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Als er an seinem zweiten Nachmittag in Black Thread durch die Ortschaft spazierte und von allen Seiten die erbauliche Bemerkung hörte: »Na, Sie sind aber ziemlich lange nicht dagewesen«, sah er einen hochgewachsenen Mann auf sich zukommen, der den Anschein erweckte, als gehe er voll Entschlossenheit irgendwohin, sei sich aber nicht ganz im klaren darüber, wohin eigentlich; ein hochgewachsener Mann mit hoher Stirn, schütterem Haar, großer Brille und hohen schwarzen Schuhen. Der Mann hatte nicht geringe Ähnlichkeit mit Herbert Lambkin, konnte es aber unmöglich sein, denn Herbert war jetzt höchstens zwei- bis dreiunddreißig, und der Mann, der da kam, sah aus wie ein Vierzigjähriger.
Es war aber wirklich Herbert Lambkin.
Er begrüßte Myron mit gewaltigem Händedrücken und sprudelte hervor: »Das ist aber schön, daß Sie wieder mal in unserem alten Nest sind, Myron! Nach allem, was ich höre, soll es Ihnen großartig gehen.«
»Ach, so so.«
»Bleiben Sie ein Weilchen?«
»Ja, ein paar Wochen, denke ich.«
»Na, wir müssen uns recht oft sehen. Es gibt nichts Traurigeres im Leben, als wenn alte Jugendfreunde, Waffenkameraden, könnte man fast sagen, sich von den Strömungen des Lebens auseinanderbringen lassen. Wir müssen schöne Spaziergänge miteinander machen und uns aussprechen und auch einmal Brot und Salz miteinander teilen.«
»Ja – äh, klar!«
»Es tut mir noch heute leid, Myron, daß wir einander in New Haven nicht öfter gesehen haben, aber damals waren wir beide natürlich zu sehr damit beschäftigt, unsere frisch gewachsenen Flügel auszuprobieren, und – – Sie wohnen wohl bei Ihren Eltern?«
»Ja.«
»Ein prächtiges Paar! So gediegene Charaktere!«
»Aber was machen Sie denn hier, Bert? Unterrichten Sie nicht an irgendeiner Universität? Haben die Ferien schon angefangen?«
»Nein, genau genommen, nicht, obwohl ich ein, zwei recht schmeichelhafte Angebote habe, aber wissen Sie, nachdem ich in Yale meinen Magister der Künste in englischer Literatur gemacht hatte, da konnte ich nicht über das Gefühl hinwegkommen, daß man in das Erziehungswesen, wenn Sie mir diese Metapher gestatten wollen, sozusagen durch den Parterreeingang eintreten soll und nicht durch das Dachfensterchen hineinschlüpfen – mit anderen Worten, ein wahrhaft allseitiger Erzieher muß sich zunächst ganz und gar mit der Bildung des Kinderverstandes befassen, und so bin ich jetzt seit einigen Jahren Schulleiter hier – eine Position, die, wie ich überzeugt bin, nicht ganz ohne Ehren und ohne Verantwortlichkeit ist, und – – Wir waren doch ziemlich wilde Burschen in der Collegezeit, was? – Bier und wer weiß was alles noch – aber jetzt sind für mich die Tage der göttlich törichten Jugend leider vorbei, und ich habe ein Weib und zwei goldige Kinderchen! Wir haben die Absicht, uns ein modernes Bungalow zubauen, aber zunächst wohne ich mit meiner kleinen Familie bei meinem Vater – das Haus ist ja so groß und geräumig, und Vater fühlt sich seit dem Tode meiner Mutter so sehr einsam, und Sie müssen bestimmt einmal kommen, Myron, unser Brot zu essen, und zwar recht bald, ich bin überzeugt, Julia wird sich ganz besonders freuen, Sie zu sehen. Wenn ich mich recht erinnere, waren Sie als junger Mensch recht angetan von ihr.«
»Ach. Julia. Richtig. Ihre Schwester. Ja – ja, natürlich – ich war ganz verliebt in sie. Hahaha!«
»Hahaha!«
»Ganz mächtig verknallt war ich in sie! Hahaha! Na, ich muß – –«
