Alexander Moszkowski
Ernste und heitere Paradoxe
Alexander Moszkowski

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Kant und das Meerschweinchen.

Der Student: Herr Professor, ich möchte bitten, mir das philosophische Kolleg zu testieren.

Der Professor: Jawohl, geben Sie her. Zwar, eigentlich sollte ich das nicht tun. Ich glaube, Herr Studiosus, ich habe Sie in meinen Vorlesungen nur ein einziges Mal gesehen.

Student: Bitte um Verzeihung, Herr Professor, Sie irren sich wohl, das ist ganz bestimmt ein anderer gewesen.

Professor: Das heißt also: Sie können Ihr Alibi nachweisen. Aber das ist doch eigentlich recht bedenklich; nicht für Sie, Herr Studiosus, sondern für mich.

Student: Wieso, Herr Professor?

Professor: Nun, sehen Sie, ich komme mir da wie ein unreeller Geschäftsmann vor. Sie haben das Kollegiengeld bezahlt, ohne ein Äquivalent empfangen zu haben. Ich bin also in Ihrer Schuld, das drückt mich natürlich. Das beste wäre vielleicht, ich zahlte Ihnen die zwanzig Mark zurück.

Student: O, Herr Professor!

Professor: Oder ich lieferte Ihnen den Wert nach, auf den Sie Anspruch haben. Ja, so wollen wir's machen. Auf die Länge der Vorlesung kommt es ja wohl nicht an, nur auf den Inhalt. Haben Sie ein Stündchen Zeit? – Gut. Setzen Sie sich ganz gemütlich dorthin. Plaudern wir vom Fach. Wissen Sie was? Wir werden uns dabei etwas zum Rauchen anstecken. Bitte, hier. So.

Student: Äußerst verbunden, Herr Professor!

Professor: Und ich werde Ihnen jetzt für zwanzig Mark Philosophie nachliefern.

Student: O, eine Stunde Privatissimum bei Ihnen soll mir unschätzbar sein.

Professor: Sie könnten recht haben. Mir ist da allerhand eingefallen, was ich im Kolleg noch gar nicht gesagt habe. Was vielleicht noch niemand gesagt und gedacht hat. Grundstürzende Dinge, sozusagen. Eine Umwälzung der gesamten Metaphysik. Ausblicke in ein philosophisches Jenseits, von dem die Menschheit noch gar keine Ahnung hat – also beweisbare Unglaublichkeiten.

Student: Und mir ganz allein wollen Sie das vortragen?

Professor: Ja, weil Sie gerade da sind, und weil ich auf die Wirkung neugierig bin, die solche Enthüllungen auf ein unbefangenes Menschenkind ausüben. Sagen Sie zuvor, Herr Studiosus: wissen Sie was Raum ist?

Student: Gewiß. Raum ist nach Vischer mit dem V die niederträchtige Einrichtung, kraft deren man, um einen Gegenstand A irgendwo hinzustellen, erst den Gegenstand B entfernen muß, und Zeit ist das, was man dazu niemals hat.

Professor: Bravo! Sie wissen zwar nicht, was ein Hörraum ist, aber über den Raum im allgemeinen sind Sie orientiert. Nun hat aber die Sache noch eine andere Seite, eine transzendentale. Haben Sie sich mit Kant beschäftigt?

Student: Genügend viel, um zu wissen, daß ich nichts von ihm verstehe. Ich glaube, Kant behauptet, einen Raum gibt es überhaupt nicht.

Professor: Na, so ungefähr. Aber doch etwas anders. Drücken wir uns korrekter aus: Raum ist nach Kant eine Vorstellung außerhalb aller Erfahrung, vor aller Erfahrung, eine Denkform a priori.

Student: Ach ja, das ist ja bekanntlich die unerschütterliche Grundlage der ganzen Philosophie.

Professor: Und die wollen wir heute einmal erschüttern. Aber gründlich. Gesetzt, wir könnten nachweisen, daß wir einen unmittelbar raumempfindenden Sinn besitzen . . .

Student: Sollte das wohl das Auge sein?

Professor: Nein, mein Vortrefflicher. Das Auge nimmt nur die Dinge wahr, die den Raum erfüllen, nicht den Raum selbst. Und dem Tastsinn geht es nicht anders. Aber trotzdem ist ein raumempfindendes Organ bei uns vorhanden.

Student: Am Ende die Nase?

