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Wenn der Marseillaner Gelegenheit findet, über die Vorzüge und Schönheiten seiner Vaterstadt zu sprechen, so pflegt er zu sagen: »Wenn Paris eine Cannebière hätte, so wäre es ein kleines Marseille.« Dieser Vergleich ist übertrieben, doch gewiß nicht ohne Berechtigung. Die Cannebière ist die größte und, wenigstens früher, schönste Straße von Marseille, welche die ganze Stadt durchschneidet und auf den Hafen mündet. Der Bewohner der größten Stadt Südfrankreichs besitzt ein volles Recht, auf dieselbe stolz zu sein. Sie hat ein mildes, ein herrliches Klima, ägyptisch klare Nächte und trotz ihrer südlichen Lage eine Luft, welche von ewig gleicher Frische ist. Hier strömen alle Nationen der Erde zusammen, der zugeknöpfte, ernste Inglishman, der feurige Italiener, der smarte Yankee, der listige Grieche, der verschmitzte Armenier, der dickblütige Türke, der wortkarge Araber, der schmächtige Hindu, der zopftragende Chinese und der in allen Farben vom schmutzigen Dunkelbraun bis zum tiefsten Schwarz spielende Bewohner Innerafrikas.
In dem bunten Gemisch von Rassen, Farben, Trachten und Sprachen herrscht hier der orientalische Typus vor; er erteilt Marseille jenes asiatisch-afrikanische Gepräge, welches man in einer andern Hafenstadt Frankreichs vergebens suchen würde. Wer hinüber nach Algier oder Tanis will, der findet hier die beste Gelegenheit, sein Auge auf die Farben und sein Ohr auf die Klänge des andern Erdteiles vorzubereiten.
Was mich betrifft, so hatte ich noch vor kurzem nicht geahnt, daß ich mich so bald am Mittelmeere befinden würde. Mein Freund, der Kapitän Frick Turnerstick, welcher vielen meiner Leser als tüchtiger Seemann und universelles Sprachgenie bekannt sein wird, hatte mich durch folgendes aus Harwich an mich gerichtete Schreiben aus meiner häuslichen Ruhe gestört:
»Liewer Charley! Hier liegge ich vor Anker und werde heut übber quinze jours to weigh anchor, um nach Antwerpen zu seggeln und Euch dort bey Grootvader Leidekker abzuhohlen. Ich faahre übber Marseille ins Thunis und würdte Euch rundum verachten, wenn Ihr at home bliept und nicht would be willing, als meyn Gaßt an Bord zu mounten. Lebt wohl, und kommt! Ich expecte Euch mit security.
Your old Frick Turnerstick.«
Was sollte ich thun? Zu Hause bleiben und mich ›rundum verachten‹ lassen? Nein! Es war mir Herzensbedürfnis, den braven Gefährten wiederzusehen, und eine Fahrt nach Tunis und vielleicht noch weiter versprach so viel des Interessanten. Ich beschloß also, der Einladung zu folgen, packte meine Sachen und traf noch vor der angegebenen Zeit in Antwerpen ein. Dort brauchte ich zwei Tage, um den ›Grootvader Leidekker‹ zu erfragen. Er wohnte im nahen Burgerhout und war der Besitzer eines kleinen aber altrenommierten Gasthauses, in welchem meist nur Seekapitäns zu verkehren pflegten. Am dritten Tage traf Turnerstick dort ein. Seine Freude darüber, daß ich seinen Wunsch erfüllt hatte, war ebenso groß wie aufrichtig; es wurde in Eile ein Willkommen getrunken, und dann zog er mich fort, um mir sein neues Barkschiff ›the courser‹ zu zeigen. Er hatte es sich nach seinen eigenen Angaben auf dem weltberühmten Klipperplatze von Baltimore bauen lassen und floß des Lobes über, indem er es als den schnellsten Segler der Handelsmarinen aller Nationen bezeichnete. Die Ladung bestand in Waffen und englischen Web- und Eisenwaren, mit denen er in Tunis ein gutes Geschäft zu machen gedachte. In Antwerpen wollte er noch Spitzen, Zwirn und Gold- und Silbertressen aufnehmen, Artikel, welche von den Mauren und Berbern stets gesucht werden. in Marseille sollten Seidenzeuge, Gerbereiartikel, Bijouterien, Quincaillerien, Seifen und Kerzen dazu kommen. Die schon vorher bestellte Fracht war bald an Bord genommen; dann ging es die Wester-Schelde hinab, in die Nordsee hinein und dem Kanale entgegen.
