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34

Die Jahre der Großen Depression waren keineswegs mager für den wohlbekannten Autor Ora Weagle. 1930, 31 und 32 hatte er zwei Stücke am Broadway und ein halbes Dutzend Drehbücher in Hollywood, dem er jetzt großzügig die Hälfte seiner Zeit widmete. Er verdiente fünfundzwanzigtausend im Jahr, und da er nicht mehr als siebenundzwanzigtausend ausgab, ging es ihm finanziell recht gut. Anfang 1932 hatte er eine Idee, die ihn berühmter machte als alle seine Stücke. Er schuf die Figur des Alten Tantchens Depression für den Rundfunk und verkündete, abwechselnd mit komisch weiblicher und großartig männlicher Stimme, etlichen Millionen liebevoller Zuhörer die Botschaft, daß keine Depression ein Amerika besiegen könne, das Heuschrecken, William Jennings Bryan, Erdbeben, den Bürgerkrieg, Orkane und Henry Ward Beecher überstanden habe.

Er bekam tausend Schmeichelbriefe im Tag, mit deren Beantwortung zehn (vom Rundfunk bezahlte) Stenotypistinnen beschäftigt waren. Gelegentlich kam Mr. Weagle vorbei und warf lachend einen Blick auf einen Brief und die reizende Antwort, die er darauf gab, und in Gesellschaften klagte er oft ironisch über die erschöpfenden Pflichten, die er seinem Rundfunkpublikum gegenüber hätte.

Sein Bruder Myron, ein Hotelbediensteter, war aus dem Fieselhotel in New York hinausgeworfen worden, und Ora hatte seine Spur verloren. Gelegentlich hörte er ohne großes Interesse von ihm – er hatte sich immer bemüht, gut zu Myron zu sein, aber der Bursche war, und er sagte das sehr ungern von seinem eigenen Bruder, doch es ließ sich nicht leugnen, daß Myron ein verdächtiger Querkopf war. Es war ihm zu Ohren gekommen, von den näheren Zusammenhängen wußte er nichts, daß Myron wegen ungezogenen Benehmens gegenüber Gästen auch von einem Hotel in Milwaukee an die Luft gesetzt worden sei und seine Wanderschaft mit seiner albernen Frau und seinem frechen Jungen weiter nach dem Westen fortgesetzt habe.

Er hätte – dessen war er nahezu sicher – Myron geschrieben, wenn ihm seine Adresse bekannt gewesen wäre.

Bisweilen fragte er sich, ob er gerecht gegen Myron gewesen sei. Der Bursche hatte seine Verdienste. Er war fleißig und sogar großzügig – aber – Teufel! Sonderbar! Er, Ora, der zarte Dichter, war ein Realist, während sein Bruder, das Arbeitstier, der Stahl- und Gummi-Roboter, im Grunde ein sentimentaler Mensch war. Ora sah ein, daß das Leben ein Kampf war. Es war, das gab er zu, wirklich zu schlimm, daß Menschen im Kampf getötet wurden, aber das geschah eben seltsamerweise. Es war zu schlimm, daß ein Mensch wie Myron, der im Grunde ein Bauer war, wohlerzogene Leute beleidigte, aber er tat es eben seltsamerweise, und Ora konnte nichts daran ändern. Er seufzte ein wenig, er trank noch einen Schluck und plante einen Roman über die Tragödie eines Lümmels vom Lande, der, ganz wie sein Bruder, weil er eine Zeitlang infolge glücklicher Umstände imstande war, sich anständige Stadtkleider zu kaufen, ein zivilisiertes Wesen zu sein glaubte und dann wieder auf seinen Dunghaufen zurückgeschleudert wurde.

Den größten Teil des Jahres 1933 sollte Ora in Hollywood verbringen und, während er seine Arbeiten für den Rundfunk mit einer neuen Figur fortsetzte, die witzigerweise den Namen Prosper E. Tee führte, Drehbücher vorbereiten, die sich auf seine eigenen Erfahrungen als Flieger an der rumänischen, der russischen und der italienischen Front im Weltkrieg gründeten. Er war ziemlich erschöpft. Den ganzen Winter hindurch hatte er an einem großartigen Buch, Christus, Der Erste Dramatiker, geschuftet, von dem sein Verlag (eine neue Firma, denn Ora hatte sich genötigt gesehen, seine früheren Verleger als Gauner abzulehnen, die ihre Versprechen nicht hielten) mit größtem Eifer erwartete, es werde einen so guten Absatz haben wie Der Mann, Den Niemand Kennt, oder vielleicht gar Culbertsons Bridge-Handbuch.