Professor: Damit kommen wir der Wahrheit schon näher. Wenige Zentimeter rechts und links, und wir haben das Organ. Es ist das Ohr. Und wenn ich Ihnen nun beweise, daß der Raum durch das Ohr direkt empfunden wird, so werden Sie mir zugeben müssen, daß der Raum damit aufhört, eine reine Vorstellung zu sein. Er würde dann eine sinnfällige Realität gewinnen wie der Klang und wie die Farbe; und Immanuel Kant . . .

Student: Hätte sich blamiert.

Professor: Ganz kolossal blamiert. Die Kritik der reinen Vernunft wäre aus den Angeln gehoben, die gesamte Philosophie müßte anfangen, sich neu auf sinnlicher Grundlage aufzubauen.

Student: Auf den Beweis bin ich aber neugierig.

Professor: Wir müssen hierzu einen Tierversuch anstellen.

Student: Ach, Vivisektion! Das ist aber scheußlich.

Professor: Im allgemeinen teile ich Ihre Ansicht, wenn dabei nichts anderes herauskommt, als auf künstlichem Wege einen Karpfen wasserscheu, ein Murmeltier schlaflos, eine Spitzmaus größenwahnsinnig oder eine Gemse neurasthenisch zu machen. Aber hier handelt es sich um etwas Neues. Das Versuchstier wird dabei nicht einmal sonderlich gequält.

Student: Ich kann sowas aber doch nicht sehen!

Professor: Das sollen Sie auch nicht. Die bloße Beschreibung genügt vollkommen. Also stellen Sie sich vor, wir nehmen vier Meerschweinchen, setzen sie in einen Rotationsapparat und wirbeln sie mit ungeheurer Geschwindigkeit im Kreise umher.

Student: Warum denn gleich vier?

Professor: Das sollen Sie sofort erfahren. Die vier Meerschweinchen, die uns über die letzten Dinge der Philosophie aufklären sollen, sind nicht egal. Das erste ist ganz gesund und normal. Bei dem zweiten haben wir im rechten Ohr den Teil zerstört, den der Fachmann als das »Labyrinth« bezeichnet; beim dritten ebenso im linken Ohr; und dem vierten fehlen beide Labyrinthe.

Student: Entsetzlich! Was wird die Gesellschaft für ethische Kultur dazu sagen!

Professor: Sie wird sich in ihrem Künstlerbewußtsein enorm freuen, wenn sie die letzten Ergebnisse dieser Operation erfährt. Jetzt nämlich beginnt erst das eigentliche Experiment. Die Tierchen werden samt ihrem Futter in die mit Glaswänden umgebene Zentrifuge gesperrt und mehreren hundert Umdrehungen in der Minute ausgesetzt.

Student: Herr Professor, nehmen Sie mir's nicht übel, es geht ja nicht auf Sie, aber das ist eine Gemeinheit! Und daß man ihnen dabei noch ihr Futter vorsetzt, erst recht. Das ist eine ganz zwecklose Steigerung der Qual. Was sollen denn die Meerschweinchen mit dem Futter anfangen, wenn sie wie die Kreisel im Raume umherschwirren?

Professor: Sie sollen es fressen. Und sie tun es auch. Nämlich das doppelseitig operierte Tier frißt ruhig weiter, mag ich es drehen, wie ich will. Das linksseitig operierte hört bei Rechtsdrehung auf und läßt es sich bei Linksdrehung gut schmecken; das rechtsseitig operierte umgekehrt. Nur das ganz gesunde Meerschweinchen protestiert gegen jede Nahrungsaufnahme, solange überhaupt gedreht wird.

Student: Herr Professor, ich weiß zwar noch gar nicht, worauf das Ganze hinausläuft. Aber das Eine weiß ich ganz genau, daß Sie bei so rapider Drehung gar nicht sehen können, ob die Schweinchen fressen oder fasten.

Professor: Ihre Bemerkung zeigt mir, daß Sie die physikalischen Vorlesungen mit ebenso großem Erfolg geschwänzt haben, wie die philosophischen. Erfahren Sie also, daß es einen Kunstgriff gibt, um trotz der raschesten Kreisbewegung die Dinge als stillstehend zu betrachten. Man korrigiert die Drehung einfach durch eine mitrotierende Spiegelvorrichtung, welche die Bewegung umkehrt. Wenn Sie da zum Beispiel eine Zeitung hineintun, können Sie sie zehnmal in der Sekunde um ihre Achse schleudern und doch ganz bequem lesen. Dieser Einwand fällt mithin fort. Wir beobachten vielmehr die Meerschweinchen mit ihrer Nahrung, als ob sie stillständen.