»Hahaha! Ja, so ist das. Na – –«
»Was ist denn aus Julia geworden? Ist sie noch hier?«
»Ja, äh, bloß, äh, vorübergehend. Sie hat einen ganz prächtigen Menschen aus Sharon geheiratet, Willis Wood, einen Elektrotechniker. Er ist ja, genau genommen, nicht Akademiker, aber trotzdem, er ist ein sehr feiner Kopf. Er kann die Rätsel der Elektrizität so klar machen, daß jedes Kind sie versteht; er macht sie sogar mir klar, obwohl ich, wenn ich die Wahrheit sagen soll, und das ist so, obwohl es unter vielem anderen zu meinen weniger erfreulichen Aufgaben gehört, an der Höheren Schule Physikunterricht zu geben, aber was ich eigentlich sagen wollte, ich hatte niemals eine Begabung für die Naturwissenschaften, meine Neigungen sind von Natur aus eher künstlerisch und literarisch und vielleicht psychologisch, aber Willis hat von Natur aus ein Verständnis für die Elektrizität, das einfach erstaunlich ist – so wie Sie eben von Haus aus eine Gabe für kommerzielle Probleme haben, alter Junge.«
»Aha. Na, ich muß weiter wandern. Auf später also. Julia wird dann wohl in Sharon leben.«
»Ja, im Augenblick eigentlich gerade nicht. Der Elektrotechnikerberuf ist seit einiger Zeit etwas überlaufen, und deshalb wartet Willis auf eine neue Chance, mittlerweile ist er hier in Black Thread und hilft Vater im Geschäft, er und Julia wohnen auch mit mir und Vater in unserem alten Haus, und sie hat gleichfalls zwei reizende Kinderchen – einfach reizend sind sie! Sie müssen wirklich bald zum Essen zu uns kommen!«
»Ja, furchtbar gern. Na, jetzt muß ich aber weiter. War nett, daß ich Sie gesehen habe. Auf bald!«
Myron war so froh, Herbert losgeworden zu sein, daß er sich gar nicht besonders am Anblick dieses demütig gewordenen Brahmanen freute, der ihn einst als unrein betrachtet hatte. Nach dem Gespräch mit Herbert war es einfach eine Wonne, auf der Steinbrücke zu sitzen und vergnügt und poetisch in das Wässerchen hinunterzuspucken.
Am Abend desselben Tages machte sich Herbert nochmals an Myron heran, der ihm in der Halle des American House wehrlos preisgegeben war.
»Also, es ist wirklich ein großes Vergnügen, Ihr Gesicht wieder bei uns in der Stadt zu sehen, Myron! Sie haben uns sehr gefehlt. Unsere Stadt braucht unternehmende Männer wie Sie. Ja, denken Sie, es ist mir nicht gelungen, die Geschäftsleute dieser Stadt für die Pfadfinderbewegung oder für den Rotarianismus zu interessieren, obwohl ich ihnen als Erzieher, als Akademiker und als Magister der Künste ausdrücklich erklärt habe, daß diese Bewegungen sich meines Erachtens mehr als alle anderen dafür eignen, Patriotismus, Bürgertugenden und soziale Gesichtspunkte zu entwickeln, und das in solchem Maße, daß es, wenn auch vielleicht neuartig, so doch nicht unrichtig wäre, zu sagen, daß, so verschieden auch diese beiden großen Bewegungen geistiger Erweckung dem Ursprung nach sind, ein Pfadfinder ein junger Rotarianer, und jeder Rotarianer ein Pfadfinder in langen Hosen ist! Ich habe daran gedacht, diesen vielleicht etwas originellen Gesichtspunkt in einem Aufsatz für die Educational Review darzulegen, aber ich war so in Anspruch genommen von den Sorgen des armen, abgehetzten Jugenderziehers, daß ich keine Zeit fand, zu – – Aber das ist eigentlich nicht der Grund meines Hierseins. Als ich im Kreise der Familie erzählte, daß mein gutes Glück Sie mir heute nachmittag auf unserem Dorfgäßchen entgegengeführt hat, begrüßten alle meinen Vorschlag, daß man Sie irgendwie dazu bringen müsse, zu uns zu kommen und mit uns Brot zu brechen, wie wäre es also am Freitagabend, sind Sie noch frei?«
