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Einige Zeit nach den Ereignissen bei Vater Pirnero saß der alte, brave Haziendero Pedro Arbellez in einer Stube am Fenster und blickte hinaus in die Ebene, auf der seine Herden wieder ruhig weiden konnten, da die kriegerische Bewegung sich nach Süden gezogen hatte.
Arbellez sah wohl aus. Er hatte sich vollständig wieder erholt; doch lag auf seinem Gesicht ein schwermütiger Ernst, der ein Widerschein der Stimmung seiner Tochter war, die sich unglücklich fühlte, weil sie den Geliebten verloren hatte.
Da sah Arbellez eine Anzahl Reiter von Norden her sich nähern. Voran ritten zwei Männer und eine Dame, und hinter diesen folgten etwa ein Dutzend Packpferde, die von drei Männern getrieben wurden.
»Wer mag das sein?« meinte Arbellez zu der alten Marie Hermoyes, die sich bei ihm befand.
»Wir werden es ja sehen«, meinte diese, nun auch hinaus nach der Ebene blickend. »Diese Leute kommen gerade auf die Hazienda zu und werden also wohl hier einkehren.«
Die Reiter, in solche Nähe gekommen, spornten ihre Tiere zu größerer Eile an und ritten bald durch das Tor in den Hof. Man denke sich das Erstaunen des Haziendero, als er Pirnero erkannte, und die Freude Emmas, als sie Resedilla und den Schwarzen Gerard erblickte, den sie ja von dem Fort Guadeloupe her kannte.
Es gab auf der Hazienda eine Aufregung, die sich nur langsam wieder legte, und ein Erzählen und Berichten, das kein Ende nehmen wollte.
Nur einer blieb sich gleich, ohne sich aufregen zu lassen, der Schwarze Gerard nämlich. Kaum war er dem Haziendero vorgestellt worden, so litt es ihn nicht länger in dem Zimmer; er ging hinaus ins Freie. Vor der Tür trat ihm der Doktor Berthold entgegen, der sich mit Doktor Willmann nebst Pepi und Zilli noch auf der Hazienda befand.
»Ah, welche Überraschung!« rief der Arzt »Monsieur Mason. Sie sind also gesund und wohl?« – »Gott sei Dank, ja«, antwortete der Gefragte. »Ich bin mit Pirnero und Resedilla soeben erst hier angekommen.« – »Die beiden sind da?« fragte der Arzt erstaunt. – »Ja.« – »In welcher Angelegenheit?« – »Hm! Ich will es eine Besuchsreise nennen. Pirnero ist ja mit Arbellez verwandt. Da oben gibt es nun eine Menge Szenen, eine Aufregung, ein Fragen und Horchen, daß ich förmlich geflohen bin. Aber, Monsieur, von unseren Bekannten ist ja kein Mensch zu sehen!« – »Wen meinen Sie?« – »Sternau.« – »Ah, der ist verschwunden.« – »Verschwunden? Was soll das heißen? Er ist verreist?« – »Nein. Er ist verschwunden, es muß ihm ein Unfall begegnet sein; das will ich mit diesem Wort sagen. – »So will ich hoffen, daß Sie sich irren.« – »Leider irre ich mich nicht. Sternau ist fort, und die anderen mit ihm, ohne daß wir wissen, wo sie sich befinden.« – »Die anderen? Wen meinen Sie?«
Der Arzt zählte ihm die Namen her.
»Tod und Teufel!« rief Gerard. »Das klingt ja grausig. Kommen Sie, kommen Sie, Monsieur! Wir gehen in den Garten, wo Sie mir alles erzählen werden.«
Der Arzt tat Gerard den Willen und berichtete, was geschehen war, von der Ankunft Donnerpfeils bis zum rätselhaften Verschwinden des alten Grafen.
