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Während seines ersten Jahres im Hotel Zum Adler legte sich Myron allmählich zurecht, wie er sich auf seine künftige Stellung als Hoteldirektor vorbereiten sollte. Er wollte jeden Posten im Haus ausprobieren und sich mit allen Mitgliedern des Personals näher bekannt machen. Das war keineswegs allzu leicht. Im Hotel gibt es mehr Kasten als in Indien, und keinen Gandhi, der sich selbst aushungert. Die Halle verachtete das Hinterhaus als Küchensudler, und das Hinterhaus bemerkte oft und in aller Öffentlichkeit, die jungen Männer in der Halle hätten unter ihren feinen Kavaliersanzügen zerrissene Wäsche an.
Myron achtete darauf, sehr höflich, aber auch sehr freundlich zu sein, wenn er einen der Pagen oder der majestätischen Portiers in einer Sodafontäne oder einem Billardlokal oder sonst irgendwo in der freieren und ungebundeneren Atmosphäre außerhalb des Hotels traf. Er heuchelte einen Respekt vor den Ansichten der Halle über Gäste und über Psychologie im allgemeinen, den er nach seinen vielen Dienstjahren im American House und im Fandango Inn ganz entschieden nicht empfand. Er behandelte sogar den Nachtportier des Adler mit Aufmerksamkeit, einen notorischen Brummbären und Geizkragen, der, wie das Hinterhaus fest glaubte und auch laut sagte, niemals imstande gewesen wäre, seine Stellung zu behalten, wenn er nicht »etwas auf Mr. Coram wüßte«.
Der Nachtportier war einer jener in der Hotelwelt vor 1915 überall existierenden, jedoch später, in den Tagen der Konkurrenz, in minderwertige Häuser verbannten Hallenlümmel, die stolz darauf waren, »sich von frechen Gästen nichts gefallen zu lassen«. Sie sind ersetzt worden von dem »Empfangsherrn«, der dreißigmal im Tag die erste Seligpreisung der amerikanischen Hotelleitung deklamiert: »Selig ist der Gast, denn er hat immer recht.« Natürlich ist keiner der Empfangsherren Idiot genug, das auch wirklich zu glauben.
Der Nachtportier des Adler rühmte sich, wenn er auf einem der hohen Throne an der Wand des Billardraumes saß, daß er, so oft irgendein »verdrehtes Aas von Gast, das mit seiner Wichtigkeit und Hochmächtigkeit angeben will«, auch nur den Versuch machte, sich über etwas zu beschweren – über fehlendes Gepäck oder sauren Kaffee, über ein ungemachtes Bett, ein Zimmer ohne Seife oder darüber, daß man ihn nicht, wie versprochen, um sieben Uhr geweckt hatte – daß er »dem Kerl bloß gerade in die Augen sah und ihm erklärte: ›Na, jetzt will ich Ihnen mal was sagen, Bruder. Natürlich, Sie verkehren ja sonst nur bei den Astors und den Vanderbilts und haben einen Kammerdiener, der Sie bedient, aber das hier ist eben bloß n ordinäres Hotel für ganz gewöhnliche Menschen wie mich, und da werden Sie wohl schon mit unserer ganzen Bauernart zufrieden sein müssen, bis Sie wieder in Ihr Appartement im Hoffmann House zurück können!‹ Ich kann euch bloß sagen! Die Angeber werden ganz klein und häßlich, wenn hinterm Pult n richtiger Mann steht, der den Mut und den Grips hat, sich nicht bluffen zu lassen!«
Diesem Mann hörte Myron mit ganz besonderer Aufmerksamkeit zu. Er war für ihn weitaus nützlicher als Whiteheads Handbuch, er machte so ausgezeichnet klar, was man nicht tun sollte.
Es war kein großes Büro: Mr. Coram, der gleichzeitig Empfangschef und Direktor war, zwei Tagesportiers, von denen der eine auch die Ämter des Buchhalters, Kassierers und Zigarrenverkäufers bekleidete, der Nachtportier, ein Hausdiener, der fegte, zwei Pagen und drei Barmänner. Aber Myron studierte sie und entdeckte in ihrer Art, mit Gästen und Küchenpersonal umzugehen, so viele verschiedene interessante und merkwürdige persönliche Ticks, als ob es Hunderte gewesen wären. Er war eine Jane Austen in einem Wirtshaus.