Turnerstick hatte seinen ›Courser‹ mit vollstem Rechte gelobt. Die Bark war im Verhältnisse von 1 zu 8 gebaut und zeigte Linien, welche die Bewunderung jedes Sachverständigen erregen mußten. Der Bau des Schiffes bekundete die Geschicklichkeit des Architekten; die Ausrüstung und Einrichtung war bei aller Zweckmäßigkeit so nett, so gefällig, daß der Kapitän wohl stolz darauf sein konnte, der Schöpfer derselben zu sein. Wir hatten ununterbrochen guten Wind, machten eine außerordentlich schnelle Fahrt und legten zwei volle Tage früher, als Turnerstick vorhergesagt hatte, am Port de la Joliette von Marseille an.
Während der Kapitän sich hier zunächst seinen Pflichten zu widmen hatte, wanderte ich in der Stadt umher, um die Sehenswürdigkeiten derselben in Augenschein zu nehmen, die neue, prächtige Kathedrale, die gotische Michaeliskirche, das Hotel-Dieu und vor allen Dingen die reichhaltige Bibliothek, welche sich in dem herrlichen Gebäude der Ecole des beaux Arts befindet. Dann, als Turnerstick Zeit gewonnen hatte, besuchten wir miteinander denjenigen Ort, für welchen er sich am meisten interessierte, nämlich den zoologischen Garten, welcher hinter dem prächtigsten Bauwerke Marseilles, dem Château d'Eau oder Palais de Longchamp, liegt.
Als wir denselben in seiner ganzen Länge und Breite durchschritten und alle Abteilungen in Augenschein genommen hatten, fühlten wir uns ermüdet und suchten eine Bank, um uns auszuruhen. Wir fanden eine solche unter einer Platane, welche sich an der schmalen Zunge eines dichten, länglichen Bosquets erhob. An der andern Seite desselben erhob sich über den Zweigen des niedrigen Gebüsches ein hölzernes Kreuz mit dem Bilde des Heilandes. Die Inschrift einer daran befestigten Tafel sagte, daß an dieser Stelle einer der Wärter von einem ausgebrochenen Panther zerrissen worden sei; hieran war die Bitte geschlossen, für den Verunglückten zu beten. Wir kamen entblößten Hauptes derselben nach und nahmen dann jenseits des Buschwerkes auf der Bank Platz.
Da wir nicht Sonn, sondern Wochentag hatten, so war der Besuch des Gartens kein bedeutender, und es kam nur selten jemand an dieser abgelegenen Stelle vorüber. Turnerstick erzählte mir seine neueren Erlebnisse und machte nur einmal eine längere Pause, als er mir eine Cigarre gab und auch sich eine nahm. Während wir dieselben ansteckten, hörten wir infolge der eingetretenen Stille deutlich die Schritte zweier Personen, welche sich hinter dem Gebüsche näherten und bei dem Kruzifixe stehen blieben.
»Allah vernichte dieses Land!« hörte ich den einen in arabischer Sprache sagen. »Ueberall stehen diese Götzenbilder, welche dem wahren Gläubigen ein Greuel sind, und vor denen diese Christenhunde die Würde ihrer Häupter entweihen.«
»Vergiß nicht, daß ich auch ein Christ bin!« antwortete der andere in derselben Sprache, aber so gebrochen, daß zu vermuten stand, er sei gewöhnt, sich der Lingua franca zu bedienen.