»Ja – also – ich – –«
»Dann wird also ein ›Nein‹ einfach nicht akzeptiert! Also Freitagabend um halb sieben. Sie müssen uns entschuldigen, wenn es bei uns nur unser gewöhnliches Dorfabendbrot gibt und kein Dinner, wie Sie es wohl in den großen Karawansereien der Metropole gewohnt sind, und Sie brauchen sich natürlich nicht umzukleiden – wir machen das fast nie.«
»Das ist recht. Ich habe gar keinen Abendanzug mit.«
»So etwas braucht man hier auch gar nicht, mein lieber Freund; braucht man gar nicht. Es gibt in unserer Nachbarschaft nur ein oder zwei Häuser, in denen es, abgesehen von besonders formellen Gelegenheiten, üblich ist, sich umzuziehen.«
(»Du lieber Gott! Daß Bert mir etwas von Black Thread Center erzählen will!«)
»Wir erwarten Sie also am Freitag um halb sieben, und ich brauche Ihnen wohl nicht zu versichern, daß das eine überaus erfreuliche Reprise und Erinnerung an unsere glückselige Jugendzeit sein wird. Nun aber noch etwas. Ah – hören Sie, Myron – Folgendes: So sehr ich auch die vom Standpunkt des guten Bürgers aus erfreulichen Möglichkeiten zu schätzen weiß, die der Erzieher auf dem Dorfe dadurch hat, daß er Einfluß nimmt auf die Kleinen, die später zu ausgezeichneten Bürgern und Stützen der Republik werden, Einfluß nimmt auf sie, solange sie noch taufrisch und bildsam sind, trotz alledem ist dieses prachtvolle Metier alles andere als gut bezahlt. Ganz unter uns, es wäre mir natürlich lieb, wenn Sie das keinem Ihrer guten Freunde in New York gegenüber erwähnen würden, meine Entlohnung für all die Mühe und Verantwortung, die ich auf mich nehmen muß, ist nicht mehr als sechzehnhundert Dollar im Jahr! Und ich muß anfangen, an meine Frau und an die Kleinen zu denken, und – Ja, Sie haben eine große und einflußreiche Stellung in der Hotelwelt – –«
»Aber keine Rede! Ich hoffe, daß ich einmal, in acht bis zehn Jahren, so weit sein werde, aber bis jetzt habe ich bloß einen guten Anfang gemacht.«
»Unsinn, Unsinn, mein lieber Freund. Ich kenne Sie besser als Sie sich selbst! Myron, ich kann doch schon, wenn ich bloß mit Ihnen rede, merken, daß Sie große Fähigkeiten und viel Einfluß haben, wenn Ihnen daran liegt, davon Gebrauch zu machen. Das konnte ich ja schon beobachten, als wir noch Knaben waren. Ganz davon abgesehen, was ich sonst für Kenntnisse habe oder nicht habe, besitze ich von Natur aus die merkwürdige Gabe, die Charaktere von Menschen auf den bloßen Anblick hin beurteilen zu können. Das wird wohl auch die eigentliche Ursache der bescheidenen Erfolge sein, die ich vielleicht als Erzieher gehabt habe. Aber was ich sagen wollte – – Ich frage mich, ob Sie nicht auf Grund Ihres Einflusses in der Hotelwelt in der Lage wären, mir eine gute Anfangsstellung zu verschaffen, die es mir ermöglichen würde, meine Fähigkeiten besser, oder jedenfalls besser bezahlt, zu verwerten.«
»Ja – also – äh – – Was für Ausbildung haben Sie denn?«
