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Es war einmal ein strebsamer Bursche, ein angehender Weltverbesserer. Das wollte er aber erst später werden. Einstweilen und zur Vorbereitung war er Schornsteinfeger. Denn in der Enge und Dunkelheit des Rauchfangs hoffte er sich daran zu gewöhnen, einmal Weltverbesserer zu sein, und auch daran, von den Leuten für schwarz gehalten zu werden und sich doch selbst so weiß zu wissen wie die anderen.
Einst an einem Sonntag, als er sich also gewaschen hatte und weiß war auch vor den Menschen, ging er durch ein Nachbardorf spazieren und erblickte plötzlich ein fliehendes Bettelmädchen. Die Bauern, die Weiber sogar und die Kinder, waren mit Stöcken und Knütteln, mit Dreschflegeln und Heugabeln hinter ihr her; die Dorfhunde schnappten nach ihr. Es war nämlich die Wahrheit.
Über und über war sie mit Blut besudelt. Wie sie aber floh vor den Bauern und Hunden und dabei nicht eilig lief, sondern regungslos schwebte, da ward dem Schornsteinfeger weh ums Herz und sie erschien ihm blütenweiß unter ihren Blutflecken, wie auch er weiß war, wochentags unter seiner Rußhülle und Sonntags überhaupt.
Nun eilte auch er hinter dem Bettelmädchen her. Und weil er die Wahrheit nicht aus Haß verfolgte, vielmehr aus Liebe, darum kam er ihr immer näher.
An wüster Stelle, fern von den Wohnungen der Menschen, kam er ihr ganz nahe. Regungslos schwebend wie sie folgte er ihr und fragte, ob sie ihn nicht möge. »Ich?« antwortete das Mädel. »Ich gehöre dem, der mich liebt. Ich selbst liebe nicht. Mich aber will fast alle hundert Jahre einer, trotz meiner Wunden und trotz meiner Mutter.«
Das Mädel lächelte unter seinem weißen Haar wie unter Vollmondscheinen. Weiß war das Haar der Wahrheit freilich, als wäre sie viele tausend Jahre alt; doch ihr Antlitz leuchtete hell wie das eines glücklichen Kindes.
»Ich bin nicht, was ich scheine,« sagte der gute, verliebte Schornsteinfeger, »trotzdem ich heute weiß bin. Ich bin nämlich ein angehender Weltverbesserer. Könnten Sie sich nicht entschließen, einen solchen zu heiraten?«
»Heiraten? Das ist was anderes. Sprechen Sie mit meiner Mutter.«
Der Schornsteinfeger und die Wahrheit gingen also selbander nach der Hauptstadt. Dort wohnte hoch oben im fünften Stockwerk eines Riesenhauses, mitten im Treiben der Welt, die Mutter der Wahrheit. Auch die Mutter hatte weißes Haar und darunter ein leuchtendes Antlitz. Die Tochter sah ihr furchtbar ähnlich, nur daß Friede war in den Zügen der Wahrheit, was Unfrieden verriet in den Augen und um die Lippen der Mutter.
»Liebe Mama,« so stellte das Mädel vor, »das ist hier ein Schornsteinfeger, der später Weltverbesserer werden will. Und hier... meine Mutter, die Bosheit. Erschrecken Sie nur nicht! Es ist so, man hat es nur bisher nicht gewußt, daß die Bosheit die Mutter der Wahrheit ist.«
Der Schornsteinfeger erschrak dennoch und sprach zu sich selbst:
»Wie denn? Soll etwa die Bosheit in eigener Person meine Schwiegermutter werden? Wird die Wahrheit, meine Frau, nicht am Tage der Silberhochzeit ihrer Mutter gleichen, der Bosheit? Und werden meine Kinder nicht die Bosheit zur Großmutter kriegen?«
So zog sich der strebsame Bursche eilig von der Wahrheit zurück. Er wußte nicht, daß die friedsame Tochter der friedlosen Bosheit sich niemals ändert, nicht in tausend Jahren; und er wußte nicht, daß er mit der Wahrheit verwünscht gewesen wäre, kinderlos zu bleiben.
Der junge Schornsteinfeger brachte es niemals dazu, Weltverbesserer zu werden. Er blieb, was er war. Und als er endlich träge und dick geworden war, so daß er sein Gewerbe in den Rauchfängen nicht mehr ausüben konnte, da heiratete er schließlich verbissen und verbittert die Bosheit in eigener Person. Sie wurde seine Frau und wäre doch nur seine Schwiegermutter geworden, wenn er der Wahrheit treu geblieben wäre.