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Oft genug hat man's geschrieben und erlebt, ohne sich sonderlich dabei aufzuregen. Einem neuen Kunstwerk gegenüber ist man gewöhnlich mit dem Urteil fertig, bevor das Werk selbst sein letztes Wort gesprochen, eine Stunde später steht es in Lob, in Tadel, in ästhetischer Begründung auf dem Papier, wälzt sich alsbald in der Maschine zu unzähligen Exemplaren, liegt im dunkeln Morgengrauen fertig ausgedruckt auf dem Frühstückstisch. Der Betrieb verlangt es so, eine Verzögerung würde als Schlamperei empfunden werden. Das Leben, die Technik sind auf Geschwindigkeit eingestellt, warum nicht auch das Urteil? Weil der Irrtum lauert? Das ist kein Grund dagegen. Der Irrtum hat keine Uhr. Er kann der Minute aus dem Wege gehen und sich mit dem Jahr intim befreunden. Die Hauptsache bleibt die Überzeugung des Augenblicks.
Wir tragen unsere Maßstäbe in uns, aus langer Erfahrung gewonnen, zum Gebrauch jederzeit bereit. Sie legen sich von selbst an und liefern uns die subjektiv untrüglichen Ergebnisse. Cogito ergo criticus sum. Und schließlich sind wir ja nicht für die ewige Wahrheit verantwortlich, sondern nur für die Wahrhaftigkeit dieser Stunde.
Es ist gut so. Aber vielleicht wäre es noch besser, wenn wir jederzeit ein Merkblättchen zur Hand hätten, das uns einlüde, einen Blick in das Register der Fehlurteile zu werfen, bevor wir die Feder zu neuem Spruch ansetzen. Freilich, das ausführliche Register würde dicke Bände füllen, und niemand könnte es mit sich herumschleppen. Nur um den Auszug des Auszugs kann es sich handeln, nur um eine kleine Zahl großer Irrtümer, die im gegebenen Augenblick zur Vorsicht mahnen. Dies Merkblatt braucht nicht bloß das Unbekannte zu enthalten; denn auch das Bekannte kann im Zusammenhange gute Gedächtnishilfe leisten; bedarf auch wohl der Wiederauffrischung, bevor es in die Schicht des Vergessenen hinabsinkt.
In den Schriften des bedeutenden Theoretikers A. B. Marx findet sich die Stelle: Haendel scheut naturgemäß Bach und geringschätzt Gluck; Haydn erwartet nicht allzuviel von Beethoven und Maria von Weber satirisiert seine Eroica.
Fügen wir hinzu: nicht allein die Eroica; der Komponist des Freischütz warf auch schwere Worte gegen Beethovens C-Moll-Symphonie, die er als das Erzeugnis eines Verrückten erklärte, um sich späterhin zu wandeln und als einen offenen Anhänger Beethovens herauszustellen. Vulgär gesprochen: Weber bekannte seinen Irrtum, bekannte, daß er, der große Tongestalter, Jahre nötig hatte, um das herauszufinden, was sich lange zuvor gänzlich Unfähigen, Laien, Nichtkompetenten, klingend offenbart hatte. Welchen zuverlässigen Vorzug hat Webers späteres Urteil vor seinem früheren? die Zeit, nichts anderes. Denn nur in der Zeit spricht es sich aus, daß Webers spätere Ansicht mit der großen Wertung von heute übereinstimmt. Dann aber ist es denkbar, daß Weber bei längerem Leben seine Meinung abermals umgekehrt hätte. Sollte es am Ende wie in Raum und Zeit, auch im Kunsturteil ein Relativitätsprinzip geben?
Marx scheint das geahnt zu haben, denn er findet Haendels Haltung nicht schlechthin falsch, sondern »naturgemäß«. Sein »Irrtum« wird zu einer Notwendigkeit, und wenn wir uns Haendels Wort vergegenwärtigen: »Mein Koch versteht mehr vom Kontrapunkt als Gluck«, so brauchen wir darin nicht unbedingt eine Blasphemie zu erkennen; vielleicht nur die schnoddrige Übertreibung einer dem Geiste Haendels angemessenen Gültigkeit; gewiß aber eine Mahnung für jeden, der heute seine Feder ansetzt, um über den Kontrapunkt eines Zeitgenossen zu schreiben.