Gerard hatte zugehört, ohne ein Wort dazu zu sagen. Als der Arzt aber geendet hatte, fragte er:
»Hat man nicht nach dem Grafen geforscht?« – »Natürlich hat man dies getan.« – »Mit welchem Erfolg?« – »Ohne jeden Erfolg.« – »Unmöglich! Hat man keine Spuren entdeckt?« – »Keine!« – »Aber man muß doch irgend etwas gesehen haben – die Tapsen von Menschen und Pferden.« – »Ach! Wer gibt darauf acht!« – »Aber der Graf kann doch nicht zum Fenster hinausgestiegen sein.« – »Man fand sein Fenster verschlossen!« – »Aber die Tür geöffnet?« – »Ja, wie ich glaube.« – »Sonderbar. War denn nicht ein guter Jäger in der Nähe, der die Umgebung hätte absuchen können?« – »Nein. Übrigens war die allgemeine Bestürzung außerordentlich. Jeder war auf das heftigste erschrocken und tat, was er nach seiner Weise für richtig hielt.« – »Hatten sich am Tag vorher nicht verdächtige Leute blicken lassen?« – »Nein.« – »War kein Besuch auf der Hazienda?« – »O doch!« – »Wer war es?« – »Der Sohn des Alkalden, der von Señor Mariano an den Grafen geschickt wurde.« – »Ah, da scheint es licht zu werden.« – »O nein, es wird vielmehr noch dunkler.« – »Wieso?« – »Dieser Bote ist uns auch ein Rätsel gewesen.« – »Das glaube ich«, meinte der Schwarze Gerard in fast mitleidigem Ton. »Was sollte er beim Grafen?« – »Señor Mariano schickte ihn, um sagen zu lassen, daß Josefa gefangen sei und man Pablo Cortejo auch baldigst festnehmen werde.« – »Wer war der Mann?« – »Er sagte, daß er der Sohn des Richters aus Sombrereto sei.« – »Und Ihr habt das geglaubt?« – »Natürlich. Er legitimierte sich ja mit dem Ring von Señor Mariano, den er mitbrachte.« – »Und den er wieder mitnahm?« – »Nein. Don Ferdinando hat ihn behalten. Der Ring ist Hunderttausende wert. Ihr seht also, daß der Mann ehrlich war.« – »Wann ging er wieder fort?« – »Am anderen Morgen.« – »Wer war bei ihm?« – »Kein Mensch. Ich habe ihn fortreiten sehen, es war am hellen Tag.« – »Hm!« brummte der Jäger nachdenklich. »Erlauben Sie! Verzeihen Sie! Das ist eine Sache, die sich keine Sekunde aufschieben läßt.«
Gerard drehte sich rasch um und eilte nach dem Haus zurück.
Dort weilten alle im Empfangszimmer. Pirnero und Resedilla hatten erwartet, Sternau und dessen Freunde auf der Hazienda zu sehen oder wenigstens gute Nachricht über sie zu erhalten. Es war leicht erklärlich, daß beide nach ihnen fragten, und so kam es, daß auch hier im Empfangszimmer dasselbe Thema verhandelt wurde, wie unten im Garten zwischen dem Arzt und Gerard.
Der alte Haziendero hatte eben von dem rätselhaften Verschwinden des Grafen erzählt, und alle hatten seinem Bericht gelauscht, als Gerard eintrat. Er hörte noch die Worte Pedros, der mit der Bemerkung schloß, daß der leibhaftige Teufel hierbei seine Hände im Spiel gehabt haben müsse.
Einige der Hörer schlossen sich diesem Urteil an, keiner aber kam auf den Gedanken, der allein der richtige war. Pirnero meinte sogar zu dem Haziendero:
»Also ihr habt noch nicht entdeckt, wohin der Graf verschwunden ist?« – »Nein. Es wird wohl auch niemand entdecken.« – »Oh, da dürftest du dich irren.« – »Wieso?« – »Weißt du, was ein Diplomat ist?« – »Ja.« – »Und ein Politiker?« – »Ja.« – »Nun also! Vor einem Diplomaten und Politiker bleibt nichts verborgen. Auch diese Sache wird bald an den Tag kommen.« – »Du meinst durch einen Politiker?« fragte Arbellez. – »Ja«, antwortete Pirnero in stolzem Ton. – »Wer sollte das sein?« – »Hm! Ahnst du das nicht?« – »Nicht im geringsten.« – »So bist du eben nicht das, was man einen Diplomaten nennt. Als Juarez bei uns in Fort Guadeloupe war, habe ich ihm höchst wichtige Ratschläge erteilt, er hat sie befolgt und gewinnt nun Schlacht auf Schlacht und Sieg auf Sieg.«
Arbellez machte ein sehr erstauntes Gesicht und sagte:
»Ah, meinst du etwa, aß du selbst...«
Er vollendete den Satz nicht, weil er die Gaben und Eigentümlichkeiten seines Schwagers sehr gut kannte.
