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Einen hübschen Stapel Druckblätter hatte ich mir auf der Bettdecke aufgebaut und daran las ich bis gegen Mitternacht mit halbschläfrigen Augen; Sonderberichte von den Fronten, Naumanns mitteleuropäische Studien, und was sonst so die Zeit bewegte. Da war auch ein älterer Artikel von einem gewissen A. M. »Der gestreckte Tag«, mit dem Vorschlag, die Sommerzeit zu verlängern. Aha, dachte ich, das mag auch mit den Anstoß zu der neuen Einrichtung gegeben haben. Allein bald darauf schweifte ich über den Anzeigenteil einer Zeitung, und da blieb ich an folgendem Inserat haften:
Einige gut erhaltene Wochen und Monate, wenig gebraucht und daher wie neu, sind preiswert zu verkaufen. Näheres im Bureau der Zeitbörse, Berlin-Charlottenburg.
Was Tausend! so was existierte, und davon hatte ich keine Ahnung. Freilich, vorgeahnt war das ja schon lange und als unverwirklichte Forderung aufgestellt. Auf meinem Nachttisch lag ein Band Schopenhauer, den schlug ich auf, und da fand ich auch gleich die richtige Stelle: »Es wäre gut, Bücher kaufen, wenn man die Zeit, sie zu lesen, mitkaufen könnte!« Der also hatte bereits die Zeitbörse geahnt oder wenigstens gewünscht; und nun war sie wirklich vorhanden.
Aber wo?? – das mußte ich sofort ermitteln.
Ich sprang mit beiden Beinen aus dem Bett, nahm mir nicht einmal die Zeit, mich anzuziehen, stürmte die Treppen hinunter, schloß das Haustor auf und stand auf der Straße. Wie man eben so dasteht, wenn man geradewegs aus dem Bett kommt, also im Nachthemd. Denn Pyjama trage ich grundsätzlich nicht. Nach wenigen Schritten traf ich einen Schutzmann. »Können Sie mir vielleicht sagen, wo hier die Zeitbörse ist?« – »Ja, natürlich. Sie sind ja dichte bei, da drüben am Palasttheater, wo alles so hell erleuchtet ist.« Das traf sich gut, daß da auch Nachtbörse gehalten wurde. Geld hatte ich zwar nicht bei mir, aber das machte nichts, ich würde mich schon mit den Leuten verständigen.
Gleich war ich drin im großen Saal und ging auf den erstbesten zu, der mit den Händen in den Hosentaschen nachlässig an einer Säule lehnte.
»Sind Sie vielleicht der Herr, der die wenig gebrauchten Wochen und Monate zu verkaufen hat?«
»Stimmt schon,« sagte der andere; »wieviel brauchen Sie denn?«
»Viel und wenig, wie man's nimmt. Die Hauptsache ist, ob Sie mir die Ware sofort liefern können.«
»Selbstverständlich, 's ist alles da. Wir machen hier an der Zeitbörse überhaupt nur glatte Geschäfte. In mir speziell sehen Sie einen geborenen Nichtstuer, der sein Lebelang die Zeit niemals gebraucht hat. Totgeschlagen hab' ich sie auch nicht, folglich existiert sie zu meiner freien Verfügung. An jedem Tag, den der Herrgott werden ließ, habe ich mindestens zehn Stunden gespart und auf die hohe Kante gelegt; so was summiert sich, und heute besitze ich ein Prima-Lager von Monaten und Jahren, an die kein Rost und kein Mottenfraß herangekommen ist. Also wieviel brauchen Sie?«
»Eigentlich nur zehn Minuten,« erklärte ich. »Mir fehlen zu allen Verrichtungen des Lebens zehn Minuten. Beim Schlafen, beim Ankleiden, bei den Mahlzeiten, bei der Arbeit, bei allem, immer sind es zehn Minuten, die ich nicht aufbringen kann. Bei jeder Verabredung fehlen sie mir, bei jedem Theaterbesuch, bei jeder Abreise verspäte ich mich um zehn Minuten, bei jeder Leistung bin ich mit zehn Minuten im Verzuge. Sogar bei meiner eigenen Hochzeit ging ich zehn Minuten nach, und der Standesbeamte fing schon an zu trauen, als ich atemlos herbeisauste. Nach meiner festen Überzeugung bin ich zehn Minuten zu spät auf die Welt gekommen; und diese knappe Zeitspanne habe ich später mit aller Gewalt nicht wiedereinholen können. Mit meiner Zeit ist es wie mit einer falsch zugeknöpften Weste. Ich kann knöpfen so lange ich will, jeder Knopf kommt ins falsche Loch. Und die zehn Minuten, die mir heute fehlen, sind immer noch dieselben, die mir schon als Junge fehlten, wenn ich genau um zehn Minuten zu spät in die Schule kam.«
»Lassen Sie mich zufrieden!« knurrte der Zeitverkäufer. »Mit solchen Lappalien geben wir uns nicht ab. Wir sind hier keine Markthalle und kein Trödelkram, sondern eine Börse. Unter einer Woche gebe ich nicht ab, und die kostet tausend Taler!«
»Her damit!« rief ich; »ich nehme die Woche und lege den Rest von 6 Tagen, 23 Stunden und 50 Minuten auf städtische Sparkasse.«
»Erst Geld zeigen! Sie sind ja im Hemde, wie wollen Sie denn bezahlen?«
»Ja, Bares habe ich freilich nicht bei mir, aber ich besitze ein Depot auf der Diskonto-Gesellschaft und hebe dort sofort den Betrag ab; warten sie einen Moment, ich bin gleich wieder zurück.«
Vorläufig wußte ich: mir war geholfen. Wenn schon nach Schiller ein Augenblick gelebt im Paradiese nicht zu teuer mit dem Tod bezahlt wird, so konnte ich für volle sechshundert Sekunden getrost dreitausend Emmchen anlegen. Meine einzige Sorge war nur: ich würde mich auf dem Wege zur Bank hin und her wieder um zehn Minuten verspäten, und dann war mein Lieferant vielleicht schon fort. Aber nein! Er würde warten, denn er war ja Zeitbesitzer, ein wahrer Krösus an Minuten!
Draußen war es schon ganz hell geworden. Stimmen brüllten hinter mir her: der hält woll Berlin für'n Freiluftbad! Ein Verrückter! Schmeißt doch den Kerl in'n grünen Wagen! Na, dem werden se auf Polizei eine nette Badehose überziehen! Fäuste griffen nach mir. Ich wehrte mich, stieß um mich, und stieß
– mit der Faust gegen den Nachttisch; was meine Faust erheblich stärker spürte, als das Möbelstück.
Mein rascher Blick beim jähen Erwachen fiel auf die Uhr. Erst sieben! Gleichzeitig hallten die Glockenschläge von der Gedächtniskirche durchs Fenster. Schon acht Uhr! Die neue Sommerzeit! Eine vortreffliche Errungenschaft, aber vorerst mit runden sechzig Minuten vorausbezahlt! Und die Folge? Mir werden bis zum ersten Oktober nicht bloß die altgewohnten zehn Minuten, sondern eine Stunde und zehn Minuten fehlen!