Fritz Mauthner
Aus dem Märchenbuch der Wahrheit
Fritz Mauthner

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Das Gewissen

Ein Mann hatte Tag und Nacht studiert, bis er die Glieder seines Leibes und ihren Gebrauch genau kannte. Da wurde er sehr unruhig, denn er erfuhr, daß auch die kleinste Bewegung von natürlichen Kräften geordnet sei und daß sein eigener Wille ganz und gar nichts dabei vermöge.

So lebte er eine Zeit hin und war recht ärgerlich. Denn er hätte gern sein Selbst kennen gelernt. Er schlug in einem dicken Buche nach und las, sein Selbst sei das Gewissen. Das Gewissen befehle den Gliedern des Leibes und auch seinen Blutstropfen und Hirnkügelchen jede Bewegung.

Der Mann ging zu seinem Gewissen und horchte aufmerksam zu, wie es herumkommandierte. Da vernahm er unaufhörlich: Dein Vater will, deine Mutter will, dein Land will, deine Stadt will, der Schutzmann will, der Kellner will, der Lehrer will, die Portiersfrau will, und so weiter, daß du das und das tust.

»Zum Donnerwetter!« rief der Mann. »Wo bleibe ich? Bin ich ein toter Käfer? Wo ist mein Selbst? Ich will auch was wollen!«

Das Gewissen, weil es nicht lächeln konnte, schwieg zum Zeichen der Heiterkeit.

»Du Narr,« sagte es dann. »Der Mensch kann nicht wollen, solange er lebt. Du kommst auch noch an die Reihe. Horch mal zu.«

Und der Mann mußte sein Ohr an das Herzchen seines kleinen Knaben legen. Da regte sich ein winziges Gewissen und lernte etwas auswendig: Der Vater will, die Mutter will, die Kindsfrau will, der Schutzmann will. Der Vater will...

»Siehst du, da kommst du an die Reihe. Du kannst ruhig sterben, nachher wird sich dein Selbst schon finden. Jetzt aber halt's Maul und geh in die Kirche. Die Stadt will's.«


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