»Was denn? So rede doch weiter! Daß ich selbst ...« – »Daß du selbst ein Politiker seiest?« – »Ja, dieses meine ich. Oder glaubst du das nicht?« – »Hm! Es müßte bewiesen werden.« – »Oho! Während der Anwesenheit Juarez' war ich nahe daran, Gouverneur einer der nördlichsten Provinzen zu werden.« – »Oho!« wiederholte Arbellez denselben Ausruf. – »Ja. Und ich bin auf dem Weg, mexikanischer Oberst zu werden.« – »Was du sagst!« – »Ja. Ich habe euch erzählt, daß ich alles verkauft habe. Ich bin frei und mein eigener Herr. Wir drei, ich, Resedilla und ihr Verlobter, werden große Vergnügungsreisen machen und uns dann in einer Residenz niederlassen, London, Paris oder Pirna. Das kann ich nur im Charakter eines bedeutenden Mannes tun, und darum will ich Oberst werden. Bin ich nicht ein Politiker?« – »Allerdings, nämlich, wenn wirklich alles so ist, wie du sagst.« – »Natürlich.« – »Und so meinst du also, daß du auch unser gegenwärtiges Rätsel lösen wirst?« – »Das versteht sich von selbst. Wer dem Präsidenten Ratschläge erteilt und nun Oberst werden will, dem wird es doch wohl gelingen, den Grafen Rodriganda aufzufinden.« – »Aber wie willst du das anfangen?« – »Da ich es eben erst erfahren habe, so hatte ich noch keine Zeit, es mir zu überlegen, werde aber schleunigst darüber nachdenken, lieber Schwager.«
Da fiel Gerard ein:
»Das ist nicht nur unnötig, sondern sogar schädlich.« – »Wieso?« – »Unnötig, weil derjenige, der nicht sofort auf das Richtige kommt, es auch durch das schärfste Nachdenken nicht finden wird. Und schädlich, weil man durch das Nachsinnen viele kostbare Zeit verlieren würde, während der man zu handeln hat.« – »Ah, mein Junge, willst du etwa der Politiker sein, der hier gebraucht wird?« – »Ja. Ich bin überzeugt, daß ein echter, findiger Prärieläufer dazu gehört, das gutzumachen, was hier unterlassen worden ist.« – »Unterlassen?« fragte Arbellez. »Ich bin überzeugt, daß wir alles getan haben, was notwendig war, Aufklärung zu erhalten.« – »So? Nun, was habt Ihr denn getan?« – »Nun – hm, alles!« antwortete Arbellez, einigermaßen verlegen. – »Ah, ich sehe, wie es steht. Habt Ihr den Boden unter dem Fenster des Grafen untersucht?« – »Nein. Wozu wäre das nötig gewesen?« – »Der Graf wurde durch das Fenster entführt.« – »Unmöglich.« – »Warum unmöglich?« – »Weil das Fenster von innen verschlossen war.« – »Ja«, meinte Gerard mit einem überlegenen Lächeln. »Es gehört eben ein Jäger dazu, alles zu begreifen und sich alles zusammenzureimen. Wo liegt das Zimmer, in dem der Graf damals schlief?« – »Gleich nebenan.«
Gerard trat an eines der Fenster und untersuchte dasselbe.