Beethoven wird auf unserm Merkblatt naturgemäß bevorzugt. Wir finden ein Wort von Spohr »Reif fürs Tollhaus«; diese Reife sollte sich Beethoven, nach Spohr, durch seine A-Dur-Symphonie erworben haben. Grillparzer, seinerzeit als einer der feinsinnigsten Musikhörer anerkannt, landete der Neunten Symphonie gegenüber bei dem Ausdruck »Konfuses Zeug«. Abt Stadler, bewunderter Orgelspieler, tüchtiger Komponist, Freund Mozarts, rief in der Siebenten Symphonie von Beethoven, bei der Überleitung zum Allegro im ersten Satz: »Immer E, immer E, 's fallt ihm halt nix ein, dem talentlosen Kerl!« Stadler hat ein Alter von 85 Jahren erreicht und hätte viel Zeit zur Besinnung übrigbehalten; es ist aber nicht bekannt geworden, daß er jene Ketzerei abschwor, und sein »talentloser Kerl« hat seine Messen, Psalmen und Oratorien überlebt.
Die Tonart des Urteils wird bei den Kollegen von der Bildnerei nicht milder. Ja, während der Musiker doch noch meistens geneigt ist, zwischen Werk und Werk zu unterscheiden, geht der Dichter im Feld der bildenden Künste gewöhnlich aufs Ganze, ohne sich mit Teilverdikten abzugeben. Donnernd fährt Böcklin durchs Gewölk: »Muß dieser Leibl ein langweiliger, denkfauler Kerl sein!« . . . »Der Schmierer, der Tintoretto!« . . . »Dieser Kerl, wie heißt er doch – der Signorelli, etwas Talentloseres habe ich nie gesehen!« Neben Böcklin meldet sich Gabriel Rossetti als Zermalmer: »Delacroix ist eine vollständige Bestie!« – »diese Arbeiten von Ingres – nicht zwei Sous wert – elender Dreck!« und Courbet: »Tizian und Leonardo da Vinci sind Hallunken; wenn einer von denen da in die Welt zurückkäme und sich in meiner Werkstatt zeigte, so zöge ich das Messer!« Aber, so könnte man einwenden, das waren Kraftnaturen, Futuristen ihrer Zeiten, Selbstschöpfer, denen der Kunstwille den Kunst-Intellekt unterdrückte; bei den eigentlichen Kunstkritikern von Beruf und Amt kommen solche Ausschreitungen wohl nicht vor. Wirklich nicht? Ruskin gehörte zur Gilde der Horizonterweiterer und nannte doch den Kölner Dom einen »elenden Humbug«, und die »Meistersinger« den »Gipfel von allem einfältigen, plumpen, trottelhaften, paviansköpfigen Zeug«.
Die Urteile über Richard Wagner sind und bleiben die wichtigsten auf unserm Merkblatt, denn sie zeigen vor allen Dingen, daß die Zeitwirkung durchaus nicht immer in demselben eindeutigen Sinne einsetzt, daß also auch Rückbildungen im Urteil möglich sind und sich tatsächlich ereignen. Wenn im Kapitel Beethoven aus einem Saulus ein Paulus wird, so halten wir die Umkehrung zum Saulusstandpunkt zunächst für undenkbar; denn wie könnte einer, der sich zur Wahrheitshöhe aufgerungen hat, sich zum Irrtum zurückringen? wie könnte ein Finder seinen Fund freiwillig aufgeben?
Aber die Entwicklung des Urteils weiß nichts von solchen anscheinenden Selbstverständlichkeiten. Es bleibt als Funktion der Zeit in Abhängigkeit von ihr, ohne daß sich die Richtung des Verlaufs im Voraus angeben ließe. Alles kommt da vor: Wendung, Biegung, Zickzack, selbst radikale Umkehr; das Unglaubliche verwirklicht sich.