Student: Um Gottes willen, Herr Professor, was hat das mit dem Raum und mit Kant zu tun?

Professor: Sehr viel; alles! Die Rotation bringt den Raum als solchen zur Empfindung. Der Raum selbst ist es, der hier zur Herrschaft gelangt, und der durch das Experiment befragt wird: Wie wirkst du auf den Organismus? Und hier erfahren wir: der absolute Raum wirkt einzig auf das Ohr. Das Meerschweinchen, dem beide Ohr-Labyrinthe fehlen, hat die Raumempfindung verloren, sein guter Appetit beweist, daß eine jähe Veränderung im Raume nicht mehr für seine Wahrnehmung existiert. Vergegenwärtigen Sie sich das Verhalten des ganzen Quartetts, so kommen Sie unweigerlich zu dem Schluß: der Raum ist ein Etwas, das direkt auf einen bestimmten Sinn wirkt. Er ist nicht apriorisch, nicht außerhalb der Erfahrung, sondern sinnfällig. Und das Organ, durch das sich der Raum einem lebenden Wesen mitteilt, sitzt im Ohre.

Student: Bitte, wer hat denn das herausgebracht?

Professor: Der geschilderte Versuch gehört in das Forschungsgebiet des gewaltigen Physikers Mach.

Student: Mach?

Professor: Ein Name, so fremd Ihrem Ohre, wie der Raum ihm lebendig ist. Und nun frage ich Sie: Ahnen Sie wohl die Tragweite dieser neuen Erkenntnis?

Student: Es dämmert mir so etwas im Halbdunkel. Aber es ist mir ganz schleierhaft, was man damit anfangen soll. Das Ohr ist doch schließlich zum Hören da. Meinen Sie denn, Herr Professor, daß im leeren Raum etwas vorhanden ist, was immerfort klingt?

Professor: Sagen wir: was sich dem Ohr mitteilt. Es muß ein kosmisches Abbild des unendlichen Raumes geben, das vom Ohr verarbeitet wird. Auf der höchsten Stufe der Verarbeitung wird dieses Abbild zur Musik, und die Musik zur Raumkunst.

Student: Aber das widerspricht doch jeder Theorie, die Musik bewegt sich doch bekanntlich in der Zeit und nicht im Raum!

Professor: Ei, ei, haben Sie wirklich so einen Kursus durchschmarutzt! Ja, allerdings; nach den landläufigen Begriffen, die sich mit dem Binde- und Klebewort »bekanntlich« von einem Katheder aufs andere forthelfen, ist die Musik eine Zeitkunst. Das Ohr nimmt nur eine Folge, ein Nacheinander auf, ungleich dem Auge, dem eine Folgekunst in der Zeit versagt ist, und das dafür die Dimensionen erfaßt. Aber davon müssen wir endlich loskommen. Auch das Ohr kann mehrdimensional empfinden. Und hierauf wird ein neues Grundgesetz der Ästhetik beruhen, das durch jenen Meerschweinchenversuch seine wissenschaftliche Tiefe erhält. Sie können sich doch eine melodische Fortschreitung als eindimensional vorstellen, als linear?

Student: Ja, das kann jeder.

Professor: Gut. Wir füllen nun die Melodie harmonisch aus. Dadurch gewinnt sie eine Breite, die sie zuvor nicht gehabt hat; sie wächst in die zweite Dimension hinein, sie erobert sich die Fläche. Und sobald man sich erst einmal da hineingedacht hat, macht es keine Schwierigkeiten mehr, der Polyphonie, die durch eine Mehrheit selbständiger Stimmen entsteht, die Körperlichkeit zuzusprechen. Das Ohr erweist sich also als aufnahmefähig für einen Vorgang, der sich im Dreidimensionalen abspielt.

Student: Jawohl, wenn wirklich musiziert wird.