»Eure Fenster sind sehr alt. Die Rahmen beginnen zu verwittern. Ist das mit dem Fenster in dem betreffenden Zimmer vielleicht ebenso?« – »Es ist ebenso alt wie diese hier.« – »Das höre ich gern. Wohin führt es?« – »Nach dem Hof.« – »Ist die Stelle des Hofes, die unter demselben liegt, viel betreten?« – »Gar nicht. Es liegen seit einigen Jahren Bausteine und einige Baumstämme da, die ich zur Ausbesserung des Stalles benutzen wollte, aber noch nicht benutzt habe.« – »Ist zwischen diesen Stämmen und Steinen und der Mauer Raum?« – »Ja.« – »Wieviel?« – »Drei Fuß ungefähr.« – »Und niemand kommt dorthin?« – »Kein Mensch.« – »Gut Ihr hättet dort suchen lassen sollen. Spuren nach monatelanger Zeit zu finden, ist nicht wahrscheinlich, aber ich will wenigstens nicht versäumen, nachzusehen. Führt mich doch einmal nach dem Zimmer!«
Gerards sicheres, bestimmtes Auftreten machte Eindruck. Voll der gespanntesten Erwartung begaben sich alle nach dem erwähnten Zimmer, wo Gerard sofort zum Fenster trat, um es zu öffnen und zu untersuchen. Sie folgten jeder seiner Bewegungen mit der größten Aufmerksamkeit. Es waren auch kaum drei Augenblicke vergangen, so zeigte es sich, daß er der richtige Mann sei, zu finden, was er suchte. Er wandte sich zu Arbellez:
»Habt Ihr irgend jemand im Verdacht gehabt, Señor?« – »Nein«, antwortete der Gefragte. – »Hm! Auch den Boten aus Sombrereto nicht?« – »Nein. Wie kann ein Verdacht auf ihn fallen? Er legitimierte sich durch den Ring, den er brachte.« – »Er ritt am hellen Tag wieder fort?« – »Ja, am hellen Morgen.« – »Habt Ihr seitdem aus Sombrereto eine Nachricht erhalten?« – »Von dem Richter oder seinem Sohn nicht.« – »Von wem sonst?« – »Von Lord Lindsay.« – »Ah. Der war ja auf der Hazienda, als der Graf verschwand.« – »Ja, er und Amy, seine Tochter. Sie begaben sich kurze Zeit darauf nach dem Hauptquartier des Juarez, und auf diesem Weg machte der Lord einen Abstecher nach Sombrereto.« – »Mit welchem Resultat?« – »Er ließ mir mitteilen, daß der Richter von Sombrereto weder einen Sohn habe, noch von der Angelegenheit etwas wisse.« – »Das dachte ich mir, aber man muß vorsichtig sein. War der Bote, den er sandte, zuverlässig?« – »Im höchsten Grade, denn es war einer meiner Vaqueros, den der Lord zu diesem Zwecke mitgenommen hatte.« – »Das beweist, daß der Lord klug war und dem vermeintlichen Sohn des Richters gleich von vornherein mißtraut hat.« – »Das hat er allerdings«, meinte die alte Marie Hermoyes. – »Ihr aber nicht?« fragte Gerard. – »Es war ja gar kein Grund dazu«, antwortete Arbellez. – »Auch nun noch nicht?« – »Hm! Das ist eben unbegreiflich. Wir haben ihn kommen und wieder fortreiten sehen, er war allein. Er hat den Ring gleich abgegeben. Wäre er ein schlechter Mensch gewesen, so hätte er denselben behalten, denn der Diamant war ein ganzes Vermögen wert.«
Gerard lächelte still vor sich hin, betrachtete das Fenster noch einmal und erwiderte:
»Auch dieser Fensterrahmen ist ziemlich morsch. Betrachtet Euch doch einmal diese Stelle im untersten Teil des Rahmens.«
Die Anwesenden taten dies und blickten ihn dann hilflos an.
»Nun, was habt Ihr gesehen, Señor Arbellez?« fragte er. – »Einen Strich, eine schmale Vertiefung im Rahmen«, antwortete dieser. – »Wie sieht diese Vertiefung aus?« – »Hm! Als ob man mit einem schmalen, stumpfen Gegenstand auf den Rahmen gedrückt hätte.« – »Nicht genauso«, entgegnete der Jäger. »Hier ist nicht gedrückt worden, sondern hier hat man etwas über den Rahmen gezogen. Seht Euch die Vertiefung genau an! Rührte sie von einem Strick her, so wäre sie glatt. Wie aber findet Ihr sie?« – »Rauh.« – »Ja, sie rührt augenscheinlich von einem Lasso her, der aus verschiedenen Riemen zusammengeflochten war. Dieser Lasso war nicht der eines Jägers, denn er war schlecht und holprig gearbeitet. Weiter! Welche Richtung haben die Holzfasern, die von dem Lasso am Rahmen abgeschliffen wurden?« – »Sie gehen nach außen«, antwortete Arbellez. – »Gut. Das beweist, daß am Lasso eine Last gehangen hat, die man nicht in das Zimmer, sondern aus demselben hinaus und hinunter in den Hof transportiert hat. Kommt mit hinab!«
Gerard verließ den Raum und begab sich in den Hof. Die anderen folgten. Sie begannen das, was er sagte, zu glauben.