Bei Hans von Bülow haben wir es erlebt und bei Friedrich Nietzsche; in beiden Fällen war es ein kunstgeschichtliches Weltwunder: bei Bülow bedeutsamer, da er die überragende musikalische Größe darstellte, bei Nietzsche formell interessanter, da er imstande war, seine Sprechweise mit den Prophetentönen eines Zarathustra darzustellen. Beiden gemeinsam war, in etwas veränderter Gestalt, jene uralte Klage, die im Fétis widerhallt, die schon Rameau 1760 erhob: »Die Musik ist verloren!« Siebzig Jahre zuvor hatte Marcello wehklagend gerufen: »Die Musik geht unter!«, und so läßt sich der Ursprung des Echos weit zurückverfolgen, bis auf Terpander. Bülow und Nietzsche umgrenzten den Ruf: nicht die Musik überhaupt, sondern diese Musik, die herrschende, die Wagnersche sei verloren. »Komödiantenmusik!« So lautet für Bülow der Weisheit letzter Schluß, aus der Not des Urteils geboren, auf der Höhe eines Lebens, das vordem in ganzer Ausdehnung ein großes und weihevolles Opfer für die Bayreuther Offenbarung gewesen war. Nietzsches Katalog ist ausführlicher. Sein Zorn gegen den vormaligen Messias entlädt sich in einem langen Gewitter von Aphorismen: »Wagner gehört nicht in die Geschichte der Musik«; das verbindende »und« in Wagner und Beethoven, »das ist eine Blasphemie«; »was geht uns die agacante Brutalität der Tannhäuser-Ouvertüre an? oder der Zirkus Walküre?« »die Masse, die Unreifen, die Blasierten, die Krankhaften, die Idioten, die Wagnerianer!« »der Parsifal, ein Operettenstoff par excellence«, »Bayreuth reimt sich auf Kaltwasserheilanstalt«, – und so der Sentenzen kein Ende! Man müßte seitenweis ausziehen, um der ganzen Stärke dieser Abkehr gerecht zu werden. Aber unser Merkblatt soll ja kurz sein, soll sich nur in kurzen Stichworten als Gedächtnisstütze einer behenden Kritik an die Seite stellen.
Wo ist Wahrheit? Gibt es eine? Droht nicht hinter jeder, auch der sichersten, die Umkehr, das Loskommen, das Losringen, das Umlernenmüssen? Immer nur hilft das schöne Vertrauen zum eigenen Wissen, zur eigenen Überzeugung über die Krisis der Minute, wenn wir gerade daran gehen, ein neues Erlebnis in kritische Schrift zu übersetzen. Die Irrtümer der andern, die Bocksprünge der früheren, was gehen die uns an, die wir für das Urteil des Tages zu sorgen haben, und ganz bestimmt nicht auf ein Merkblatt für künftige Geschlechter gelangen werden!
Und eine weitere Gefahr erhebt sich: man könnte vielleicht, bei getreuer Beobachtung aller Warnungen, aus lauter Vorsicht gar kein Ergebnis herausbringen, alles in der Schwebe lassen, jeden kritischen Ansatz in ein »non liquet« umbiegen. So wie Anton Rubinstein nach der allerersten Tristan-Aufführung verfuhr, da er bekannte: »Je n'y comprends absolument rien . . .« Ohne Bewunderung, ohne Verurteilung, erklärte er sich einfach als unzuständig. Aber wir wissen ja besser, wie er es meinte, und was er sagen wollte. Er brauchte nicht erst durch ein Nichtverstehen von Wagner loszukommen, denn er war nie bei ihm gewesen. Und sein Wort unterscheidet sich eigentlich nur in der Form von der Aussage des Umwerters aller Werte: tout comprendre – c'est tout mépriser!
Als er mit dem Hammer philosophierte, begeisterte sich Nietzsche für das langsame Urteil, für Geduld im Urteil; man muß die Entscheidung hinausschieben, aussetzen können, zugunsten einer höheren Geistigkeit, so lehrte er. Aber auch damit wäre gar nichts gewonnen, wenn man immer wieder von dem loskommt, was man einmal freudig als Besitz erfaßt hat. War nicht irgend ein dunkler Kunstschreiber, der sich im ersten Anlauf die Begeisterung frisch von der Seele schrieb, der Wahrheit näher als ein zögernder Philosoph? Hätte er mit ihm hinausschieben, warten sollen, vom Zirkus Walküre bis zum Zirkus Torero, bis zu Bizet, den Nietzsche als neuen Götzen auf den Altar setzte an Stelle des heruntergeworfenen Gottes Wagner?
Und so kämen wir schließlich gar dazu, dem raschen Urteil mit seiner angeborenen Farbe der Entschließung den Vorzug zu geben. Ist der Irrtum schon der Zwillingsbruder der Kritik, so soll er wenigstens in der Unbedenklichkeit des wagemutigen Anlaufs einen mildernden Umstand finden. Und glaubhaft erscheint die frische Überzeugung, selbst wenn sie Unglaubliches in die Welt setzt.