Alexander Moszkowski
Ernste und heitere Paradoxe
Alexander Moszkowski

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Das doppelt geöffnete Tor.

Man sprach von irgend einem neuen Roman. Doktor Snyder bekannte, ihn nicht gelesen zu haben: Dazu fehlte mir die Zeit, ich habe genug zu tun mit der Wiederherstellung der alten verstümmelten Romane, und meine Quelle sind die klassischen Archive. Da gibt es zu schöpfen, meine Herrschaften! Erst heute fiel mir wieder eine der wunderbarsten Erzählungen in die Hand, eine wahre Begebenheit, die ich mir vor sechs Jahren in der Bibliothek zu Ravenna abgeschrieben habe. Es ist die Geschichte von dem Jüngling, der Frau und dem Tiger.

Einer der Anwesenden entsann sich des Sachverhalts: Ist denn diese Geschichte nicht von Stockton?

Darum handelt es sich eben. Stockton brachte ein Rätsel und ich bringe die Auflösung. Er schloß vor mehr als einem Menschenalter mit einer offenen Frage, auf die weder er selbst noch irgend ein Leser die Antwort wußte, und gerade auf diese Antwort kommt es an; sie enthält erst den wirklichen Roman. Der klingt freilich ein bißchen anders, als in der verfälschten und verquatschten Form, in der Sie ihn kennen gelernt haben.

Ach so erzählen Sie doch! wie war denn eigentlich die Sache? –

Die spielte in Rom zur Zeit des Kaisers Domitian. Da lebte ein junger, verhärmter Dichter namens Quintus Agricola; ganz Geist, ganz Träumer, ganz Seele und dementsprechend schattenhaft dürr. Durch Zufall lernte die Tochter des Kaisers, Prinzessin Eudoxia, seine Verse kennen, mit dem Erfolg, daß sie den genialen Verfasser in ihrer Nähe zu sehen wünschte. Leider verfuhr sie hierbei nicht nach der Hofregel, sondern sie verfiel auf den romantischen Betrieb der Heimlichkeit. Eine gefällige Palastdame namens Bombasta machte die Zwischenträgerin, und in den ausgedehnten Gärten des Palatin kam es in dämmriger Stunde zu Zusammenkünften, die bis zu schüchternen Handküssen gediehen. Kurzum es ergab sich ein platonisches Verhältnis, das bei aller Reinheit doch früher oder später zu einer Katastrophe führen mußte; denn der Klassenabstand zwischen dem plebejischen Dichter und dem kaiserlichen Fräulein war ein so ungeheuerer, daß er durch keine Berufung auf Plato überbrückt werden konnte.

Agricola schwamm in allen Himmeln, ohne die Nähe des Verhängnisses zu ahnen, das in der Palastdame und Gesellschafterin Bombasta Fleisch und Bein gewann. Diese war eine Canaille in der schärfsten Bedeutung des Wortes, denn Canaille kommt auf gut klassisch von canis her, und tatsächlich wühlten auch hündische Instinkte in den ausgedehnten Bereichen ihres fettleibigen Körpers. Daß sie sich gleichfalls in den ätherischen Jüngling verliebte, wäre nach den Gesetzen des Kontrastes zu verzeihen gewesen; aber bei ihr war es keine platonische, sondern eine derb-sinnliche Angelegenheit, verschärft durch maßlose Eifersucht auf die sanftschwärmende Prinzessin und bis zum Koller getrieben durch die teuflische Lust, auf Schleichwegen Unheil zu stiften.

Bombasta petzte also, und gleich so gründlich als nur möglich. Sie ging zum Kaiser Domitian und verriet ihm das zarte Geheimnis aus den Laubengängen der palatinischen Gärten. Domitian schäumte und wollte zuerst den dichtenden Sünder nach erprobtem Neronischen Muster in eine lebende Fackel verwandeln. Allein die intrigante Palastdame wußte einem besonderen, eigens von ihr ausgeheckten Plan Geltung zu verschaffen, und dieser erschien dem Imperator so geistreich erdacht, daß er der Dame alle Vollmachten zur Verwirklichung ihres großartigen Projektes erteilte.

Ein Volksfest wurde angesagt, das zugleich durch die Feinheit der Grundidee wie durch die Grausamkeit des Programms alles je erlebte übertraf. Achtzigtausend Römer und Römerinnen drängten sich zu den Stufen des Kolosseums, in dessen Arena ein einzelner Mensch zugleich Subjekt und Objekt der aufregendsten Handlung bilden sollte. Verloren wie ein Punkt im Raum stand dort der Dichter Quintus Agricola und harrte einem Geschick entgegen, das er selbst zu bestimmen, selbst zu erleiden hatte. Sollte er etwa mit einem wilden Gladiator kämpfen? Unmöglich, denn zu solchem Zwecke hätte man dem Schwächling irgend welche Waffe in die Hand gegeben. Nein, ihm war Tückischeres vorbehalten.