»Ein verdammt gescheiter Kerl. Nicht wahr?« fragte Pirnero seinen Schwager leise. – »Es scheint so«, nickte dieser. – Ja, das kommt daher, daß er der Verlobte von Resedilla ist. Kennst du die Abstammung vom Vater auf die Tochter?« – »Nein.« – »Ich werde dir das zur passenden Zeit erklären. Von dieser Abstammung hat natürlich auch der Schwiegersohn seinen Profit. Doch sieh einmal, wie er hier unter den Steinen sucht.«
Gerard war über die Steine und Stämme auf den schmalen Raum gestiegen, der zwischen denselben und der Mauer lag. Er betrachtete jeden Zollbreit des Bodens mit großer Aufmerksamkeit. Da richtete er sich auf. Er mußte etwas gefunden haben, denn in seinem Gesicht machte sich ein Ausdruck der Genugtuung bemerkbar.
»Kommt einmal herüber, Señores und Señoritas«, sagte er. »Aber nehmt Euch in acht, hierher zu treten.«
Er deutete dabei nach der Stelle, die er meinte. Alle folgten seiner Aufforderung, und Gerard fragte:
»Was erblickt Ihr hier am Boden, Señor Arbellez?«
Der Haziendero betrachtete die Stelle genau und antwortete verlegen:
»Hm! Nicht eben sehr viel.« – »Also wenig. Aber was ist das Wenige?« – »Der Boden ist hart von Sand und Lehm; aber da gibt es doch einige Eindrücke.« – »Wieviel? Zählt sie einmal.« – »Eins, zwei drei – vier.« – »Richtig. Aber wovon mögen sie herrühren?«
Arbellez wollte auch scharfsinnig sein. Er betrachtete die Spuren mit der größten Aufmerksamkeit und antwortete dann:
»Mit zwei Instrumenten sind sie hervorgebracht.« – »Zwei Instrumente?« fragte Gerard lächelnd. – »Ja, ein breites und ein schmales, rund geformtes. Das letztere ist tiefer eingedrungen.« – »Hm! Ihr seid nicht weit vom Richtigen entfernt«, bemerkte Gerard. »Das Dach des Hauses springt vor und hält den Regen von dieser Stelle ab, kein Mensch ist hergekommen, und so ist es zu begreifen, daß diese Spuren sich erhalten haben. Freilich sind sie nicht mehr scharf und neu. Aber ich will Euch gleich anschaulich machen, wie sie entstanden sind.«
Er stellte sich aufrecht und blickte empor.
»Nehmen wir an«, fuhr er fort, »es werde da oben an einem Lasso ein Mann herabgelassen, den ich empfangen soll. Ich strecke die Arme nach ihm aus, um ihn zu erfassen. So! Wie stehen meine Füße dabei?« – »Auf den Zehen.« – »Gut. Meine Sohle macht also einen Eindruck in den Boden. Das ist das breite Instrument, von dem Ihr redet, Señor Arbellez. Weiter! Ich halte den Mann gefaßt, den er herabläßt, und bücke mich mit dieser Last langsam nieder, um sie auf die Erde zu legen. Paßt auf! So!«
Er tat, als ob er wirklich eine große Last in den Armen habe, und ahmte die beschriebenen Bewegungen nach. Indem er sich nun langsam bückte, fragte er:
»Seht meine Füße genau an! Welche Stellung haben sie?« – »Ihr kauert auf den Absätzen«, antwortete Arbellez. – »Richtig! Diese Absätze sind das scharfe, runde Instrument, von dem Ihr redet. Nun will ich zur Seite treten. Seht Euch die Spur an! Wird sie in drei oder vier Wochen nicht genau so sein wie die anderen?« – »Wahrhaftig! Gewiß! Sicher!« rief es aus aller Munde. – »Nun seht. Es ist einer zum Grafen gegangen, hat ihn im Schlaf überwältigt und am Lasso in den Hof hinabgelassen. Hier unten haben zwei Männer – denn wir haben die Eindrücke von vier Füßen – die Last in Empfang genommen. Jedenfalls sind noch mehrere dabei tätig gewesen. Der Haupttäter aber war jener Bote aus Sombrereto.«
