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An einem Tage, da die Wetteransage von bevorstehenden Niederschlägen zu melden wußte, trat mein Freund zu mir ins Zimmer. Ich störe dich wohl? sagte er, da er mich beim Schreiben antraf.
Ich: Nein, durchaus nicht. Du wirst mir sogar helfen. Ich habe hier etwas vor, wobei man eine mitfühlende Seele ganz gut brauchen kann.
Der andere: Aber Mensch, da wimmeln ja Zahlen auf deinem Papier! besonders seelenvoll sehen solche Rechnereien gerade nicht aus.
Ich: Auf den ersten Blick gewiß nicht, aber bei näherer Betrachtung. Diese Rechnung, siehst du, ist auf einen Gefühlston gestimmt; sie wendet sich an die Phantasie. Und um das Thema sogleich festzulegen: ich bin eben dabei, den Begriff der Milliarde anschaulich zu machen. Zunächst gib mir eins zu: die Milliarde, die uns heutzutags so nachdrücklich beschäftigt, war ehedem, noch vor zwei Generationen, etwas sozusagen Mythologisches.
Der andere: Für mich ist sie es noch heute; etwas Ungeheuerliches, Dämonisches, wie das Fatum.
Ich: Du kommst mir entgegen; in deinem Wort kam der Gefühlston bereits zum Mitschwingen. Man müßte ein kalter Philister sein, um die Milliarde ausschließlich in hingeschriebenen Ziffern zu erleben. Tatsächlich zeigt sie ein doppeltes Gesicht: mit dem einen blickt sie in die Arithmetik, mit dem andern in eine Welt der Phantasie, in der sich Abenteuer ereignen.
Der andere: Also darauf willst du hinaus: auf irgend eine Methode, die Milliarde durch merkwürdige und überraschende Beziehungen vorstellbar zu machen?
Ich: Ja und nein. Auf irgend eine Beziehung will ich natürlich hinaus, aber mit Vermeidung der üblichen Wege. Die bisher befolgten Methoden liefen nämlich immer nur auf eine Umschreibung hinaus. Sie spielten letzten Endes immer mit unvorstellbaren Vorstellungen. Ihr Ziel war ausnahmslos: »das Staunen«. Aber je stärker man staunt, desto weiter entfernt man sich von der Anschaulichkeit. Nehmen wir zum Beispiel folgendes: Der sehr vermögende Herr X. hat an seinen Gläubiger Y. eine Barschuld von einer Milliarde Mark zu entrichten; er zahlt in braunen Scheinen, indem er ohne Pause in jeder Sekunde einen Tausendmärker hinlegt. Keine Müdigkeit, keine Ruhepause. Dann braucht er, um seine Verbindlichkeit zu lösen, zwölf Tage und Nächte. Das soll man sich für vorkommende Fälle merken, gewiß. Aber glaubst du, daß damit auch nur das Geringste für die Anschaulichkeit gewonnen wird?
Der andere: Ich sollte doch meinen. Aus dem mystischen Zahlennebel steigt doch eine Tatsache herauf, ein Geschäft, in das man sich mit einiger Phantasie hineindenken kann . . .
Ich: Um von einem Rechenexempel in das andere zu verfallen. Der braune Schein enthält nämlich den Divisor 1000, das Milliarden-Problem wird dadurch fortgeschmuggelt, und an seine Stelle tritt die simple Frage nach der Million, in Sekunden abgemessen. Wer da weiß, daß ein Jahr rund 30 Millionen Sekunden besitzt, der dividiert das im Kopfe und kann die zwölf Tage mit Leichtigkeit hersagen. Ein Zahlenverhältnis wird durch ein anderes, stark verkleinertes ersetzt, das ist alles. Und wer es dabei fertig bekommt zu staunen, der staunt nur über die seltsame Fassung einer identischen Gleichung. Mit der Phantasie hat das gar nichts zu schaffen, diese kann sich nie an der blanken Zahl entzünden, sondern nur an einer sinnfälligen, am besten augenscheinlichen Tatsache. Man muß daher ein Beispiel aufsuchen, worin die Milliarde sich in Form einer erlebbaren, irgend einen Sinn beschäftigenden Begebenheit offenbart; wohlverstanden: die wirkliche Milliarde, nicht eine künstlich verdünnte.