Zwei Eisentore, eines mit weißem, das andere mit grünem Anstrich, beide verschlossen und von der Arena aus zu unsichtbaren Gewölben führend, fesselten die Aufmerksamkeit. Eines dieser Tore sollte der Verurteilte nach kurzer Bedenkzeit mit ausgestrecktem Finger bezeichnen; es würde sich öffnen und aus seiner Höhlung entweder einen riesigen, halbverhungerten Tiger – oder eine geschmückte Frau hervorgehen lassen; ganz nach freier Wahl des Verurteilten, der indes für sein Fingersignal keinen anderen Anhalt besaß als den blanken Zufall.

Wies er auf das Tigertor, so war er in den nächsten Minuten zermalmt und verschlungen. Standen ihm die Götter bei, daß er auf das andere Tor wies, so blieb er am Leben, und zwar als der Gatte der Frau, die herausschreiten sollte. Priester standen bereit, um den Ehebund sofort zu siegeln.

Zitternd überlegte Agricola, angstvoll schweiften seine Blicke durch den Raum, um an der kaiserlichen Loge haften zu bleiben. Dort saß neben dem Imperator die Prinzessin Eudoxia. Gewiß war sie in das Geheimnis eingeweiht, und da sie ihn liebte, so würde sie ihm wohl ein leises Zeichen geben, aber welches? Konnte sie die Vernichtung des Geliebten wünschen? nicht anzunehmen; konnte sie ihn einer anderen gönnen? ebensowenig. Das ergab also nur ein qualvolles Hin- und Herstarren zwischen dem Jüngling und der Kaisertochter, und mit der offenen Frage »was geschieht?« schließt die alte Geschichte, deren wirkliches Ergebnis hier zum ersten Male berichtet wird.

Die Frist war abgelaufen, und Agricola mußte sich entscheiden. Die Motive lagen auf beiden Seiten absolut gleich, denn das weiße Tor konnte mit der nämlichen Wahrscheinlichkeit den Tiger herausspeien wie das grüne. In namenloser Angst erhob der Ärmste seine Arme wie hilfesuchend zu den Göttern, beide Arme gleichzeitig. Die Arenawächter aber mißverstanden diese Armerhebung, hielten sie für das erwartete Signal, und infolge dieses Irrtums öffneten sich beide Tore in derselben Sekunde.

Aus dem grünen Tor schritt die vorbestimmte Braut, und das war Bombasta selbst, die heimtückische Angeberin, welche auf Grund der kaiserlichen Vollmacht diesen dramatischen Schlager vorbereitet hatte. Aus dem weißen Tor sprang heiser röchelnd der kolossale Tiger, um dem Drama augenblicklich eine von der Anstifterin keineswegs beabsichtigte Wendung zu geben. Denn ihm fiel die Wahl weniger schwer als kurz zuvor dem Dichter die Wahl zwischen den beiden Toren. Keines Blickes würdigte er den schlotternden Poeten, sein Sinn stand eindeutig nach Fettsubstanz, er stürzte sich mit jähem Sprung auf die feiste Palastdame, und bereitete sich aus ihr ein leckeres Mahl zum Gaudium der achtzigtausend Zuschauer, die einen solchen Aktschluß als eine unerhörte Sensation empfanden.

Gesättigt zog sich die gestreifte Bestie in ihr Gewölbe zurück. Aber die Volksmenge verlangte nunmehr auch noch eine Genugtuung für den geretteten Dichter, der für die ausgestandene Todesangst ausreichend entschädigt werden mußte. Domitian winkte von seiner Loge aus Gewährung. Allerdings ließ sich die strenge Hofordnung nicht überschreiten, die nicht einmal einem Prätor, geschweige denn einem Dichterling dunkler Herkunft, den Eintritt in den hohen Familienverband gestattete. Aber man griff zu einem Ersatzmittel: Agricola wurde durch besondere Bestallung zum Hofvorleser der kunstsinnigen Prinzessin ernannt.

Meine Quelle in der Bibliothek zu Ravenna verrät noch mehr. Sie deutet an, daß die beiden sich nicht damit begnügten, lesend und hörend in Versen zu schwelgen, sondern daß sie sich sogar entschlossen, gemeinsam ein Werkchen im Stile von Ovids »Ars amandi« herauszugeben.


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