»O,« lautete die Entgegnung, »du besitzest Klugheit genug, diese Abgötterei für verderblich zu halten. Du bist ein Rumi und magst von dem Baba nichts wissen, welcher in Roma auf seinem falschen Throne sitzt. Die Lehre des Propheten ist die allein richtige. Er hat alles Bildwerk verboten, und wohin der Islam gedrungen ist, hat er die Bilder und Figuren verbrannt und ausgerottet. Kannst du mir sagen, was unter diesem Kreuze zu lesen steht?«
»Ja. Ein Panther ist aus dem Käfig gebrochen und hat hier an dieser Stelle einen Beamten des Gartens zerrissen. Darum hat man dieses Kreuz errichtet, damit man für den Toten bete.«
Der Sprecher hatte, obgleich ein Christ, diese Erklärung in lachendem Tone gegeben. Der Moslem meinte in verächtlichem Tone:
»O Allah, was für Dummköpfe diese Christen sind! Sie verdienen, angespieen zu werden. Hat euer Christ den Mann retten können? Nein! Und nachdem derselbe zerrissen worden ist, setzt man ein Kreuz hierher. Das Gebet kommt zu spät; was kann es nützen!«
»Es ist für das Heil seiner Seele.«
»Laß dich nicht auslachen! Für die Seele eines toten Christen giebt es kein Heil, denn alle Anhänger dieser Götzendienerei müssen in die Hölle wandern. Wäre ich an der Stelle des Getöteten gewesen, so hätte ich den Namen des Propheten angerufen, und der Panther wäre voller Schreck entwichen. Vor dem Gebete eines Christen aber fürchtet sich keine Katze. Wie machtlos euer Jesus mit samt euern Kreuzen ist, werde ich dir sofort zeigen. Ich will sehen, ob er mich straft, wenn ihm das, was ich jetzt thue, nicht gefällt.«
Er stieß noch einige Lästerungen aus, welche ganz unmöglich zu Papier zu bringen sind, und dabei hörte ich ein Prasseln und Knacken, daß ich annahm, er wolle das Kreuz umstürzen. ich wollte aufspringen, um ihn zu hindern; aber Turnerstick, welcher die Worte nicht verstanden hatte, hielt mich zurück, um eine leise Erklärung derselben zu erhalten. Ich gab sie ihm kurz und schnell und erhob mich dann, aber zu spät; der in der Erde steckende Teil des Schaftes war angefault; er zerbrach, und das starke und wohl fünf Ellen hohe Kruzifix stürzte derart nach unserer Seite herüber, daß es den Kapitän am Kopfe traf. Dieser stieß einen Schrei des Schmerzes und des Aergers aus, sprang auf und folgte mir schnell um die Ecke des Bosquets nach der andern Seite, wo die beiden Männer standen.
In dem einen erkannte ich infolge seiner Habichtsnase und anderweiten Gesichtsbildung sofort den Armenier. Er trug eine Schaffellmütze, kurze Jacke, weite Hosen und hohe Schaftstiefel; im Gürtel hatte er ein Messer stecken. Der andere war, wie es schien, ein Beduine. Ich schätzte sein Alter gegen fünfzig Jahre. Die lange, starkknochige Gestalt war in einen weißen Burnus gehüllt. Auf dem Kopfe saß der rote Fez, um welchen ein Turbantuch von derselben Farbe gewickelt war. Das hagere Gesicht war dasjenige eines starr und blind gläubigen Mohammedaners. Er zeigte sich über unser Erscheinen gar nicht etwa erschrocken, sondern blickte uns mit seinen dunkeln, stechenden Augen beinahe höhnisch entgegen.
