartigkeit des Isotta-Fraschini, den Luciano hatte, und seinen uniformierten Chauffeur, über die Schnelligkeit, mit der sie durch die Straßen rasten, und später über das geradezu irre Tempo, in dem sie fuhren, als Luciano ihn nach Amalfi und Sorrent brachte. Er war immer der Meinung gewesen, daß nur die freien, kühnen Americanos rasch fahren; ihm stand noch die Erfahrung bevor, daß jeder verkrüppelte Hundertjährige in Italien, Paris oder Deutschland sich schmachbeladen vorkäme, wenn er einen Wagen mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von weniger als hundert Kilometern in der Stunde führte oder ein gelegentliches Schleudern auch nur für beachtenswert hielte.
Er fand die Halle des Pastorale zu klein und, mit ihren gelben Atlassesseln, zu ähnlich einem Salon; er fand die Fahrstühle wackelig und viel zu eng. Aber dann war er wieder überrascht, ja sogar ein wenig in Verlegenheit gebracht, so als wäre er beim Lügen ertappt worden, von der Leder- und Marmorpracht seines Appartements, den Blumen auf den verschiedenen Tischen und dem schönen Mosaik – Nymphen in Blau und Grün und Rosa auf goldenem Grund – und den Apparaten im Badezimmer, die sogar für einen Installationsfachmann von seinen Graden neu waren. Er staunte über die Geschwindigkeit, mit der der Zimmerkellner kam, als Luciano ihm klingelte, er staunte, als der Mann sich verbeugte und murmelte: » Si, Commendatore.«
Er kam zu dem Schluß, daß Commendatore so etwas wie ein Titel sein mußte. Luciano hatte einen Titel! War er ein Sir? Und sollte er etwa diesen Titel auch schon gehabt haben, als er sich in Amerika aufhielt, wo er doch so kameradschaftlich gewesen war? Und da war er nun Direktor in einem Hotel, dessen kleinstes Fremdenzimmer dieselbe Größe hatte wie ein Ballsaal im Waldorf. Nahezu dieselbe Größe. Jedenfalls sah es so aus. Und doch plauderte Luciano – »Commendatore!« – genau so wie früher! »Myron, weißt du noch, wie wir Carlos Jaynes eine hübsche Scotchflasche geschickt haben, die mit Ingwerbier gefüllt war?«
Es gab müßige Pausen, in denen Myron das Gefühl hatte, er lerne nicht viel; allerdings mußte er sich beschämt eingestehen, daß gerade diese Pausen ihm Freude machten. Luciano führte ihn nach Capri, aber sie verbrachten nur zwei Stunden in den Küchen und Büros des Hotels Quisisana, denn Luciano ließ es sich nicht nehmen, von der schönen Landschaft zu sprechen und Myron in einer gewaltigen, zwei Stunden dauernden Wanderung bergauf und bergab zu den völlig unordentlichen und nutzlosen Ruinen einer Villa oder einer Burg oder so etwas zu führen, die einem römischen Kaiser gehört hatte, den Luciano »Timberio« nannte. Es war doch ganz interessant, einen Kachelboden zu sehen, der, wie Luciano behauptete, ein Alter von nahezu zweitausend Jahren hatte und doch kaum abgenutzt war. Dennoch! Myron hatte nur drei Monate für Europa. Und Luciano mochte sagen, was er wollte, er konnte sich nicht darauf besinnen, in der Schule etwas über einen Kaiser namens Timberio gelernt zu haben. Da war Julius Caesar gewesen und Augustus Caesar und Mark Anton und Marcus, oder so was Ähnliches, Aurelius. Und Nero natürlich, der Geige gespielt hatte, während Rom brannte. Niemals jedoch ein Timberio. Aber wahrscheinlich war das eben einfach eine Katzelmacherübersetzung für irgendeinen richtigen Namen.
Das war der längste Spaziergang, den Myron in Europa machte – übrigens auch in Amerika – in den letzten zehn Jahren – wenn man nicht die fünfzehn oder mehr Kilometer rechnet, die er täglich auf seinen Wegen durch Hotelkorridore und -küchen zurücklegte.
Luciano veranstaltete zu seinen Ehren ein Diner für alle Hotelwürdenträger in Neapel und Umgebung – Direktoren und Besitzer und Rezeptionschefs von dem Grand, dem Excelsior, Bertolini, Bristol, Parker, Britannique, Eden, Victoria, Santa Lucia, Quisisana. Zu Myrons romantischer Wonne schienen sie zur Hälfte Commendatore oder Cavaliere zu sein, und er überlegte, ob es bei einem Gartenfest im Buckingham-Palais nicht sehr ähnlich sein müßte – nur weniger schwarze Bärte und wohlgerundete weiße Westen.