Ganz besonders verachtete Clint Hosea, der Koch, die Halle einschließlich Mr. Corams. Die Leute dort, sagte er, wären eine Blase von eingebildeten, aufgeblasenen Affen, und ihre Mütter wären alle noch Waschweiber gewesen oder hätten noch armseligere Berufe gehabt. Er erdachte sich schauerliche Klatschgeschichten über sie und erzählte, während er eine Schüssel Bratäpfel in das Rohr schob, gackernd und schnatternd: der Brummbär von Nachtportier sei um zwölf Uhr nachts aus einem Zimmer rausgeschmissen worden, einfach raus, päng! Und zwar so, daß er dann dalag – an die Luft gesetzt von der kleinen Strohwitwe auf Nr. 57; den Speisezettel mache jeden Tag er, Mr. Hosea, und nicht Mr. Coram; Myron gehe diesen Schwachköpfen um den Bart, weil er hoffe, zu Mr. Coram eingeladen zu werden und ihm seinen Whisky klauen zu können; und die Folge von Myrons gesellschaftlichem Ehrgeiz sei, daß er Corned beef und gebratene Ente nicht voneinander unterscheiden könne.
Aber Myron gab nicht nach.
Er kam jeden Morgen – obgleich er selbst dreizehnstündigen Dienst von dreiviertel sieben Uhr früh bis dreiviertel acht abends mit einer Freistunde am Nachmittag hatte – schon um halb sechs in die Küche, um dem Bäcker und Pastetenkoch zu helfen, und konnte so lernen, Brot, Brötchen und Kuchen, sogar ungeheure dekorative Kuchen in der Form von Schiffen und Burgen zu backen.
Er pflegte den Umgang mit dem hochnäsigen Chefkellner, der täglich die ganze Welt wissen ließ, er hätte in einer so vornehmen Stadt wie Pittsburgh gearbeitet. Von ihm und von den älteren Kellnerinnen lernte er die ganze alte, erlesene Technik des Servierens: wie man einen Tisch deckt, von welcher Seite man die Speisen reicht, wie man sich in Frack und Schürze bewegt, sechs Bestellungen gleichzeitig im Kopf behält, Silber putzt, Salzfäßchen reinigt, Butter formt und alle anderen Einzelheiten der Servierkunst, wie man unangenehme Gäste in taktvoller Weise von den Lieblingsplätzen der Stammgäste fernhält, zu welchen Speisen Mostrich gehört, wie man Champagnerflaschen aufzieht und, viel wichtiger, wie man gekochte Eier aufmacht, und schließlich die schwierigste von allen Künsten, wie man knickerigen Gästen so schmeichelhaft zulächelt, daß sie ein anständiges Trinkgeld auf den Tisch legen. (Dies ist die verabscheuungswürdige Sitte der Kellner, die beweist, daß sie ebenso käuflich sind wie Ärzte, die ihren Patienten, Anwälte, die ihren Klienten, Autoren, die ihren Verlegern, Ansagern, die dem großen Rundfunkpublikum, College-Präsidenten, die der Unterrichtskommission und Senatoren, die aller Welt schmeicheln – sie alle sind lediglich bestrebt, sich ihre Trinkgelder zu sichern.)
Als Myron in diese Geheimnisse eingeweiht war, bemühte er sich, bei abendlichen Banketts als Aushilfskellner verwendet zu werden. Das war schwierig. Jedermann, sogar der geschmeidige Mr. Coram, staunte über diese Exzentrizität, und der Küchenphilosoph Clint Hosea, Erbe der Weisheiten Emersons und Jonathan Edwards', bemerkte: »Ich sage immer, Koch ist Koch, und Kellner ist Kellner, und da kann man nicht drum rum!«
Aber in zwei Fällen, in denen Not am Mann war, bei einem Hochzeitsempfang und bei dem Dinner der Northern Connecticut Izaak Walton and Annual Re-stocking Association, bekam Myron die Erlaubnis, sich zu versuchen. Der Chefkellner machte zu seiner Verzweiflung die Entdeckung, daß Myron sich bereits selbst eine Kellneruniform angeschafft hatte und daß es sonst nichts gab, worüber er diesem unverschämten Küchenfritzen, der aus seinen rauchigen Regionen in die feineren Gebiete des Speisesaals gekommen war, Vorwürfe machen konnte.