»Was fällt Euch ein!« rief der zornige Kapitän in seinem amerikanischen Englisch. »Wie könnt Ihr es wagen, dieses Kreuz um- und auf mich zu werfen!«
»Was will dieser Mann?« fragte der Moslem, indem er sich an seinen Begleiter wendete, welchen er wohl als Dolmetscher bei sich hatte. An Stelle desselben antwortete ich:
»Du hast soeben etwas gethan, was hierzulande streng bestraft wird. Du hast das Bild des Gekreuzigten geschändet, und wenn wir dich bei der Obrigkeit anklagen, wird man dich in das Gefängnis werfen.«
Er maß mich mit einem vernichtend sein sollenden Blicke vom Kopfe bis zu den Füßen und fragte.
»Wer bist du, daß du es wagst, in dieser Weise mit mir zu sprechen?«
»Ein Christ bin ich, und als solcher habe ich die Verpflichtung, eine That, wie die deinige ist, dem Richter anzuzeigen.«
»Ein Christ bist du? Und doch sprichst du die Sprache der Gläubigen wie ein echter Moslem? Dann gleichest du der Schlange, deren Zunge zwei Spitzen hat und giftig ist. Du kennst mich nicht und wirst auch nie die Gnade erfahren, daß mein Name an deine Ohren klingt; aber ich sage dir so viel, daß ich ein Mann bin, welcher gewohnt ist, verächtlich auszuspucken, wenn ein räudiger Christenhund ihn anbellt.«
Er spuckte dreimal vor mir aus, und zwar so, daß er mich beim dritten Male traf. Nun, ich bin ein sehr ruhiger Mensch und pflege mich nicht vom Zorne fortreißen zu lassen; wenn ich einer Beleidigung eine ebenso schnelle, wie kräftige Antwort folgen lasse, so geschieht dies nicht in jäher Aufregung, sondern aus Selbstachtung. Hier nun war nicht bloß ich beleidigt, sondern der Mann hatte das Heiligste, was ein Christ in sich trägt, verhöhnt, und die Art und Weise seines Angriffes ließ keine feine Abwehr, etwa in zierlich gesetzten Worten, zu. Kaum hatte sein Geifer meinen Rock berührt, so saß ihm meine Faust im Gesichte, und er stürzte zu Boden. Er raffte sich schnell auf und griff nach mir, doch schnell hatte Turnerstick ihn beim Nacken, drückte ihn wieder nieder und rief mir zu:
»Charley, holt Polizei! Ich beschlagseisinge indessen dem Kerl die Segel so fest, daß er binnen einer Stunde nicht um einen halben Zoll vorwärts kommen soll.«
Der Dolmetscher war so perplex, daß er sich nicht rührte. Ich zauderte, der Mahnung des Kapitäns Folge zu leisten. Vielleicht hätte ich den Moslem mit der bisherigen Lehre entkommen lassen; aber da näherte sich, gerade wie gerufen, ein Gartenintendant, welcher, als er die ungewöhnliche Gruppe bemerkte, rasch herbeikam und sich nach der Veranlassung erkundigte. Indem Turnerstick mit seinen Seemannsfäusten den Uebelthäter noch immer fest am Boden hielt, erzählte ich, was geschehen war. Der Dolmetscher versuchte, zu beschönigen, hatte aber angesichts des umgestürzten Kreuzes keinen Erfolg. Das Ergebnis war, daß wir dem Beamten zum Direktor folgen mußten. Dieser nahm meine und des Kapitäns Aussage entgegen und entließ uns dankend; die beiden andern behielt er bei sich, um sie, wie er sagte, streng zu bestrafen.