Myron saß also zwischen dem Commendatore Luciano Mora und dem Besitzer einer Pension (eines Boarding House also) der ein Conte zu sein schien (das war wohl ein noch höherer Titel als Commendatore, obgleich es nicht halb so gut klang) und kostete wirklich die Animelle di Vitello alla Minuta con Tartuffi, von denen er gelesen hatte, als er Fleischkoch im Hotel zum Adler in Torrington, Connecticut, war. Der vergoldete Stuck-Amor an der Decke des Privatspeisesaales erzitterte unter der Gewalt, mit der kein Geringerer als der Podestà, der Bürgermeister, brüllte, die ganze Stadt fühle sich überaus geehrt, weil sie Gelegenheit habe, Myron Weagle zu begrüßen, der nicht nur der älteste Freund des Commendatore Mora sei, sondern auch das edelste Beispiel der Jetztzeit für amerikanische Tüchtigkeit und Gastfreundschaft und ein Zeuge für die historische Freundschaft zwischen Amerika und dem völlig erneuerten und verbesserten Italien.
Sieben von diesen Gästen begleiteten ihn zum Bahnhof; Myron bedauerte es, Luciano verlassen zu müssen, und bewunderte die Sprachfertigkeit des Trägers, der sich seines Gepäcks annahm. Der Mann sprach so rasch italienisch!
Er sah in Italien, der Schweiz, Frankreich und England alles, wonach er sich gesehnt hatte, weil es kultiviert war und sich eines guten Rufs erfreute. Und er sah auserlesene Kleinstadtrestaurants, von denen er niemals etwas gehört hatte – unweigerlich, wie es schien, persönlich geleitet von jenem allüberall existierenden Übermenschen, dem früheren Küchenchef des Kaisers. Er hatte die verläßliche Information bekommen, daß Europa sehr klein sei, und so war er sehr verblüfft, als er feststellen mußte, es sei so groß, daß er, da ihm nur drei Monate für seine Reisen zur Verfügung standen, nur eine Woche in Deutschland und Österreich verbringen konnte und außerstande war, Schottland, Irland, Skandinavien, Holland, Belgien, Spanien, Ungarn, Polen und den ganzen Balkan zu sehen, obgleich er mit der akkuraten Dispositionsgabe, für die er in der Hotelwelt bekannt war, ihre gründliche Besichtigung – drei volle Tage allein für Spanien – projektiert hatte.
»Uff!« sagte er, als sein Schiff von Southampton ausfuhr, »ich hab genug Ideen für ein ganzes Leben! Aber es tut mir gar nicht leid zurückzukommen. Ich glaube, ich bin ein bißchen müde! … Komisch, in wie vielen ganz erstklassigen Hotels in Europa es Zahnstocher direkt auf dem Tisch gibt!«
Er verbrachte viele Stunden in seiner Kajüte und füllte zwei neue Bände seiner »Hotelprojekte«.
Er konstatierte, daß der Zimmerdienst des europäischen Systems besser war als der des amerikanischen, weil der Gast auf einen Knopf drückte statt zu telephonieren, und weil ihm ein Garçon zur Verfügung stand, der sich allmählich an ihn gewöhnte, und nicht eine ganze Schar von fremden Kellnern und Pagen. Er konstatierte, daß das Essen noch viel besser war, als man ihm erzählt hatte, weil mehr Zeit an seine Zubereitung und mehr Geduld sogar an ein einfaches Consommé gewandt wurde, weil die Ausbildung der Köche ein ganzes Leben dauerte, und weil es, was die Gäste selbst betraf, mehr Kennergaumen gab und mehr Freiheit von dem Aberglauben, daß die Welt zugrunde gehen müsse, wenn das Büro nicht pünktlich um zwei Uhr eins wieder geöffnet werde – allerdings blieb ihm völlig unklar, was sich in dem Speisesaal einer großen amerikanischen Stadt dagegen tun lassen sollte, wo die Gäste damit rechnen, im Verlauf von fünfundzwanzig Minuten ihren Lunch zu bestellen, zu verzehren und davonzustürzen. Ihm gefiel die europäische Sitte, so oft wie möglich im Freien zu essen, in einer Laube oder auf einem Trottoir, und diesen Brauch wollte er auch im Black Thread Inn einführen.
