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Zur Treppe hinunter kam Kurt in den Hof, dessen vorderes Tor verschlossen worden war. Beim Laternenschein sah er ein zweites Tor, das in einen anderen Hof führte. Er ging dahin und erblickte ein Gebäude vor sich, in dessen Parterre ein Fenster erleuchtet war. An der Tür des Zimmers, zu dem dieses Fenster gehörte, las er die Inschrift »Meldezimmer«. Er trat ein und wurde von dem darin sitzenden Wärter erschrocken angestarrt.
»Wer sind Sie? Was wollen Sie? Wie kommen Sie hierher?« fragte dieser, indem er aufsprang. – »Erschrecken Sie nicht«, antwortete er. »Ich komme in der friedlichsten Absicht. Ich befinde mich bei Manfredo, dem Neffen des Paters Hilario. Wer hat in Abwesenheit dieses letzteren Kranke zu behandeln?« – »Der zweite und dritte Arzt.« – »Wie heißt der zweite?« – »Menuccio.« – »Er schläft?« – »Ja.« – »Wecken Sie ihn augenblicklich.« – »Ist es notwendig? Sonst darf ich nicht.« – »Äußerst notwendig.« – »Wen soll ich melden?« – »Einen fremden Offizier.«
Der Mann ging und kam erst nach einer Weile wieder, um Kurt zu dem Arzt zu führen. Dieser befand sich im Schlafrock und empfing ihn nicht mit freundlicher Miene.
»Ist es so gefährlich, daß Sie mich im Schlaf stören?« fragte er. – »Ja, sehr gefährlich, besonders für Sie«, antwortete Kurt. – »Für mich? Señor, ich bin nicht zum Scherz aufgelegt!« – »Ich ebensowenig. Ich komme, um Sie zu einer ganzen Zahl von Patienten zu bitten.« – »Darin sehe ich doch keine Gefahr für mich.« – »Und doch ist es so. Sagen Sie, ob Ihnen das geheimnisvolle und verbrecherische Treiben des Paters Hilario ganz unbekannt ist.« – »Señor, wer sind Sie, daß Sie es wagen, von Verbrechen zu reden?« – »Ich habe das Recht dazu. Vor einiger Zeit verschwand eine Zahl teils gewöhnlicher, teils hochgestellter Personen, zwei Grafen Rodriganda, ein Herzog von Olsunna und andere. Ich wurde beauftragt, nach ihnen zu forschen, und fand sie vor einer Stunde als Gefangene in den unterirdischen Löchern dieses Klosters. Wissen Sie etwas davon?«
Der Arzt machte ein Gesicht, als ob er zu Stein geworden sei.
»Träume ich denn?« fragte er. – »Sie träumen nicht, sondern Sie wachen. Pater Hilario hat diese Señores ins Kloster gelockt und sie heimtückisch eingeschlossen. In den letzten Tagen war er sogar auf der Hacienda del Erina, um sämtliche Bewohner derselben zu vergiften.«
Der Arzt wußte wirklich nicht, was er sagen sollte.
»Ich träume«, stieß er abermals hervor. – »Ich wiederhole, daß Sie wachen. Ich habe die Gefangenen befreit. Die Gefangenschaft in jenen Löchern hat ihre Gesundheit im höchsten Grade angegriffen. Sie bedürfen Ihrer Hilfe, und ich fordere Sie auf, mir nach des Paters Wohnung zu folgen, wo jene sich einstweilen befinden.«
Der Arzt schüttelte noch immer den Kopf.
»Señor, es handelt sich nicht um einen Scherz?« fragt er. – »Es ist mein bitterer Ernst.« – »Ich werde Sie begleiten, um mich zu überzeugen.«
Der Arzt kleidete sich schnell an und folgte Kurt. Sein Staunen vergrößerte sich, anstatt sich zu vermindern, als er die zahlreiche Versammlung erblickte, zu der er gebracht wurde.
»Hier ist zunächst ein Arzt«, meldete Kurt. »Wir bedürfen eines größeren Zimmers und stärkender Speisen und Getränke.«
Der Heilkünstler befand sich noch wie im Traum. Aber als er Don Ferdinando erblickte, der todesmatt auf dem Sofa lag, begann er an die Wirklichkeit zu glauben. Er hatte den Grafen früher in Mexiko gesehen und erkannte ihn sofort wieder, trotzdem derselbe sich sehr verändert hatte.