»Mein lieber Freund, ein Mann, der sich um alle Einzelheiten im Leben von Hunderten von Kindern gekümmert hat – – Bedenken Sie, was ich hier täglich tue, ganz abgesehen vom Unterrichten und Entwerfen der Lehrpläne. Ich muß Lehrer aussuchen. Ich muß imstande sein, augenblicklich zu erkennen, ob irgendein armseliges, schmieriges kleines Balg mich anlügt. Ich muß ein wirklich ausgebildeter Techniker sein – Sie wissen doch, daß ich immer eine Neigung für die Architektur hatte, und vielleicht war es ein Fehler von mir, daß ich nicht dabei geblieben bin, aber ich wollte sagen: ich muß nicht gerade wenig von so langweiligen Einzelheiten verstehen, wie Heizung, Beleuchtung, Ventilation, genügender Vorrat an reinem Trinkwasser und, äh, wenn Sie meinen Realismus entschuldigen, die Anlage und Einrichtung von Toiletten. Und dann noch etwas, das vielleicht sogar wichtiger ist. Soviel ich davon weiß, gehört die Fähigkeit, amüsante und gleichzeitig belehrende Tischreden zu halten, in durchaus wesentlicher Weise zu dem Rüstzeug des modernen Hoteliers, und wenn ich das sagen darf, ohne mich damit brüsten zu wollen, ganz zufällig, gar nicht durch eigenes Verdienst, scheine ich Rednergaben zu haben, und wie man mir sagt, eine gewisse witzige Beredsamkeit …«
Erst nach elf Uhr wurde Myron ihn los, und auch da war er durchaus noch nicht sicher, ob er ihm wirklich deutlich genug zu verstehen gegeben hätte, daß er sich nicht um eine Stellung im Westward für Herbert bemühen werde. Jock McCreedy, der zweimal von der Bar aus Rettungsversuche unternommen hatte, tröstete ihn. »Professor Lambkin hat zwei ganze Stunden auf dich eingeredet, Junge. Ich verschreib dir einen Whisky Sling.«
»Jock, hast du gewußt, daß ich ein prominenter Hotelier bin?«
»Na, wenn du einer bist, dann fallen die Hoteliers jedenfalls jetzt viel magerer aus als in meiner Jugendzeit. Also, prost denn!«
Wie die Straßen Black Thread Centers, hatte auch das Wohnhaus Trumbull Lambkins für Myron zunächst nichts von seinen ehrfurchtgebietenden Eigenschaften verloren. Die Veranda an der Seite kam ihm nicht mehr einzigartig vor, aber die schwere Kirschenholztreppe zur Diele, die schweren Stühle aus schwarzem Nußbaum, der Marmorkamin und die verglasten Bücherschränke im Wohnzimmer strahlten für ihn noch immer etwas von unzugänglicher Vornehmheit aus.
Die Lambkins selbst jedoch, die Lambkins im Fleische, hatten keine Aureole besonderer Heiligkeit um sich.
Vor seiner Rückkunft nach Black Thread hatte er Julia, die Königin der Gibson Girls, völlig vergessen. In den zwei Tagen vor dem Abendessen, zu dem er eingeladen war, arbeitete er sich in eine nicht unbeträchtliche sentimentale Erregung hinein, aber damit war es im Nu vorbei, als er im Wohnzimmer auf sie zustolperte, »Julia!« flüsterte und sie ansah. Sie war eine ziemlich große Frau mit langem Gesicht, eingesunkenen Wangen und Sorgenfältchen um die Augen, und sie schien eine ganze Generation älter zu sein als er. Die überwältigende Herzlichkeit, mit der sie ihn begrüßte, machte ihn ganz nervös; sie kreischte: »So, du hast also gemeint, du kannst dich um deine alten Freunde herumdrücken und kommst uns nicht besuchen, wo du jetzt ein so großes Tier geworden bist! Darüber muß ich, weiß Gott, noch ein Hühnchen mit dir rupfen! Also, Myron, es ist wirklich großartig, dich wieder mal zu sehen – es ist wirklich einfach blendend! Hier ist mein Mann, und das sind die Kinderchen … Sie wollten absolut nicht schlafen gehen, sie mußten unbedingt aufbleiben, um noch ihren Onkel Myron zu sehen!«
Da stand sie, eine magere, von den Hausarbeiten abgerackerte Frau, umgeben von ihren Juwelen: Mr. Willis Wood, einem ziemlich jungen Mann mit Augengläsern und in der Mitte gescheiteltem Haar, und zwei kleinen Kindern, die ganz genau so aussahen wie alle anderen Kinder; sie strahlte, und Myron verrenkte seine Gesichtszüge, wurde melancholisch und ein bißchen verlegen.