Wir befanden uns in der Nähe des Ausganges des Gartens, wo es ein Restaurant gab. Dort setzten wir uns im Freien an einen leeren Tisch, um ein Glas Wein zu trinken. Nach ungefähr einer Viertelstunde sahen wir zu unserem Erstaunen die beiden Schuldigen kommen, frei, mit dem Ausdrucke der Befriedigung in den Gesichtern. Sie erblickten uns. Der Muselmann kam herbei, blieb, doch in vorsichtiger Entfernung, vor mir stehen und zischte mich grimmig an:
»Zwanzig Franken Strafe, die schenke ich Frankreich gern; dir aber ist nichts geschenkt! Du hast einen Moslem geschlagen, und kein christliches Kreuz soll dich vor meiner Rache schützen!«
Ich that, als ob er gar nicht vorhanden sei, und er entfernte sich in stolzer Haltung und mit so würdevollen Schritten, als ob er als Sieger aus dem Konflikte hervorgegangen sei. Als ich Turnerstick die Drohung übersetzt hatte, meinte er:
»Hätte er das mir gesagt, so hätte ich ihn auf der Stelle niedergesegelt. Nun dampft er, stolz wie eine Panzerfregatte, von dannen, und meint wunder, wie wir uns vor ihm fürchten!«
»Nun, Furcht fühle ich nicht; aber vorsichtig müssen wir sein. Wir befinden uns zwar nicht in einem arabischen Duar, sondern hier in Marseille, doch so einem Beduinen ist es zuzutrauen, daß er in seinem Grimme darauf keine Rücksicht nimmt. Nach seiner Anschauung ist ein Faustschlag in das Gesicht nur mit Blut abzuwaschen.«
Nach kurzer Zeit brachen wir auf, um uns nach dem Hafen und auf das Schiff zu begeben. Da sahen wir unsere beiden Feinde in einem Durchgange stehen. Sie ließen uns vorüber und folgten uns dann. Wir machten verschiedene Schwenkungen und Umwege, doch es gelang uns nicht, sie von unserer Spur abzubringen. Sie sollten unsern Aufenthalt nicht erfahren. Turnerstick schlug als Mittel zu diesem Zwecke vor, nach Schloß lf zu rudern. Er hatte zur See in unbeschäftigten Stunden den ›Grafen von Monte Christo‹ von Dumas gelesen und wünschte das unterirdische Gefängnis des Helden dieses Romanes zu sehen. Es befindet sich auf Schloß If und wird jedermann gegen ein geringes Entgelt gezeigt. Ich mag Dumas' Romane nicht, aber da sich dort auch das Zimmer befindet, in welchem Mirabeau im Jahre 1774 gefangen saß, so willigte ich ein. Wir nahmen also ein kleines Boot, um den Vorschlag des Kapitäns auszuführen und dadurch die beiden Verfolger von uns abzubringen.
Turnerstick interessierte sich so für seinen unmöglichen Grafen von Monte Christo, daß er nur schwer aus dem angeblichen Kerker desselben fortzubringen war. Und der Mann, welcher uns das Loch zeigte, wußte so viel zu erzählen, daß es fast dunkel geworden war, als wir wieder von der Insel du château d'lf abstießen. Der Kapitän führte das Steuer; der Besitzer des Bootes und ich, wir ruderten.
Zu bemerken ist, daß die Insel lf zwei Kilometer von der Küste liegt, die Entfernung bis zu unserm Schiffe im Port de la Joliette aber das doppelte betrug. In der Stadt brannten schon die Laternen; wir sahen ein weitgestrecktes Lichtmeer vor uns liegen. Die See war ruhig; es war die Zeit zwischen Ebbe und Flut; dennoch war in unserer Nähe kein Boot zu sehen. Aber bald brummte der Kapitän:
»Warum weicht uns der Kerl nicht aus? Er liegt in unserm Kurse und rührt sich nicht von der Stelle.«
Er, der vorwärts gerichtet Saß, mußte also ein Boot vor uns gesehen haben. Wir beiden andern saßen rückwärts. Er legte das Steuer etwas Über, um vorbei zu kommen, rief aber schon nach wenigen Ruderstrichen dem andern Boote zornig zu.