Professor: Müssen es denn Geigen und Trompeten sein, die dem Ohr etwas sagen wollen? Der Weltenraum hört nie auf zu musizieren. Er offenbart sich sogar direkt durch das Klingen, – freilich durch ein Klingen, das jenseits der meßbaren Schallschwingungen liegt. Diese transzendenten Schwingungen, die zu fein sind, um von der Trommelfellmenbran erfaßt zu werden, wenden sich an den sechsten Sinn des Menschen, der seinen Sitz im Labyrinth hat. Hier werden sie begriffen, organisch erfaßt, ausgedeutet, und der letzte Schluß dieser Deutung besagt: Raum ist Musik, – Musik ist Raum.

Student: Aber die Musik erzeugt doch ein Wohlbehagen, einen Genuß, ein Glücksgefühl.

Der Professor: Sie kommen mir entgegen: Dieses Glücksgefühl, um dessen Wertung und Erklärung sich die Ästhetiker aller Völker vergebens bemüht haben, wird ohne weiteres verständlich, sobald wir uns die identische Gleichung zwischen Musik und Raum vergegenwärtigen. Alle unsere sinnlichen Triebkräfte sind auf den Raum gerichtet. Die elementare Lust in der Bewegung, im Sport, im Reisen, was ist sie anderes als das Gefühl der Raumerfassung? Wir wollen und müssen unsere eigenen Dimensionen in die Welt hinausprojizieren, die Dimensionen der Welt in uns aufnehmen. Die Freude am Gebirge entspricht der Befreiung aus dem Kerker der zweidimensionalen Ebene: wir konsumieren die dritte Dimension, unsere eigene Körperlichkeit kommt uns in ihr wonnig zum Bewußtsein. Und all das erleben wir in einem inneren Rauschen und Klingen, von denen das Konzertohr nichts erfährt. »Die Sonne tönt nach alter Weise« . . . »tönend wird für Geisterohren schon der neue Tag geboren« . . . »Phöbus' Räder rollen prasselnd, welch' Getöse bringt das Licht!« Das hat als Engelsweisheit der nämliche Goethe vorgetragen, der uns als das höchste Glück der Erdenkinder, die Persönlichkeit, das ist die bewußte Ausdehnung im Raume, definierte. Und der alte Pythagoras hatte auch eine Vorstellung davon, als er die Sphärenmusik in den Raum hineindachte. Fazit: Der Raum liegt innerhalb der Erfahrung und ist ein Objekt der Sinne; er wird von einem Organ wahrgenommen, das im Betrieb des Gehörs arbeitet; und er wird mit einer Lust wahrgenommen, die im letzten Grunde mit musikalischen Emotionen verwandt ist.

Student: Donnerwetter! Das gibt Perspektiven! Haben Sie darüber schon ein Buch geschrieben?

Der Professor: Nein; und ich werde auch keins darüber schreiben. Aber ich wittere schon die Weltweisen und Kunstdeuter, die diese Zusammenhänge zu breiten Druckflächen auseinanderwalzen werden. Auch für die Mathematiker ist hier etwas zu holen. Nur Mut, die Sache ist lohnend. Denn jene beiden Begriffe, die von Anbeginn den Kopfschmerz der denkenden Menschheit hervorgerufen haben, Raum und Zeit, begegnen und durchdringen sich in dieser Vorstellungreihe zum ersten Male; und zwar in einem tönenden Medium, das beide zugleich dem empfangenden Sinn zuführt.

Student: Herr Professor, hier scheint mir aber eine Lücke zu sein: Sie gingen von einem Versuch am Meerschweinchen aus und übertrugen das Ergebnis geradewegs auf den Menschen.

Professor: Ein Analogieschluß wie andere, die man getrost wagen darf, ohne sich an der Wahrscheinlichkeit zu versündigen. Jedenfalls ist er nicht entfernt so gefährlich, als der Schritt vom sinnfälligen Erfahrungsgebiet zu dem unheimlichen Jenseits des Königsberger Philosophen. Das vermaledeite Apriorische, das wie ein Fluch auf aller Forschung lastet, muß heraus aus der Welt. Meine Vorlesung ist zu Ende. Haben Sie nun begriffen, Herr Studiosus?

Student: Ich denke, so ziemlich: Kant, der »Alleszermalmer«, muß durch das Meerschweinchen überwunden werden, und bei Professoren, die sich zu Kant bekennen, braucht man kein Kolleg zu belegen.

Professor: Das genügt einstweilen. Geben Sie jetzt das Testierheft her: ich werde Ihnen den fleißigen Besuch meiner Vorlesungen bescheinigen.


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