Eine solche Erklärung hatte keiner erwartet. Sie sahen einander erstaunt an. Endlich meinte Pedro Arbellez:
»Ihr mögt recht haben, Señor Gerard, aber den Boten halte ich doch für unschuldig.« – »Wieso?« lächelte der Jäger. – »Er ging allein fort.« – »Das beweist nichts.« – »Wäre er der Täter, so hätte er sich des Nachts gleich mit den anderen entfernt.« – »Mein lieber Señor Pedro, Ihr betrachtet diese Sache nicht mit dem richtigen Auge. Dieser Bote war ein Schlaukopf. Was hättet Ihr wohl getan, wenn er früh verschwunden gewesen wäre?« – »Hm. Das wäre uns aufgefallen.« – »Richtig! Das hat er zu vermeiden gesucht. Er ist geblieben, um seinen Helfershelfern einen genügenden Vorsprung zu sichern.« – »Mein Gott, das klingt ja allerdings sehr wahrscheinlich. Aber er hat ja den Ring übergeben.« – »Deshalb haltet Ihr ihn für ehrlich?« – »Natürlich.« – »Ei, ei, Señor«, meinte Gerard kopfschüttelnd. »Wem gab er diesen wertvollen Ring?« – »Dem Grafen.« – »Wo ist der Graf?« – »Fort – natürlich!« – »Und der Ring?« – »Donnerwetter! Auch mit ihm fort – natürlich!« – »Nun, seht Ihr noch nichts ein?«
Da begann es im Kopf des guten Haziendero zu tagen.
»Heilige Madonna, ich begreife, was Ihr meint«, rief er. – »Nun?« – »Der Kerl konnte dem Grafen den Ring leicht geben, weil er wußte, daß sie beide wieder in seine Hände fallen würden.« – »Und das ist Euch nicht früher aufgefallen?« – »Wahrhaftig nicht.« – »Unbegreiflich. Selbst auch dann nicht, als Ihr die Nachricht vom Lord aus Sombrereto erhieltet?« – »Selbst dann nicht. Wir glaubten nämlich, daß wir uns verhört, daß wir den Boten falsch verstanden hätten. Es gibt nämlich auch ein Sombrera und ein Ombereto.« – »Daran glaube ich nicht! Übrigens hat sich der Bote einer sehr großen Unvorsichtigkeit schuldig gemacht. Liegt nicht Sombrereto nach Südwest von hier?« – »Ja. Es liegt seitwärts von Santa Jaga.« – »Sind nicht die Spuren von Büffelstirn und den anderen nach Santa Jaga gegangen?« – »Allerdings.« – »Das gibt eine sehr bemerkenswerte Übereinstimmung. Dieser Mensch hat uns, allerdings unwillkürlich und ganz gegen seine Absicht, einen Wink gegeben, nach welcher Richtung hin wir suchen müssen.« – »Gott sei Dank! Endlich gibt es einen Punkt, an den man sich halten kann«, rief der Haziendero.
Resedilla betrachtete den Geliebten mit stolzen Augen. Ihr Vater aber spreizte die Beine weit auseinander und fragte:
»Nun Schwager, glaubst du nun, daß es in Fort Guadeloupe Diplomaten und Politiker gibt?« – »Oh, darüber wollen wir nicht streiten«, antwortete Arbellez. »Nun ist es Hauptsache, sofort Boten auszusenden.« – »Wohin?« fragte Gerard rasch. – »Nach Santa Jaga, nach Sombrereto. Sie müssen die dortige Gegend absuchen.« – »Gemach, lieber Señor, Eure Boten würden alles verderben. Einer genügt.« – »Nur einer?« fragte Arbellez betroffen. – »Ja. Mehrere würden sich untereinander nur irremachen. Sie würden auffallen. Einer aber kann suchen, ohne auffällig zu werden. Natürlich muß es ein Mann sein, der so etwas versteht. Hm! Ich weiß einen, auf den wir uns vollständig verlassen können«, meinte Gerard, indem ein lustiges Lächeln um seine Lippen zuckte. – »Wer ist das?« fragte Arbellez. – »Hier unser guter Señor Pirnero.«
Pirnero warf einen erstaunten Blick auf den Sprecher, faßte sich aber sofort und antwortete:
»Ja, das weiß ich selbst. Gibt es einen, der sich zur Lösung dieser Aufgabe eignet, so bin ich es.« – »Ganz gewiß«, nickte Gerard.
