Alexander Moszkowski
Ernste und heitere Paradoxe
Alexander Moszkowski

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Das stärkste Bombardement.

In eine Kleinwelt wollen wir uns begeben, wo der Krieg, ausgedrückt in unzähligen Wurfgeschossen, als die eiserne Regel und Grundform aller Erscheinungen auftritt. Zwei Welten, aufeinander abgebildet, führen zu einem Gleichnis. Ich wünschte dem Leser zur Wanderung bessere Führung, als ich sie ihm zu bieten vermag: nötig wäre ein Atomgelehrter von Spezialberuf, ein Maler und ein Meister der Artillerie. Mir fehlen alle drei Beglaubigungen, allein, ich sehe das Gleichnis, und dies genügt einstweilen für die Darstellung, die den Vergleich nicht durchführen, sondern nur andeuten will.

Was sich uns als physikalische Tatsache, als Lebensvorgang darstellt, ist im letzten Grunde eine Bewegung kleinster Teilchen. Das Experiment hat hier einen Sieg über die Logik erfochten. Denn während der Verstand sich bei keiner unteren Grenze für die Grenze einer Körperlichkeit beruhigt, führt der Versuch mit zwingender Gewalt auf sehr kleine Einheiten, die ihren Eigenwert trotzig behaupten. Diese Kleinkörper, Atome, Korpuskeln, sind von einem unstillbaren Bewegungsdrang erfüllt. Alles sinnfällige Geschehen in der Natur muß als der großgefaßte Ausdruck dieser Bewegungen im Kleinsten gedeutet werden. Die Atome werden geschleudert, rennen gegen sichtbare und unsichtbare Wände, hämmern, klopfen, bombardieren. Wo der Atomist eine Darstellung liefert, ein Naturgeschehen beschreibt, wird er unweigerlich auf den Vergleich mit der Geschoßwirkung gedrängt. Die Ausdrücke: Projektile, Geschoßhagel, Bombardement kehren immer und immer wieder. In seiner Beschreibung wird die ganze Natur zum Schlachtfeld, zum Belagerungsschauplatz. Jeder feste Körper, jede Flüssigkeit, jedes Gas verwandelt sich in ein Arsenal, das die ungeheuerlichsten Kräfte aufspeichert, um sie unablässig zu verfeuern. Jede chemische Wirkung, jeder Gasdruck, jedes Kräftespiel und jedes Wahrnehmen durch erregte Nerven löst sich, auf die Grundformel gebracht, in ein Artilleriefeuer der Atome auf, bei dem einem unendlichen Waffenvorrat eine unendliche Munitionsverschwendung gegenübersteht. Mit der ersten Bewegung im Weltenchaos hat sie begonnen, und seitdem währt die Geschütztätigkeit trommelnder Atome und Moleküle von Pol zu Pol des Universums. Jedes Molekül greift an und wird angegriffen, nur darauf bedacht, Energien zu entfalten und zu erwidern. Und selbst in kleinen Räumen entwickeln sich Energien, die, an den Bombardements feindlicher Menschenmächte gemessen, höchst ansehnliche Stärkemaße darbieten.

Ich wähle das Beispiel eines ganz friedlichen Menschen, der weder daran denkt, gewaltige Schläge zu führen, noch in die Lage gerät, einen Ansturm feindlicher Gewalten auszuhalten. Dieser Mann – nennen wir ihn Placidus – füllt seine Lungen mit einem täglichen Maß von ungefähr 740 Gramm Sauerstoff. In ruhigen Atemzügen verbraucht er eine Gasmenge, die nach Ausweis der darin bewegten kleinsten Gaskörper eine Energie von rund 8000 Meterkilogrammen darstellt, also eine Kraft gleich derjenigen, die ein Kilogramm Masse auf einem Wege von acht Kilometern, oder eine Masse von 8000 Kilogramm in der Bewegung eines Meters leistet.