Mit aller Heftigkeit aber lehnte er die von allen professionellen Expatriierten geteilte Ansicht ab, das schlechteste europäische Wirtshaus wäre immer noch besser als das beste amerikanische Hotel. Er hatte eine ganze Menge schlechter Hotels gefunden. Er hatte hochnäsige Portiers kennengelernt; Kellner, die der Meinung waren, alle Amerikaner liebten es, in vertraulichem Ton über das Wetter belehrt zu werden; Kassierer, die sich weigerten, ein fünfzig Francs kostendes Telegramm auf die Rechnung zu schreiben, und Rechnungen, auf denen die Steuerbeträge immer zu hoch eingesetzt waren; Restaurants, die nie etwas von Kalbfleisch, und Restaurants in anderen Ländern, die nie von etwas anderem als Kalbfleisch gehört hatten; Barmänner, die der Überzeugung waren, Eis in einem Whiskysoda sei ein Verstoß gegen sämtliche Prinzipien der englischen Verfassung, und auch amerikanische Besucher hätten kein anderes Ziel, als sich zu den Prinzipien der englischen Konstitution zu bekehren; englische Empfangsherren, die es kaum über sich bringen konnten, mit einem fremden Gast zu sprechen, wenn er nicht eine Einführung von der Tante des Vikars hatte, und die umworben werden mußten, bevor sie, in einem völlig leerstehenden Gasthof, zugaben, daß Zimmer frei seien; französische Kassierer, die über einen Betrag von zehn Centimes hysterische Zustände bekamen, aber hinsichtlich etlicher Millionen Kriegsschulden eine bewundernswerte Ruhe bewahrten und auf keinen Fall, selbst wenn er Gast war, viel von einem Sohn des Onkel Shylock hielten; italienische Ökonomen, die keinen Menschen achten konnten, der nicht den größten Wert darauf legte, sich wie einen Ballon mit Ravioli anzufüllen, bevor er mit dem eigentlichen Essen begann; Schweizer Empfangsherren, die davon überzeugt waren, alle Amerikaner wären überzeugt, daß sie im Vergleich zu den exorbitanten Preisen in ihrem Vaterlande von Glück sprechen könnten, wenn sie ein Zimmer für zwölf Dollar im Tag bekämen; deutsche und österreichische Empfangsherren, die kichernd sagten: »In Dollars ist es nur eine Bagatelle«; Karawansereien, in denen es echte Holbeins gab, aber warmes Wasser nur an Sonnabenden von fünf Uhr dreißig bis sechs Uhr siebzehn nachmittags; Hotels mit Marmorfußböden, die überhaupt keine Heizung hatten – eine großzügige Schutzmaßnahme gegen die tropische Temperatur von drei Grad Celsius an einem Märzvormittag; feuchte Servietten; Italiener, die Tintenfisch für etwas Eßbares hielten, Deutsche, die Schweinsfüße als vegetarisches Gesundheitsgericht betrachteten, und Engländer, in deren Augen verwelkter Salat, Kuttelflecken und Stachelbeertörtchen, die in Eierrahm ertrinken, dasselbe waren; deutsche Gäste, die die Franzosen verachteten, französische Gäste, die die Italiener, italienische Gäste, die die Engländer, englische Gäste, die alle Welt, und amerikanische Gäste, die nur alle anderen Amerikaner verachteten, aber das aus so vollem Herzen, daß sie ihre Beschränktheit damit wieder wettmachten. Er hatte sich in schleudernden Fahrstühlen geängstigt, er war in Staub erstickt, der wie ein Sahara-Modell auf Brokatfauteuils lag, und war auf Betten gemartert worden, die mit feuchtem Seegras gefüllt waren. Und einmal, allerdings wirklich nur einmal, hatte er ein französisches Hotel entdeckt, in dem es ein schmutziges Tischtuch gab, Papierservietten und ein Huhn, aus dem man Späne zum Feueranmachen hätte herstellen können.
Und doch war es die Wallfahrt aus Begeisterung gewesen, um die er gebetet hatte.
Unvergeßlich blieben ihm Hotelterrassen mit dem Blick auf die Alpen oder den Golf von Neapel, der Lachs im Macon und das Rindfleisch mit Schnittlauchsauce bei Frau Sacher. Aber er konnte kaum stillsitzen vor Freude, als er den verschiedenen Schönheiten seines eigenen Landes entgegendampfte – amerikanische Fahrstühle, Eiswasser, Telephone, die funktionierten, Bedienung die ganze Nacht hindurch, Maispudding, regulierbare Heizung, freie Tageszeitungen, die wirklich Zeitungen waren, Alpenaussichten aus Fenstern im dreißigsten Stockwerk, der amerikanische Glaube, daß zu einem raschen Waschen und Abliefern der Wäsche keine Sondergenehmigung der Polizei gehöre, und der noch überraschendere Glaube, daß Kaffee heiß serviert und womöglich aus Kaffee gemacht werden solle.
Erst am letzten Tag der Heimreise wurde er melancholisch, als er stöhnte: »Du lieber Himmel, ich wußte doch, daß ich etwas vergessen hab! Ich hab vergessen, mir eine Gemäldegalerie anzusehen!«