Fritz Mauthner
Aus dem Märchenbuch der Wahrheit
Fritz Mauthner

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Die schöne Wahrheit und ihr hübsches Dienstmädchen

Ein echter Prinz lief seinem Hofstaat davon. Er hatte von der schönen Wahrheit gehört, Wunderdinge, und kein anderes Weib wollte er freien. Viele Bilder der schönen Wahrheit hatte man ihm gezeigt, keins dem anderen ähnlich, doch alle gleich geeignet, seine Sehnsucht zu verstärken.

Lange suchte er nach dem Lande der schönen Wahrheit. Endlich fand er einen ansehnlichen Berg, der stand mit den Füßen auf heißer Wüste, und sein Haupt bedeckte ein Gletscher. Tief im Gletscher, in einem Schneepalast, da sollte die Wahrheit wohnen.

Er klingelte und ein hübsches Mädchen machte ihm auf.

»Sind Sie die Wahrheit?« fragte er.

»Ach nein,« antwortete sie kichernd und heftete auf ihn ein Paar ehrliche graue Augen. »Die ist unsichtbar. Ich bin ja bloß ihr armes Dienstmädchen, die Wahrhaftigkeit.«

»So, so!« sagte der Freier. »Schade, daß ich ein Prinz bin. Aber bitte, mein hübsches Kind, melden Sie mich doch bei Ihrer Herrschaft.«

»Ich sagte Ihnen ja schon, sie ist unsichtbar.«

»Aber man hat mir doch Bilder der Wahrheit gezeigt? Zeigen Sie mir doch auch welche.«

»Ich kenne die Wahrheit nicht,« sagte das Mädchen lächelnd. »Ich kann nicht lügen, ich kann sie nicht malen. Aber unten, der alte, weise Unmensch, der malt. Gehen Sie doch zu ihm.«

Der Prinz ging zu dem alten Unmenschen und ließ sich neue Bilder der Wahrheit zeigen.

Ein Gletscher, meilenbreit und himmelhoch, lag auf den Felsen. Starr die Felsen und tot der Gletscher. Da regte es sich im Steinkern des Felsens, und er wuchs. Es blühte in den Kristallen des Gletschers, und er begann zu wandern. Und der Gletscher und der Felsen führten Krieg miteinander.

»Das ist die Wahrheit,« sagte der weise Unmensch.

Ein Panther lauerte hinter einem Baume. Eine junge Antilope kam äsend heran. Der Panther maß die Entfernung zum Sprung. Er dachte an sein Weib, an seine Kinder und an den Ruhm. Dann kaufte er sich doppelte Kraft vom Tode, der hinter ihm stand, und sprang der Antilope auf den Nacken.

»Das ist die Wahrheit,« sagte der weise Unmensch.

Eine alte Frau saß am Spinnrocken und spann fleißig und lächelte. Nicht weit von ihr stand ein junges Weib am Herde, es war ihre Tochter. Sie tat Kartoffeln in den Topf. Sie war guter Dinge und hielt mit der freien Hand einen Säugling an die Brust. Der Säugling wollte wachsen wie ein Fels und blühen wie ein Kristall und wandern wie ein Gletscher und sich Kraft vom Tode kaufen, der hinter ihm stand. Denn Mutter und Großmutter hielt er schon für tot.

»Das ist die Wahrheit,« sagte der weise Unmensch.

Da kehrte der Prinz entsetzt in den Schneepalast der Wahrheit zurück. Im Vorhof traf er wieder das hübsche Dienstmädchen.

»Na?« fragte die einfach.

»Ich habe nur schreckliche Bilder der Wahrheit gesehen. Sie, mein Kind, sind hübscher.«

»Und man sagt doch,« rief lachend das Mädchen, ..ich sehe der Wahrheit ähnlich. Wahrhaftig!«

»Dann sollst du meine Frau werden,« rief der Prinz, »und nicht die unsichtbare Wahrheit.«

Sie wurden glücklich miteinander, aber er starb jung.


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