Der Kriegstechniker nimmt an, daß schon zehn Meterkilogramm imstande sind, einen Krieger außer Gefecht zu setzen, vorausgesetzt, daß die durch dieses Maß bezeichnete Kraft unzerteilt ein Lebensorgan des Soldaten trifft. Mithin spielt sich in der Lunge jenes Placidus ein Gasvorgang ab, dessen lebendige Kraft, richtig verteilt, ausreichen würde, um ein ganzes Bataillon feindlicher Truppen zu überwältigen. Die Lunge des einzelnen hält dieses Bombardement nicht nur recht gut aus, sondern sie würde sogar mit nachdrücklichen Krankheitserscheinungen ihren Protest anmelden, wenn man ihr von der bombardierenden Gasleistung einen nennenswerten Teil entziehen wollte.

Aber unser Herr Placidus atmet ja nicht nur reinen Sauerstoff; er verbrennt täglich ein halbes Pfund Kohle im Atmungsvorgang, er macht sich als essendes, trinkendes und verdauendes Wesen zum Herd umfangreicher chemischer Wirkungen; er erträgt ferner mit jedem Quadratzentimeter seiner Haut einen doppelpfündigen Luftdruck; er entwickelt in allen Zellen, im Kreisen der Säfte selbst bei friedlichster Beschäftigung eine Summe von Arbeitskräften, kurzum, er stellt einen Tummelplatz molekularer Stöße dar, deren Summe über jede Berechnung hinauswächst. Was Placidus als Einzelarbeiter zu leisten vermag, umfaßt freilich nur den bescheidenen Bruchteil einer Pferdekraft; was er aber in seiner Eigenschaft als Atomspeicher, als Schauplatz wirbelnder, hagelnder, auf die Haut prasselnder, gegen die Gefäßwände stürmender Moleküle aushält, läßt ihn als einen Riesen von den mythologischen Maßen des Atlas erscheinen. Der Energievorrat der kleinsten Teilchen, die ihn durchdringen und im Laufe eines Manneslebens umspielen, ist nach Meterkilogrammen nicht aufzuschreiben, aber man darf annehmen, daß er ausreichen würde, um die größten Armeen der Welt zu überwinden und in die stärksten Festungswerke Bresche zu legen.

Die einzelnen Geschosse, die solches Bombardement verüben, und die sich dem Physiker je nachdem als Atome, Moleküle, Ionen, Elektronen vorstellen, halten sich allesamt in überaus winzigem Kaliber. Selbst das Ultramikroskop zeigt sie noch nicht in Figur, sondern verrät nur gewisse Erscheinungen, die mit ihren tobenden Tänzen zusammenhängen. Aber auf einigen Umwegen und mit kräftiger Phantasiehilfe kann man hier schon, wenn auch nicht einer Vorstellung, so doch einer Ahnung nahekommen: Um Geschoß mit Geschoß zu vergleichen, nehmen wir ein Schrotkorn Nr. 7 und lassen uns von einem geschickten Metallkünstler aus einem Korn hundert winzige Bleikügelchen formen. Der Ausdruck »Vogeldunst« wäre auf solches Kleinkaliber kaum noch anwendbar; aber für einen Fabelzwerg, der auf Käfer Jagd macht, bliebe es immer noch ein Projektil, dem unbewaffneten Auge bliebe es erkennbar, und eine feine Wage würde uns anzeigen, daß diese eben noch sichtbare Schrotkugel ziemlich genau einem Milligramm entspricht.

Dieses Körnchen wählen wir zur Einheit, um auf sie die Atomgeschosse zu beziehen; wir fragen: wieviele Atome müssen bombardierend in die Welt hinausfliegen, damit der gesamte Munitionsverbrauch den Wert und die Masse solchen Körnchens erreicht, also zur Höhe des Begriffs »Schrotkugel« emporwächst.