Als Myron zwei Jahre im Adler gewesen war, ging er – mit einem angenehmen Abschied von Mr. Coram, der seufzte: »Ich wollte, wir könnten es uns leisten, Sie hier zu halten, mein Sohn!« – als Fleischkoch nach New Haven an den Connecticut Inn, der nahezu ein wirklich gutes Hotel war, mit hundert Zimmern, gelegentlich amüsantem Essen und Gästen, die sich täglich rasierten. Es gab nur Kellner dort, keine Kellnerinnen, und mittags wurde nicht ein Dinner, sondern ein Lunch serviert, was Myron überaus großstädtisch und elegant vorkam.
Als er eindreiviertel Jahre in New Haven war, erreichte er den Oberstenrang, er wurde zweiter Koch und durfte manchmal auf den Markt gehen und dem Ökonomen beim Einkauf von Fleisch, Gemüse und Geflügel behilflich sein. Aber wieder brach bei ihm der Wahnsinn aus, er teilte dem Ökonomen und dem Chefkellner mit, daß er, gleichsam ein Vorläufer des Obersten Lawrence in Arabien, auf sein Offizierspatent verzichten und als gewöhnlicher Kellner neu eintreten wollte.
Er war jetzt zweiundzwanzig Jahre alt, kein Knabe mehr und keine komische Figur in den dunstigen Hinterhöhlen des Hotels, sondern eine geschätzte Persönlichkeit als ausgezeichneter Koch, der jetzt, ohne vom Chef verspottet zu werden, nicht nur mit seinen ersten Lieben, der Sauce Béarnaise und der Sauce Duchesse, sondern mit einem halben hundert Saucen seine Zaubertricks machte – Bordelaise, Cumberland, Poivrade, Admiral, Sainte-Menehould, Raifort, Espagnole, Cardinal, Nantaise, Niçoise, lauter romantische Namen, die er sich gern vorsprach – ganz falsch natürlich – während er siebte und rührte. Der geschäftige Ökonom erklärte verwundert: »Ich möchte nur wissen, wo so ein Junge vom Land wie er überhaupt sowas lernen konnte!« Er kam nie auf den Gedanken, daß die ganze Zauberkunst Myrons, wie frühere Erfolge in vielen anderen Berufen, einfach darauf beruhte, daß er Rezepte in einem Buch nachsah und die bemerkenswerte Energie besaß, sie auszuprobieren.
Man beschwor ihn nun, sich nicht seine Karriere zu verderben, nicht »herumzuspielen«. Der Ökonom bemerkte: »Meiner Meinung nach ist Koch Koch und Kellner Kellner, und es hat gar keinen Sinn, beides sein zu wollen, und mehr gibt's da nicht.«
Myron ließ sich von seinem Vorhaben nicht abbringen und wurde Kellner, der letzte und geringste in seiner Schicht; er verdiente, Lohn und Trinkgeld zusammengerechnet, ein Viertel des Gehalts, das er als zweiter Koch bekommen hatte. Er gab also die Zigarren auf, gewöhnte sich das Zigarettenrauchen an und war zufrieden damit, die ganze Strategie des Bedienens bei Tisch zu lernen.
Als er diese Kunst so weit beherrschte, daß er sich keine Sorgen mehr über zerbrochenes Geschirr und nicht genügend gekühlte Sellerie machte, begann er, indem er Artikel in den Hotelzeitschriften las und sich in seinen freien Minuten überall im Hotel umtat, zu studieren, mit welchen Systemen der Lagerverwalter den Empfang und die Ausgabe der Hotelvorräte evident hält, wie die Haushälterin Wäsche, Seife und Vorhänge inventarisiert, wie das Büro weiß, welche Rechnungen fällig sind, mit welchen hunderterlei Mitteln der Buchhalter und Kassierer die Kellner daran verhindern kann, das von den Gästen bezahlte Geld zu sozialisieren, und welche drei oder vier Mittel es gibt, den Buchhalter und Kassierer daran zu verhindern, daß er die Sozialisierung selbst vornehme.
Ob es ihn zu sehr ermüdete, den ganzen Tag zu arbeiten und den ganzen Abend zu studieren?
Gibt es einen Dichter, der müde wird oder leidet, wenn er bis zur Dämmerung über einem neu angekommenen Buchpaket sitzt?