Es schien eine gute Idee zu sein, im Mai mit seinem neuesten Mädchen, jener überaus geistigen und amüsanten jungen Schauspielerin Dimity Dove in seinem neuesten Wagen, einem Zwölfzylinder, nach Kalifornien zu fahren. (Im nächsten Jahr wollte er aber einen Sechzehnzylinder haben.) Und Dimity, das liebe Ding, hatte sich wirklich eine Ruhepause verdient, nachdem sie so viel Arbeit damit gehabt hatte, täglich sieben, Mittwochs und Sonnabends sogar vierzehn Minuten in Buckety-Buckety-Buck zu singen. Was für eine Reise! Was für eine Fahrt mitten in den Zauber des Mai. Neues Buch, neuer Verlag, neuer Filmvertrag, neues Mädel, neuer Wagen, neue würzige Frühlingslüfte!

»Ich bin doch wirklich ein Glückspilz! Obwohl ich auch dafür gearbeitet hab!« vertraute er Dimity Dove an. »Es hat ja kein Mensch eine Ahnung davon, wie wir Autoren uns abplagen! Fünfzehn Stunden im Tag, tagtäglich, und alle die verdammten Verleger und Agenten versuchen uns ununterbrochen zu behumpsen!«

Doch all diesem verheißenen Lenzesglanz zum Trotz war die Reise nicht ganz erfolgreich.

Ach, Dimity Dove war nicht, wofür er sie gehalten hatte! Wieder zum Narren gehalten! Armes weiches, unruhvolles, zärtliches Herz, sollte es immer der stahlharten Frauenselbstsucht zum Opfer werden?

Dimity sagte, er sei ein miserabler Fahrer. Dimity sagte, es hänge ihr zum Hals heraus, daß er ununterbrochen »O Röschen der Rockies« singe. Dimity sagte, so oft ihr Pech sie in ein Landhotel führe, versaue er das ganze Bett – sie gebrauchte tatsächlich das rohe Wort »versauen«, sie mit dem zierlichen kleinen Leib und den grauen Augen, die mit Recht, wenn auch nicht von Gesetzes wegen, auf den Namen Dove, Täubchen, hörte!

Sie machte ihn so wütend, daß ihm niemals eine geistvollere Antwort einfiel als: »Ach, geh zum Teufel!«

Jetzt freute er sich darüber, daß er schon vor der Abreise beschlossen hatte, bei seiner Rückkehr nach Hollywood Dimity fallen zu lassen und wieder mit Gloria Gruss anzufangen.

Er hatte die Absicht gehabt, um Dimitys willen überaus historische und romantische Gespräche über die Wanderschaft Daniel Boones zu führen, die er so unerhört genau kannte. Aber Dimitys anerkennungsvollste Antwort lautete: »Sag einmal, was meinst du denn, wo wir sind? In der achten Klasse? Willst du mir historisch kommen – mir

Er schwieg eine Strecke von hundert Meilen, abgesehen von dem Augenblick, in dem er antwortete: »Ach, halt den Rand!« als Dimity ausrief: »Du lieber Gott, sag einmal, hast du den Kerl treffen wollen? Kannst du nicht auf der rechten Seite fahren?« Diese ganzen hundert Meilen über flüsterte ein überraschend klein gewordener Ora Weagle, der nervös am Rad saß, in seinem Inneren: »Eine schöne Suppe – eine schöne Suppe.«

 

Ora raste in einer Dunkelheit, die von keinem Mondstrahl erhellt war, über die Ebenen von Kansas. Durch die Gerüche von Gasolin und von Dimitys Puder, Pralines und neuen Hundelederhandschuhen hindurch witterte er den Geruch der Maispflanzen, die aus der dunklen Erde hervorbrachen.

Seine großen Scheinwerfer verschluckten ein Dorf – es war nichts weiter als ein Kramladen, eine Arbeiterunterkunft, eine Garage und vier von Baumwollstauden gesäumte Hütten – und spie es wieder aus. Ora träumte. Er hatte Heimweh nach einem Heim, das er noch nie gesehen hatte.

»Ich wär gern einer von den Burschen da. Bloß so dasitzen und schwatzen. Über den Mais reden.«

Und: »Ist gar keine so großartige Sache, ein gehauter Literat in Speakeasies zu sein«, dachte er kläglich.