Um dies zahlenmäßig festzustellen, bedienen wir uns zweckmäßig des Ausdrucksmittels der »Milliarde«, die sich ja in neuerer Zeit zu einer gutbeglaubigten Rechnungsgröße entwickelt hat. Und nunmehr läßt es sich ganz einfach aussprechen: man fasse eine Milliarde von Wasserstoffatomen als ein einziges Lademaß auf, man erhöhe dieses Maß abermals im Verhältnis von einer zu einer Milliarde, und man gelangt damit genau an den tausendsten Teil jenes Bleikügelchens, das wir vorhin eben noch als winzigstes Geschoß ansprechen durften. Anders ausgedrückt: das Gewicht eines Wasserstoffatomes ist gleich einem Gramm, dividiert durch 10 zur 24. Potenz. Das einzelne Atom ist also keine gefährliche Waffe; ihrer tausend Trillionen müßten zusammenwirken, um einen Feuereffekt zu erzielen wie das Bleikügelchen bei gleicher Geschwindigkeit. Aber sie schaffen es mit der Zahl, der gegenüber sich die Trillionen ins kleinste Einmaleins verkriechen, und mit Geschwindigkeiten, die alle Flüge aus Haubitzenschlünden als Stillstand erscheinen lassen.

Eine Armee von Luftatomen will in eine Festung eindringen, in ein luftleeres Glasgefäß vom Inhalt eines Liters. Andere Atomwirkungen haben vorgearbeitet und in Gestalt eines ultramikroskopischen Loches die Bresche geöffnet. Nun ergießt sich das Meer in wütendem Anprall in das Innere des Glases. Mit gewaltigem Durchmarsch stürzen in jeder Sekunde zehn Millionen wehrfähiger Luftteilchen in die Höhlung, und sie setzen diesen Angriff fort, bis das vorher evakuierte Gefäß wieder bis zum normalen Druck gefüllt ist. Aber der Anfang dieser Erstürmung und ihr Ende liegen weit auseinander. Die zehn Millionen pro Sekunde verlieren sich in dem Glasraum wie in einem Universum, und hundert Millionen Jahre müssen verstreichen, ehe die strategische Aufgabe erfüllt ist.

Aber Ruhe tritt auch dann noch nicht ein. Immer wieder erspäht das Atom einen Feind, eine Mauer, einen Widerstand, immer wieder regt es sich in äußerster Friedlosigkeit gemäß seiner inneren Natur eines Projektils mit endloser Flugbahn. Die Möglichkeit eines Waffenstillstandes ist ihm fremd, trotz scheinbarer Erschöpfungszustände, denen es zuweilen in Spaltung und Zerfall anheimfällt. Denn die Splitter des Atomes sind immer nur die Erben des Alten, prallwütige Allerkleinstkörper, deren Sturmlust und Bombardierdrang alle Abenteuer von unterwegs überdauert.

Neuerdings weiß man, oder glaubt man zu wissen, daß nicht nur die Körper, sondern auch die Kräfte eine atomistische Struktur zeigen. Vielleicht auch die Gedanken, die Empfindungen, der Ablauf alles Geistigen? Da öffnet sich eine Perspektive: Könnte nicht alles, was wir an betäubenden Tatsachen, an Haß und Opfermut, an Wundern der Technik und an Wundern der Seele erleben, im letzten Grunde ein uns verständliches Spiegelbild jener Atomkämpfe sein? und zugleich eine Mahnung des Weltgeistes, den Schlüssel zu allen Rätseln im allerkleinsten zu suchen? Aber hinter diesem »Vielleicht« erhebt sich ein anderes mit größerem Anspruch auf Wahrscheinlichkeit. Es kann gelingen, zwischen dem Bombardement im kleinen und großen neue Brücken der Erkenntnis zu bauen. Diese Brücken werden Gleichnisse sein, aber keine Erklärungen. Und eines dieser Gleichnisse wird – vielleicht – die verborgenen Zusammenhänge, kaum erahnt, wieder fallen lassen:

Ein Wechselspiel von ew'gem Her und Hin,
Aus Prall und Stoß gestaltet sich Erregung;
Wohin es führt? – der Frage fehlt der Sinn,
Das Ziel ist nichts, und alles die Bewegung!


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