»Was ist das? Bist du blind? Halte dich mehr backbord, sonst rennen wir zusammen!«
Jetzt schaute ich mich um. Ich sah ein Boot kleinster Größe, in welchem nur ein Mann saß; er war dunkel gekleidet. Wir kamen so dicht an ihm vorbei, daß ich sein Boot hätte mit der Hand erlangen können. Als er sich weit herüber bog, glaubte ich das Gesicht des Muselmannes zu erkennen; aber dieser hatte ja einen weißen Burnus angehabt! Er lenkte nun schnell um und ruderte uns aus Leibeskräften nach. Das war höchst verdächtig. Warum hatte er wie wartend auf unserem Kurse gehalten und sich dann so weit nach uns über Bord gebogen? Hatte er etwa sehen wollen, wo ich saß? jetzt hatte er uns erreicht. Er zog das rechte Ruder ein, griff neben sich nieder und hob dann den Arm, um denselben grad gegen mich zu richten. Ich warf mich blitzschnell von meinem Sitze auf den Boden des Bootes, und da krachte auch schon ein Schuß, welchem augenblicklich ein zweiter folgte.
»Holla, was ist das!« rief Turnerstick. »Hier wird geschossen?«
»Der Moslem ist's,« antwortete ich. »Nehmen wir ihn fest! Er hat zwei Schüsse abgegeben und also keine Kugel mehr.«
»Well! Werden dafür sorgen, daß er überhaupt nicht mehr schießt. Legt euch ins Zeug; alle Kraft aufs Ruder!«
Dadurch, daß ich mich niedergeworfen und also die Riemen losgelassen hatte, waren wir aus der Fahrt gekommen und hatten halb gewendet; ich sah, daß der Attentäter sich außerordentlich ins Zeug legte, um davon zu kommen. Unser Bootsmann war infolge der Schüsse vor Schreck sprach- und bewegungslos gewesen; jetzt aber arbeitete er, als gelte es, einem Teifun zu entgehen. Ich strengte mich ebenso an, und so schoß unser Fahrzeug dem Flüchtigen pfeilschnell nach. Ich konnte den letzteren, eben weil ich rückwärts saß, nicht sehen, doch bemerkte ich so viel, daß Turnerstick nicht in gerader Richtung steuerte, sondern einen Bogen beschrieb.
»Rudert der Mensch denn im Kreise?« fragte ich ihn. »Oder macht Ihr aus irgend einem Grunde einen Umweg?«
»Werdet den Grund gleich sehen, hören und auch fühlen,« antwortete er. »Arbeitet nur so weiter; seht euch nicht um, und fallt nicht von den Bänken!«
»Von den Bänken? Also ein Zusammenstoß? Ihr wollt ihn in die See werfen? Soll er ertrinken? Das dulde ich auf keinen – –«
Ich kam nicht weiter, denn der Kapitän unterbrach mich, indem er das Steuer noch fester in die Hand nahm und dem Boote eine kurze Wendung gab.
»Hallo! Nicht muxen, sondern rudern! Wir haben ihn. Drauf, drauf!«
»Allah kerihm, Allah kerihm!« erklang vor uns die Stimme des Verfolgten.
Er wollte ein drittes Allah rufen, doch gab es in demselben Augenblicke einen Krach, und unser Boot hob sich vorn, so daß wir beinahe von unsern Sitzen fielen.
»Ruder einziehen!« kommandierte Turnerstick. »Und aufpassen, wenn sein Kopf erscheint!«
Er hatte seinen Zweck erreicht; wir waren dem Boote des Muselmannes in die Seite gefahren und hatten es umgestürzt; es schwamm kieloben neben dem unsrigen. Wir paßten auf, wo der in das Wasser Gestürzte erscheinen werde – vergeblich. Einmal war es mir, als ob in der Ferne ein runder Gegenstand, wie ein Menschenkopf, auf der Oberfläche erscheine, aber das mußte eine Täuschung sein. So weit von der Unglücksstelle konnte nur ein ausgezeichneter Schwimmer sich, ohne Atem zu holen, unter dem Wasser entfernen.