Der andere: Ich weiß schon so ein Beispiel: Auf der Fläche des Bodensees, so las ich irgendwo, wenn man sie sich als hartgefroren vorstellt, haben bei leidlich bequemer Aufstellung ungefähr eine Milliarde Menschen Platz, etwa zwei Drittel der Erdbevölkerung. Das ist doch sinnfällig und augenscheinlich.
Ich: Nein, das ist nur Lektüre, Rechnerei und wesenlose Umschreibung. Wärest du je imstande, von einem Flugzeug aus solches Gewimmel zu überblicken, so könntest du vielleicht einer Anschaulichkeit nahekommen. Da dies unerfüllbar ist, erlebst du in deinem Beispiel keine Menschen, sondern lediglich eine Menge von Quadratmetern. Wir müssen das Problem schon anders anfassen, an einem Punkte, wo die Wirklichkeit selbst uns mit sichtbaren Milliarden entgegenkommt.
Der andere: Da wäre ich neugierig.
Ich: Nehmen wir ein Begebnis, das jedem von uns ganz geläufig ist, einen Wintertag, an dem Frau Holle ihre Betten ausschüttet. Und nun wollen wir einmal untersuchen: Wieviel Flocken gehören zu einem Schneefall?
Der andere: Wahnsinnig viel; wahrscheinlich Quadrillionen oder Quintillionen.
Ich: Du greifst zu hoch. Seit Weltbestehen ist noch keine Quadrillion Flocken niedergegangen.
Der andere: Das kannst du doch nicht beweisen. Oder willst du mir einreden, daß du jemals in einem Gestöber die Flocken gezählt hast?
Ich: Wäre schwer durchführbar. Die Lust könnte einen wohl anwandeln, aber nach den ersten Sekunden des verwirrenden Versuches hört man resigniert auf. Dagegen ist es nicht ausgeschlossen, der freigebigen Natur auf Schleichwegen beizukommen; in weitgezogenen Fehlergrenzen selbstverständlich, aber doch mit einiger Aussicht auf zahlenmäßiges Erfassen. Zuerst wollen wir das Betrachtungsfeld zweckmäßig einschränken. Ein großer Schneefall kann einen erheblichen Teil ganz Europas überdecken. Wir begnügen uns mit einem Gelände von großberliner Ausdehnung, sagen wir von hundert Quadratkilometern. Die Höhe des Schmelzwassers nach einem tüchtigen Schneefall ist bekannt; wir besitzen darüber sogar die amtlichen Feststellungen. Wir können somit annähernd ermitteln, wieviel Wasser, nach Litern, ein guter Schneefall auf Berliner Boden geliefert hat, und da sich ein Liter bequem nach Tropfen auszählen läßt, in wieviel Tropfen sich der Fall niederschlug.
Der andere: Ich hoffe, du hast das bereits ausgerechnet, ohne meine gütige Mitwirkung abzuwarten. Aber auf eins muß ich dich aufmerksam machen: Tropfen und Flocke sind zweierlei.
Ich: Sie stehen aber in erkennbarem Verhältnis zueinander; aus anderweitigen Beobachtungen, sowie besonders aus Vergleichung der Schneedeckenhöhe mit der des Schmelzwassers, kann man schließen, daß durchschnittlich etwa zehn Flocken einen Tropfen ergeben. Ich gelange von diesen Voraussetzungen zu dem Ergebnis: ein starker, ganztägiger Berliner Schneefall ist ein Ereignis, das sich gegenständlich in 100 Billionen Flocken auflösen läßt.
Der andere: Es lebe die Statistik! Aber: du sprichst vergebens viel, um zu beweisen, der andere hört von allem nur die Zahl. Eine sehr hohe, wie zu erwarten war, für meine Bedürfnisse sogar überschwenglich; denn besinne dich, du hattest mir eine runde Milliarde versprochen.
Ich: Gleich sind wir soweit. Stelle dich auf den Rathausturm und überblicke das Weichbild der Stadt. Auf diesem Grundmaß beträgt das Flockengewimmel während einer einzigen Sekunde: eine Milliarde. Hier hast du zum erstenmal die fabelhafte Zahl auf etwas Sichtbares und in kürzester Zeit Erfaßbares zurückgeführt.
Der andere: Doch nur theoretisch. Denn wenn es gehörig schneit, so sehe ich vom Rathausturm höchstens bis zum Lustgarten, aber nicht bis in die Vororte.