Er hatte so oft gesehen, wie eine ebensolche Familiengruppe, die für ihn nichts Zauberhaftes und nichts von der Eleganz der Gibson Girls hatte, schüchtern auf den Portier zuging voll Sorge darüber, was wohl ein Doppelzimmer kosten würde und ob sie mit der ganzen Familie in einem Zimmer untergebracht werden könnten.
Er bemühte sich um herzliche Töne gegenüber Willis Wood und schwatzte drauflos: »Na, man muß Ihnen ja dazu gratulieren, Mr. Wood, daß Sie diese reizende junge Frau gekriegt haben.« (»Brrrr! Wie sie mich immer von oben herab behandelt hat, der Kuckuck soll sie holen!«) »Wenn Sie mir versprechen, daß Sie es nicht weitersagen, kann ich Ihnen gestehen, daß ich mich als Junge ganz gehörig in sie verliebt hatte, Mr. Wood!«
»Sagen Sie Willis zu mir«, krächzte Willis.
Das war die klügste Bemerkung, die er im Verlauf des ganzen Abends machte.
Auch von der Großartigkeit des vornehmen Trumbull Lambkin war nichts geblieben. Er hatte nicht mehr seinen feudalen grauen Backenbart; er war nichts weiter als ein hagerer, gebeugter alter Mann, der vor sich hinbrabbelte, daß seiner Meinung nach Hotelzimmer in New York ein schönes Stück Geld kosteten.
Herberts Gattin war ein rundliches Frauchen, ein nettes Frauchen, ein munteres Frauchen – kurz, sie war ein Black Thread Center-Frauchen. Auch ihre beiden Sprößlinge schienen den Gast unweigerlich »Onkel Myron« zu nennen, aber sie waren nicht so gut dressiert worden wie Julias süße Kinderchen – sie kicherten bloß beim Anblick ihres Onkels Myron und liefen sofort davon; darum fand er sie auch netter als alle anderen im Zimmer, bis Effie May hereinkam.
Sie kam aus der Küche, Effie May, Julias jüngere Schwester, lachend, ihre Grübchen zeigend, auf den weichen Wangen noch etwas vom Küchendunst – sie war eine skandinavische Göttin, ganz Gold und Blau und Elfenbein, rundlich, aber leichtfüßig; in Myron sah sie nichts als einen guten Spaß, im ganzen Leben sah sie nichts anderes als einen Spaß und ein Abenteuer; eine junge Freya mit einer Haut wie eine Silberbirke.
»Sie wissen wohl gar nicht mehr, wer ich bin«, sagte sie lachend.
»Ja, Sie sind ja – Sie sind …«
»Effie May. Ist das nicht ein ganz blödsinniger Name!«
»Aber, aber, Effie May, das ist der Name deiner Großmutter«, begann Mr. Lambkin und räusperte sich, wie man sich räuspert, wenn man eine lange Geschichte erzählen will, aber er kam gar nicht dazu, denn Effie May unterbrach ihn, sehr zu Myrons Freude, sofort: »Wie Sie weggegangen sind, war ich wohl noch ein kleines Göhr?«
»Das bist du auch jetzt noch!« knurrte Herbert.
»Wie lange waren Sie weg, Mr. Weagle?« fragte Effie May.