Pirnero nahm eine stolze, siegesgewisse Miene an und fuhr fort:
»Es gehört ein tüchtiger Pfiffikus dazu, der zugleich sehr tapfer ist.« – »Gewiß, lieber Schwiegervater. Darum mache ich den Vorschlag, daß du nach Santa Jaga und Sombrereto reitest, um diese Angelegenheit endlich einmal aufzuklären.«
Da trat Pirnero einen Schritt zurück, streckte alle zehn Finger abwehrend von sich und rief:
»Ich?« – »Natürlich.« – »Ich soll dorthin reiten?« – »Ja.« – »Von wo keiner von ihnen allen wiedergekommen ist?« – »Leider. Doch wir alle sind überzeugt, daß du pfiffig und tapfer genug bist, um wiederzukommen.« – »Das ist ja über alle Zweifel erhaben. Aber, wenn ich nun doch nicht wiederkäme?« – »So würden wir dich suchen.« – »Was würde das mir nützen? Wißt ihr denn nicht, daß ein Feldherr sich stets um der Seinen willen zu schonen hat?« – »Das ist allerdings sehr richtig. Du betrachtest dich hier also als der Feldherr?« – »Natürlich! Ich gebe meine Einwilligung zu eurem Vorschlag und schicke einige Vaqueros nach Santa Jaga.« – »Pah. Das sind die Kerle nicht dazu. Wenn du nicht selbst reitest, so reite ich.« – »Ihr? Du? Nein. Mein Schwiegersohn soll sich nicht abermals in eine solche Gefahr begeben.« – »So halte ich alle die, die wir suchen und die wir so lieb haben, für verloren.« – »Donnerwetter, wirklich?« – Ja.« – »Das ist ja eine ganz verfluchte Geschichte. Sie sollen und müssen gefunden werden; aber ich bin so froh, endlich einmal einen Schwiegersohn zu haben, und nun soll ich gezwungen sein, ihn aufs Spiel zu setzen. Was sagst du dazu, Resedilla?«
Sie alle blickten auf das schöne Mädchen.
»Meine Braut ist gut und tapfer«, warf Gerard ein.
Da reichte sie ihm freudig die Hand und antwortete:
»Ich lasse dich nicht gern fort, Gerard, aber ich weiß, daß du es bist, der das vielleicht zustande bringt. Gehe in Gottes Namen, aber versprich mir, vorsichtig zu sein und dich zu schonen.« – »Habe keine Sorge, mein liebes Kind. Ich gehöre nicht mehr mir allein. Ich habe andere, heilige Verpflichtungen und werde mich sehr bedanken, etwas zu tun, was mir Schaden bringen kann.« – »Das nenne ich reden, als ob es in einem Buch geschrieben wäre«, meinte Pirnero. »Ist Resedilla tapfer, so will ich es auch sein. Gerard mag gehen, aber er darf nicht vergessen, daß er einen Schwiegervater hat, der ihn mit nach New York, Kopenhagen oder Pirna nehmen will. Wann geht es fort?« – »Für heute ist es zu spät«, antwortete Gerard. »Der Abend bricht bald herein. Aber morgen mit dem Frühesten steige ich in den Sattel.« – »Doch aber nicht allein?« – »Hm. Allein ist es mir am liebsten. Aber um euch zu beruhigen, will ich zwei Vaqueros mitnehmen, die euch Nachricht von mir bringen können.«
Somit war diese Angelegenheit geordnet, und der Rest des Tages verlief weniger aufgeregt als die vorherige Zeit.
Natürlich widmete Gerard der Geliebten den größten Teil des Abends, und noch ehe er sich zur Ruhe begab, mußte er ihr versprechen, nicht fortzureiten, bevor er nicht Abschied von ihr genommen habe.