Die Anwesenden hatten selbst den Zusammenhang ihrer Rettung noch nicht vollständig erfahren, darum mußte der Arzt sich mit kurzen Mitteilungen begnügen, aber dies reichte hin, ihn zu überzeugen, daß es seine unbedingte Pflicht sei, hier einzugreifen.
Die Gesellschaft wurde nach einem kleinen hübschen Salon versetzt, wo bald ein jeder erhielt, was notwendig war, ein Bad, frische Wäsche, reinliche Kleider anstatt der halb vom Leib gefaulten, stärkenden Wein und eine Mahlzeit, wie sie in den Räumen des Krankenhauses wohl noch selten verzehrt worden war.
Die Geretteten dachten indes wenig an ihre körperliche Schwäche. Sie wollten vor allen Dingen erfahren, was draußen geschehen sei. Jeder hatte unzählige Fragen, und selbst der Kleine André wandte sich an Kurt:
»Also Sie stammen aus Rheinswalden?« – »Ja, freilich.« – »Und kennen Sie dort wohl alle Leute?« – »Alle.« – »Kennen Sie einen Jägerburschen, der Ludwig Straubenberger heißt?« – »O freilich. Er ist der Liebling des Oberförsters.« – »Herr, der ist mein Bruder.« – »Das hat mir Geierschnabel bereits erzählt!« – »So lebt Ludwig noch?« – »Der?« meinte Geierschnabel. »Oh, wenn den die lieben Engel doch schon hätten!« – »Warum?« fragte André, indem er Miene machte, zornig zu werden. – »Weil er mich arretiert hat.« – »Arretiert? Als was?« – »Als Wilddieb, Piraten und Giftmischer. Aber er hat mich doch noch laufenlassen müssen.«
Während Geierschnabel sein kleines Abenteuer erzählte, fragte der Steuermann seinen Sohn:
»Vor allen Dingen eins, Kurt! Die Mutter lebt?« – »Ja. Sie ist auch gesund und wohl, obgleich sie sich sehr gehärmt und gegrämt hat.« – »Und du, was bist du denn eigentlich geworden?« – »Rate einmal!« – »Hm. Señor Sternau hat dir zur weiteren Ausbildung gefehlt, und deinen Anteil vom Schatz aus der Königshöhle hast du auch erhalten?« – »Ja, wenn auch etwas spät.« – »Nun, so bist du reich; du hast auf eine Stellung verzichtet?« – »O nein. Ich bin doch etwas, nämlich Offizier, geworden«, lächelte Kurt.
Da rötete sich das Gesicht des Steuermanns vor Freude. Sternau ergriff Kurts Hand und meinte:
»Das ist brav. Du hast Urlaub?« – »Ja.« – »Wo dienst du?« – »Ich stehe in Berlin und bin als Oberleutnant der Gardehusaren zum Generalstab kommandiert.« – »Alle Wetter! Ich gratuliere.«
Der Vater umarmte den Sohn vor Freude, und nun begann das eigentliche Erzählen und Berichten, das so lange dauerte, bis völlige Klarheit herrschte. Da erhob sich Sternau von seinem Stuhl und sagte:
»Meine Freunde, wir dürfen noch nicht ruhen, es gibt für uns zu tun. Da ich der kräftigste bin, werde ich mich mit Kurt von Euch auf kurze Zeit verabschieden.«
Die Unglücksgefährten ahnten, was Sternau vorhatte; aber sie waren durch die erlittenen Qualen und durch die gegenwärtige Aufregung geschwächt worden. Büffelstirn und Bärenherz wollten mitgehen; er aber bat sie, zu bleiben. Zwei allerdings ließen sich nicht zurückweisen, Grandeprise und Geierschnabel.
Diese vier begaben sich, nachdem sie sich mit Waffen und Licht versehen hatten, wieder hinab in die unterirdischen Gänge, wo sie Manfredo aufsuchten. Er war so fest geschnürt, daß er sich aus seiner Ecke nicht hatte fortbewegen können. Da Sternau von allem unterrichtet war, so leitete er das Verhör.