»Vielleicht steckt er unter seinem Boote,« meinte Turnerstick. »Wollen es umwenden.«
Wir brachten dies unschwer fertig. Der Verschwundene war nicht zu sehen; aber sein Obergewand, welches er abgelegt gehabt hatte, war an der Riemengabel hängen geblieben; als wir es untersuchten, sahen wir, daß es ein weißer Burnus war. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr, daß wir es wirklich mit dem Moslem zu thun gehabt hatten. Er war uns gefolgt und hatte beobachtet, daß wir nach dem Schlosse lf gefahren waren. Dies hatte ihn auf den Gedanken gebracht, uns während der Rückfahrt aufzulauern und mir eine Kugel zu geben. Um dabei keinen Zeugen zu haben, hatte er den Dolmetscher nicht mitgenommen. Da er auf ein Mißlingen gefaßt gewesen sein mußte, so ließ sich mit Bestimmtheit sagen, daß er nicht nur ein verwegener Mensch, sondern auch ein sehr guter Schwimmer sei. Vielleicht war der runde Gegenstand, den ich gesehen hatte, doch sein Kopf gewesen.
Wir blieben wohl eine halbe Stunde auf derselben Stelle. Wir ruderten hin und her, ohne eine Spur von ihm zu finden. Ich hatte gesehen, daß sein Kopf unbedeckt gewesen war. Wo hatte der Mann seinen Turban gelassen? jedenfalls hatte derselbe mit dem Burnus im Boote gelegen und war untergesunken. Mit diesem Ausgange des Abenteuers unzufrieden, konnte ich gegen Turnerstick den Vorwurf nicht unterdrücken:
»Warum mußtet Ihr ihn anrammen? Gab es denn keine andere Weise, sich seiner zu bemächtigen?«
»O doch! Aber wer Pistolen bei sich führt, der hat wahrscheinlich auch ein Messer. Hätten wir nach ihm gegriffen, so wäre er im stande gewesen, nach uns zu stechen. Warf ich ihn aber in das Wasser, so mußte er froh sein, durch unsere Hände herausgezogen zu werden.«
»Wir brauchten sein Messer nicht zu fürchten. Wäre er von uns an das Ufer getrieben worden, so hätte es dort Polizei und auch sonst Hunderte von Händen gegeben, um ihn festzuhalten.«
»Das ist richtig; daran habe ich nicht gedacht. Vielleicht bin ich zum Mörder geworden. Das ist keineswegs ein angenehmes Gefühl. Aber wenn ich bedenke, daß er Euch Rache geschworen und dann auf Euch geschossen hat, so meine ich, daß ich mir keine schweren Vorwürfe zu machen brauche. Der Kerl ist in seine eigne Grube gefallen und drin ertrunken.«
»Messieurs,« ließ sich jetzt der Bootsmann vernehmen, »es ist am besten, wir gehen ans Land und begraben diese Angelegenheit in tiefes Schweigen. Das ist der Rat, den ich Ihnen, auch um meinetwillen, geben muß.«
Er hatte recht, und wir führten seinen Vorschlag aus. Als wir dann den Port de la Joliette erreichten und die Reihe der hier nebeneinander liegenden Schiffe passierten, kamen wir an einer Brigg vorüber, an deren Seite das Fallreep niederhing. Daran stieg soeben ein langer, barhäuptiger Mann empor, dessen dunkle Hose und Jacke sich vor Nässe eng an seinen Leib gelegt hatten.
»Sollte das unser Mann sein?« fragte Turnerstick. »Ich habe diese Brigg gestern betrachtet; sie hat zwei Namen, nämlich einen französischen, ›Le vent,‹ und einen, den ich wegen der fremden Schrift nicht lesen konnte. Morgen früh wollen wir uns einmal genauer unterrichten.«
Aber am andern Morgen war die Brigg in See gegangen. Wir erkundigten uns und erfuhren, daß sie ein tunesisches Schiff sei. Die fremde Schrift hatte arabisch ›EI Hawa‹ gelautet, was ganz dasselbe wie das französische ›Le vent‹, nämlich ›der Wind‹ bedeutet. – –