»Dreizehn Jahre.«
»Ach, dann war ich erst sieben, als Sie gingen. Ich war wohl ziemlich fürchterlich?«
»Ach nein, das möchte ich nicht sagen, aber ich weiß noch, wie Sie mir einmal, während ich Julia den Hof machte, Teig in den Hut steckten.«
»Hast du mir den Hof gemacht?« Julia zierte sich sehr. »Dann kann ich bloß sagen, ich wollte, du hättest mir etwas davon verraten. Dann hätte ich auf dich gewartet, statt einen so langweiligen Besen zu heiraten wie Willis!«
»Na erlaube mal!« rief Willis.
»Ich glaube, wir können jetzt essen gehen«, sagte Effie May.
Sie war nach Myrons Ansicht nicht nur das anmutigste, sondern auch das vernünftigste Mitglied der ganzen Familie Lambkin.
Julia und Effie May hatten für alles gesorgt, was die Abendessen ihrer Mutter seinerzeit berühmt gemacht und Myron, wenn er als Junge davon sprechen hörte, mit Neid erfüllt hatte. Es gab nicht nur die traditionellen Brathühnchen der Lambkins, Maispfannküchelchen, Holzapfelgelee und Eiscreme, sondern auch kandierte Orangenschalen, Kognakpfirsiche – ein Lieblingsgericht der Abstinenzler in Black Thread.
Aber für viel Konversation hatten sie nicht gesorgt.
Mr. Lambkin kaute und schluckte, und zwischendurch brummte er, das Huhn sei zäh, und es müsse für Myron recht schön sein, wieder zu Hause zu sein, nachdem er in fremden Hotels herumgelebt hätte. Herbert schmatzte und rülpste und redete unaufhörlich, da aber niemand besonders beachtete, worüber er redete, konnte man auch das nicht Konversation nennen. Die vier Kinder, die angeblich, wie es bei feinen Leuten sein mußte, oben außer Hörweite untergebracht waren, hingen am Treppengeländer herum und schrien: »Maaaa-ma!« Und alle anderen, auch Myron nicht ausgenommen, kauten und sagten nichts Profunderes als: »Darf ich Sie um das Salz bitten?«
Und doch unterhielten sich Myron und Effie May ununterbrochen.
Als Herbert auf den Tisch schlug, um einer seiner Äußerungen mehr Gewicht zu verleihen – es handelte sich um die Wirkung erzieherischer Maßnahmen auf Kinder – blinzelte Effie Myron zu. Als Mr. Lambkin Julia etwas zubrummte, das mit den Worten schloß: »– also, wo hast du denn die Zahnstocher hingesteckt?« lachte Effie leise, und ihr Blick begegnete dem Myrons.
Herbert mußte eine halbe Stunde nach dem Abendbrot zu einer Sitzung des Schulausschusses gehen; damit war Julia eine Chance gegeben, und Myron begriff nun auch, warum er eingeladen worden war.
Nach Julias Darstellung war es anscheinend so, daß Herbert in aller Stille überaus freundschaftliche Gefühle für Myron hegte; daß er ihn für den besten Gastronomen seit Noahs Zeiten hielt; daß der schönste Augenblick seines Lebens der von Myrons Rückkehr nach Black Thread wäre; daß es ihn immer danach verlangt hätte, Hotelier zu werden; und daß Myron nicht nur Herbert, ihr und dem ganzen Ort Black Thread, sondern auch dem Reisepublikum eine große Gunst erweisen würde, wenn er Herbert – für den Anfang – ein nettes kleines Pöstchen mit drei- bis viertausend jährlich im Hotelgewerbe besorgte.
»Ich bin überzeugt, jeder Hotelbesitzer würde sich riesig freuen, einen Mann wie ihn zu kriegen, mit seiner feinen Erziehung, mit seiner gesellschaftlichen Stellung und seiner ganzen Ausbildung im Beaufsichtigen von Kindern. Es muß ja schrecklich für die Leute sein, daß sie sonst immer auf ehemalige Kellner und so etwas angewiesen sind«, sprudelte Julia hervor.