»Mensch«, sagte er, »du bist nicht wert, daß ich dich zertrete, aber vielleicht läßt sich dein Schicksal doch noch mildern, wenn du mir meine Fragen aufrichtig beantwortest.«
Manfredo war im Grunde genommen feig. Er sah, daß sein Spiel verloren sei, und darum suchte er sich zu entschuldigen.
»Ich bin nicht schuld, Señor, gar nicht«, wimmerte er. – »Wer denn?« – »Mein Oheim. Ich mußte ihm gehorchen.« – »Das entschuldigt dich nicht Ich will aber sehen, ob du ein aufrichtiges Geständnis ablegst. Warum nahmt Ihr uns gefangen?« – »Weil ich Graf von Rodriganda werden sollte.« – »Welch ein Wahnsinn? Dein Oheim hätte uns später getötet?« – »Ja.« – »Wo sind die Sachen, die ihr uns abgenommen habt?« – »Die habe ich noch. Nur die Pferde sind verkauft.« – »Du wirst uns nachher alles wiedergeben. Weißt du, wo die Cortejos und Landola stecken?« – Ja. Dieser Señor hat mir den Schlüssel zu ihrem Kerker mit den anderen weggenommen.« – »Wir haben ihn, und du wirst uns die vier Personen zeigen. Kennst du sämtliche unterirdische Gänge und Gewölbe dieses Klosters?« – »Alle.« – »Wer hat sie dir gezeigt?« – »Mein Oheim. Er hat einen Plan dieser Gewölbe.« – »Weißt du, wo dieser Plan sich befindet?« – Ja, im Schreibtisch.« – »Du wirst ihn uns zeigen. Gibt es heimliche Ausgänge aus diesen Gewölben?« – »Ihr meint in das Freie?« – »Ja.« – »Es gibt nur einen solchen!« – »Wo mündet er?« – »In einem Steinbruch, östlich von der Stadt« – »Du wirst uns dahinführen. Wo ist dein Oheim?« – »Er ist nach Mexiko oder Querétaro.« – »Zu wem?« – »Zu dem Kaiser.« – »Was will er da?« – »Ich – ich weiß es nicht.«
Manfredo log. Er dachte, daß sein Oheim ihn vielleicht doch noch retten könne, wenn es ihm gelang, seine politische Aufgabe zu erfüllen. Sternau durchschaute ihn, darum sagte er:
»Glaube nicht, daß du mich betrügst. Je weniger aufrichtig du bist, desto schlimmer wird dein Los. Was will dein Oheim beim Kaiser?« – »Er will ihn abhalten, Mexiko zu verlassen.«
– »Den Grund weiß ich bereits. Wer ist der dicke Mensch, mit dem du heute abend gesprochen hast?«
Manfredo erschrak. Also auch das war verraten.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er. – »Man empfängt niemand bei sich, den man nicht kennt.« – »Ich kenne ihn wirklich nicht. Er kommt zuweilen zum Oheim, um ihm Befehle zu bringen.«
– »Von wem?« – »Von der geheimen Regierung.« – »Aus welchen Personen besteht diese?« – »Ich weiß es nicht.« – »Wo hat sie ihren Sitz?« – »Auch das ist mir unbekannt.« – »Hm! Empfängt dein Oheim geheime Papiere?«
Manfredo zögerte mit der Antwort.
»Wenn du nicht redest«, drohte Sternau, »werde ich dich so lange prügeln lassen, bis du die Sprache findest. Ich frage dich, ob er geheime Papiere bekommt?« – »Ja.« – »Hebt er sie auf?«
– »Ja.« – »Wo?« – »In einer verborgenen Zelle.« – »Kennst du sie?« – »Ja.« – »Du wirst uns auch dahin führen. Steh auf, und zeige uns, wo die Cortejos stecken!«
Sternau lockerte dem Gefangenen die Beinfesseln so weit, daß derselbe langsam gehen konnte.
»Zunächst werde ich die Instruktion zu mir nehmen, die dieser gute Neffe eines noch besseren Onkels heute von dem Dicken empfangen hat«, meinte Kurt.
Er zog ihm die Papiere aus der Tasche und steckte sie in die seinige. Dann verließen sie das Gefängnis und wurden von Manfredo zu der Tür geführt, hinter der ihre Feinde steckten.