In dieser Sekunde bedauerte er es, daß es in seinem ganzen Leben nichts so Starkes und Dauerndes gab wie diese Nacht in Kansas, daß Dimity nichts weiter war als eine bequeme Gefährtin, die er in Los Angeles verlassen würde. Myron würde das nicht tun, und – – Ach, zum Teufel mit Myron, dem heuchlerischen alten Puritaner! Oras ganzes Leben hatte er mit seiner glatten Korrektheit verdorben!

Aber das mit Dimity war eine Schande.

Er nahm seine rechte Hand für einen Augenblick vom Rad, um ihr tröstend über das Knie zu streichen.

»Hör mal, um Gottes willen, laß deine Hände am Rad und kneif mich nicht ins Knie!« sagte Miss Dimity Dove.

 

Es war neun Uhr vorbei, und Dodge City, die erste Stadt mit einem möglichen Hotel, lag noch zwei Stunden vor ihnen, als Ora horntutend in den Prärieflecken Lemuel in Kansas einfuhr.

»Du, vielleicht können wir hier eine Taverne finden, in der wir übernachten können«, sagte Ora. »Meinst du, du könntest noch ein kleines Landhotel überstehen, Dim?«

»Der Teufel soll dich holen!« zischte Miss Dove.

»Na, dich kann er auch holen! Ich hab genug vom Fahren. Also! Wollen mal sehen«, bat er, als er ein elektrisches Schild, »Commercial Hotel«, quer über dem Bürgersteig hängen sah.

Er stand auf und kroch steif auf den zementierten Bürgersteig. Er war so müde! Wenn er bloß ein Stück abgebratenes Fleisch bekäme und ein Bett, das nicht allzu verwanzt wäre, würde er zufrieden sein. Warum, wußte er nicht recht, aber er wollte nicht mehr weiterfahren und den dunklen Maisfeldern trotzen, der höhnenden Präriestraße und dem verdrossenen Landduft.

Er schwankte zur Holzveranda des Hotels und sah durch die Spiegelglasscheibe ins Büro hinein.

Hm. Sah gar nicht so übel aus. Lederschaukelstühle in zwei langen Reihen, dazwischen Messingspucknäpfe, ein Fichtenholzpult mit einem Buch, das um einen Messingzapfen drehbar war. Ziemlich ähnlich wie das American House in seiner Kindheit, nur daß es sauberer war. Ja, man konnte es versuchen. Der Kerl mit dem finsteren Gesicht hinter dem Pult, der Nachtportier, sah ganz anständig aus – –

Ora ballte die Fäuste, biß sich in die Knöchel und erstickte einen Schrei. Der Kerl mit dem finsteren Gesicht hinter dem Pult des Commercial Hotel in Lemuel, Kansas, war sein Bruder Myron.

Er floh zum Wagen zurück. Er ließ ihn an, noch ehe er richtig saß. Er brabbelte: »Nein, nein, nein, nein!«

»Was ist denn jetzt wieder mit dir los?« fuhr ihn Miss Dimity Dove an.

Er erwachte. Er fuhr ruhiger und sicherer als die ganzen letzten achtzig Meilen. Er sagte gleichgültig und langsam: »Sieht ziemlich verschlampt aus. Es ist besser, wir fahren durch bis Dodge City. In ein paar Stunden sind wir da, und vielleicht können wir irgendwo unterwegs eine heiße Wurst kriegen … Ach, mein Herz!«

»Werd jetzt bloß nicht sentimental!« sagte Miss Dimity Dove in eingebildetem Ton.

 

Ora fühlte sich alt und müde. Das einzige auf der ganzen Welt, wonach ihn verlangte, war: möglichst rasch nach Los Angeles kommen und Dimity loswerden. Er war alt und müde. Es fiel ihm ein, daß er einundfünfzig Jahre alt war. Aber auf dem Weg nach Dodge City entdeckte er in einer Garage einen ausgezeichneten Rübenzuckerwhisky, und am nächsten Morgen, als ihn nicht mehr die anklagende Dunkelheit der Maisfelder bedrückte, versicherte er sich unruhig: »Na, das ist seine Schuld! Mir ist sicher kein Vorwurf zu machen!«

Als eine Woche vergangen war, hatte er aufgehört, vor sich hin zu brabbeln: »Myron, Generaldirektor des ganzen Pye-Charian-Konzerns, Nachtportier in einem Hotel Garni in Lemuel in Kansas! Na, meine Sache ist das nun mal nicht!«

Er sah Myron nie wieder.


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