Ich: Der Einwand ist berechtigt. Verlassen wir also den Turm und begeben wir uns in den Lustgarten selbst, der mit einem Blick gut zu übersehen ist. Nur seine Fläche soll für uns in Betracht kommen. Hier nun lassen wir das Naturspiel auf uns wirken, mit der Uhr in der Hand; und wenn wir das drei Stunden lang ausgehalten haben, dann dürfen wir ins Bewußtsein eintragen: So! das war eine Milliarde Schneeflocken.
Der andere: Ist nun diese Methode wirklich so wesentlich verschieden von den bisherigen? Immer vorausgesetzt, daß du dich nicht verrechnet hast, so bleibt sie doch auch eine Zahlenumschreibung.
Ich: Doch nicht ausschließlich. Hier findet eine Projektion auf das Auge statt, auf ein wahrnehmendes Organ, und nicht bloß auf den Zahlensinn. An sich bleibt uns jede hohe Zahl nur ein Symbol, die auf die Gehirntafel Notizen schreibt, Erinnerungsmerkmale, Vergleiche, die aber nicht unmittelbar ins Bewußtsein dringt. In meinem Schneeflockenfall ist das anders. An die Stelle der bloßen Vergleichsnotizen tritt das sichtbare Erlebnis. Du hast es mit einem wirklichen Eindruck zu tun, und deine Phantasie, sofern sie lebendig wird, schwimmt nicht mehr im Uferlosen, sondern kann sich auf die Mitarbeit eines Organs stützen. Du kennst den alten Wahrspruch: »Nihil est in intellectu, quod non prius fuit in sensu«. Nichts ist im Verstande, was nicht schon früher im Sinnesorgan existierte. Anders ausgedrückt: wenn es uns gelingt, irgend etwas, vorläufig Unvorstellbares, mit den Sinnen abzufangen, so wird es sicherer in den Verstand eingehen.
Der andere: Und ich gebe dir hiermit die feste Versicherung, daß nichts auf der Welt mich bewegen wird, mich während eines Schneegestöbers mitten auf den Lustgarten hinzustellen.
Ich: Und ich gebe dir die Gegenversicherung, daß du beim nächsten Schneefall, den du erlebst, dich in Gedanken dahin verpflanzen wirst. Die Beziehung der Flocken zum Milliardenwert wird dir gegenwärtig bleiben.
Der andere: Möglicherweise; vielleicht auch nicht. Denn ich muß dir gestehen: für mich zerfallen die Zahlen überhaupt in zwei Sorten, in die kleinen und in die großen; aus den kleinen mache ich mir nichts, und die großen, die interessanten, gehen über meine Begriffe. Wenn ich Million sage oder Billion, so sind das für mich Worte, die sich wesentlich nur durch die Anfangsbuchstaben unterscheiden.
Ich: Das mag manchem so gehen; und doch ist es auch hier leicht, sich den Abstand gegenwärtig zu halten, wenn man wiederum an das Anschauliche anknüpft. Nimm als Vergleichshilfe etwa folgendes: die Million verhält sich zur Billion wie dieser Bleistift in Länge zur Strecke Berlin–Swinemünde; oder wie die Breite dieses Zimmers zur Breite des Atlantischen Ozeans.
Der andere: Ist das genau?
Ich: Ungefähr so genau wie die Milliarde in Schneeflocken, also ausreichend, aber ohne Garantie. Es handelt sich in solchen Betrachtungen immer nur darum, daß man sich ungefähr in der Größenordnung hält. Restglieder, die in eine tiefere Region hinabtauchen, können vernachlässigt werden. Die Hauptsache bleibt, daß wir aus der platten Papierrechnerei herauskommen und wenigstens den Versuch unternehmen, jene Milliarde, als einen Exponenten unseres heutigen Lebens, in irgendwelche Anschaulichkeit überzuführen. Weißt du, wieviel Sternlein stehen? Das Lied weiß es nicht, aber die Astronomen sagen: 100 Millionen, wenn sie bis an die Grenze der teleskopischen Sichtbarkeit gehen. Die Sterne bleiben somit hinter den Anforderungen unseres Problems zurück, – unbeschadet ihrer sonstigen hohen Stellung und Leistungsfähigkeit. Mit den Flocken kommt man schon weiter, was nicht ausschließt, daß in besseren Methoden noch gesteigerte Anschaulichkeiten gewonnen werden können. Wer sich auf solchen Wegen bemüht, der wandelt auf guten Spuren; denn nicht in der lediglich gedachten, sondern in der wahrgenommenen Zahl liegt das Wesen der Dinge, so meint es Pythagoras.