Myron rechnete es sich ziemlich hoch an, daß er nicht sagte: »Ich bin auch ein ehemaliger Kellner.« Er kam sich ganz hilflos vor. Als er sich jedoch in dem Wohnzimmer mit den scheußlichen dunkelroten Tapeten verzweifelt umsah, blieb sein Blick an Effie haften, und sie lächelte ihm mitfühlend zu, was ihm die Kraft gab, mit eherner Stirn zu sagen: »Ich werde mich, sowie ich wieder in New York bin, bestimmt nach Möglichkeiten für ihn umsehen, obwohl die Branche gerade jetzt schrecklich überlaufen ist. An seiner Stelle würde ich meinen Lehrerposten in den nächsten Monaten noch nicht aufgeben.«
Effie May lachte leise. Julia blickte sie wütend an und begann von »unserer alten Clique« zu reden. Diese bestand, wie es schien, sowohl im ganzen wie im einzelnen aus einem »Haufen von Holzköpfen«. Einer war mit einer Katze verheiratet, eine andere war selbst eine Katze, eine dritte eine miserable Hausfrau.
Nun waren die Individuen, die Julia so abtat, genau die Lords und Ladies Black Threads, die als Prinzen und Prinzessinnen die eifrigsten Besucher der großfürstlichen Seitenveranda gewesen waren und denen Myron ihre Pracht und Herrlichkeit am meisten geneidet hatte. Und doch konnte es ihm keine Befriedigung bereiten, als sie ihm nun von ihrer früheren Souveränin als Opfer dargereicht wurden. Es hätte ihm nicht gefallen, aber er hätte eher das Gefühl gehabt, daß das Leben etwas Ganzes und Logisches sei, wenn sie gezischt hätte: »Ich habe alle meine Freunde ausnahmslos gern, und du, du Topfsudler, du hast jetzt vielleicht mehr Geld als wir, aber trotzdem finden wir, daß du von Glück reden kannst, wenn dir erlaubt wird, hier in Mutters altem Sessel zu sitzen.« Er hörte unglückselig zu und wollte so gern rauchen – im Jahre 1911 schien man eben trotz aller Modernität in einem Lambkinschen Salon noch nicht rauchen zu dürfen – und entrann, bevor Herbert wiederkam, obwohl es ganz so aussah, als ob es für Herbert ein entsetzlicher Kummer sein würde, seinen lieben alten Freund nicht mehr anzutreffen.
Effie May begleitete ihn zum Gartenpförtchen.
»Ich bin so froh, daß Sie nicht auch ein vermeckertes altes Ekel geworden sind wie Julia und Bert«, sagte Effie May. »Wie gern die klatschen und nörgeln!«
»Mich finden Sie nicht ganz so schlecht?«
»Sie – ich finde, Sie sind einfach wunnerbar!« lachte Effie May.
Wunnerbar war, wie er noch erfahren sollte, ihr Lieblingswort.
Es entzückte ihn, in Black Thread einen Menschen zu finden, der im Leben etwas Wunnerbares sah.
»Hören Sie!« sagte er eifrig. »Ich hab ein paar Wochen nichts anderes zu tun als rumzufaulenzen. Können wir beide nicht – wir vertreten ja anscheinend die jüngere, unverheiratete Generation – können wir nicht mal einen Ausflug zusammen machen?«
»Ich finde, das war wunnerbar. Ich mach am nächsten Sonntag zusammen mit ein paar Freunden und Freundinnen am Nachmittag ein Picknick am Nekobee-See. Könnten Sie nicht mitkommen?«
»Aber furchtbar gern«, sagte Myron.
Und so ging er, wieder einmal in ein Lambkin-Mädchen verliebt, von der Villa der Lambkins zum American House.
»Sie ist zwanzig. Ich bin natürlich nicht mehr der Jüngste, aber trotzdem, ich bin ja nur elf Jahre älter. Das ist gerade richtig. Sie ist eine tüchtige Hausfrau. Sie könnte sich sicher sehr nützlich machen als Haushälterin oder so was in – – Nein! Meine Frau soll nicht arbeiten!« überlegte der gereifte New-Yorker Mr. Myron Weagle.