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Großmutter sitzt sonst teilnahmslos am Fenster und starrt leer hinaus. Das heißt, wir meinen leer. Sie selbst – nun früher hatte sie vor diesem Fenster einen Spiegel, in alten Zeiten hieß man das Spion, durch den man alle Leute auf der Straße schon von fern erspähen konnte. Der Spiegel erblindete. Später zerschmissen ihn Straßenbuben. Durch den leeren Rahmen blickte unverwandt die Ahne ihres Lebens Straße auf und ab. Was im Zimmer um sie vorgeht, davon schlagen nur verworrene Laute an ihr Ohr, das hineinhorcht in Vergangenheiten.
Auf einmal hebt sie ihren weißen Scheitel, ihre guten Kinderaugen haften mir am Munde: »Nimm mich mit, Fritz.«
Wir sind bestürzt: »Du hast verstanden – ?«
»– daß dich deine Reise in die große Stadt führt, wo auch ich einmal – ja, vor fünfzig Jahren mag es wohl gewesen sein – oh, Kinder war das schön – gelt, ich darf mit?« Sie ist achtzig. Sie kann heute oder morgen abgerufen werden. Aber kann das nicht ein jeder? Ich versuche es mit einem andern Einwand: »Mein Zug geht aber in zwei Stunden schon.«
»Ich bin in einer fertig, lieber Enkel.« Ungläubigkeit im Kreise.
»Bitte, Kinder, damals konnte ich in einer halben Stunde fertig sein.«
»Auf der Hochzeitsreise.«
*
»Kind,« sagte sie im Abteil, als der Schnellzug immer näher an die große Stadt heranklirrte. »Kind, weißt du, wo wir übernachten werden?«
Ich zeigte ihr im Fahrplan eine Inseratenseite. »Wir haben die Wahl.«
»Du vielleicht, nicht ich. Ich wohne in der goldnen Gans.«
»Gibt's denn die?« sagte ich ungläubig.
»Aber Kind, wenn ich doch auf meiner Hochzeitsreise –«
Sie unterbrach sich, wurde rot und schaute aus dem Fenster.
»Und wie gut man aufgehoben war,« ergänzte sie nach einer Weile schüchtern. Ich nickte.
»Und so gar nicht teuer – denke dir, nur 75 Pfennige das Bett.«
»Hm, und die Betten selber –?«
»Sehr gut, Kind, und zwanzig Pfennig für reichlich zugemessenes Frühstück, ist das teuer?«
»Märchenhaft.«
»Bitte, das sind keine Märchen, das ist Wahrheit – nun, du wirst dich selber überzeugen.« Am Bahnhof standen Reihen glänzender Hotelbemützter: Grandhotel, Hotel Esplanade, Savoy-Hotel ... Ich wandte mich an einen Auskunftsmann: »Bitte, Gasthof zur goldnen Gans?«
»Gibt's nicht,« sagte er verächtlich. »Siehst du –« wandte ich mich um. Aber sie stand nicht mehr da. An einem Wagen stand sie, die Lorgnette hochgeschoben. Frohlockend kam sie auf mich zugetrippelt, faßte mich am Ärmel, zog mich, wies auf die goldne Wagenaufschrift. – »Siehst du, siehst du!«
»Ich sehe, da steht nur Savoy-Hotel.«
»Drunter, drunter!« Wahrhaftig, drunter stand in Kleinschrift, kaum zu sehen, schamhaft eingeklammert: Goldne Gans.
Wir saßen allein in dem großen tutenden Wagen, welcher durch die Straßen fauchte. Sie hatte selig meine Hand ergriffen: »Alles noch wie damals –«
»Na, Auto seid ihr kaum gefahren.« Sie hörte nicht. Sie glänzte: »Paß auf, jetzt um die nächste Ecke – hab ich's nicht gesagt, da ist sie.« – »Sie?« – »Die Goldne Gans – weißt du, Kind, ich könnte sie im Dunkeln finden – kaum verändert übrigens.«
»Wie, schon damals dieser riesiglange Gasthof?«
»Ach, Kind, es kommt nicht auf die Länge an.« – »Und sechs Stockwerk?«
Fast böse schaute sie. »Zählt ihr jetzt Stockwerke auf der Hochzeitsreise?«
»Und diese Flügeltüren –?« – »Alle Türen hatten Flügel.« Im Vorraum stand der Grußdirektor. Er verbeugte sich feierlich. Sie sah ihn forschend an: »Sie sind der Sohn, nicht wahr?« Der Würdevolle ward verlegen. Sie deutete es falsch und schlug, so alt sie war, kokett nach ihm mit ihrem Stielglas: »Verstellen Sie sich nicht, ich weiß es besser – ganz der Vater – Bichelsberger – Anton Bichelsberger –«
»Bitte sehr, ich heiße Bottner.« Sie hörte wieder nicht. Sie strahlte: »Und erst seine Frau – das war eine Wirtin, Kinder.« Der Pförtner schob uns Formulare hin. Sie sah mich fragend an.
»Unsere Namen – eintragen –« »Papperlapapp – wird uns wohl noch kennen.«
»Mich kaum, auch meine Eltern nicht, und ob dich –?«
»Müller,« stellte sie sich dem Betreßten vor, »Julie Müller – ich steige immer hier ab, immer –«
»Gewiß, gewiß,« verneigte sich die Mütze.
»Siehst du – sagen Sie, der alte Kappler lebt wohl nicht mehr?«
»Kappler? Kappler? Einer von den Vorbesitzern, gnädige Frau?«
»I wo, der Hausknecht – das war einer – Hochzeitspaare hätte der auf seiner Schulter spielend von der Bahn hertragen können.« Man hatte sich um uns gesammelt. Man hörte lächelnd von vergangnen Gasthofzeiten. Man nickte meiner alten Dame zu: »Ja, damals ...« Dann fuhren wir im Lift hinauf.
»Den hat es zu deinen Zeiten nicht gegeben – mühsam habt ihr Treppen steigen müssen, gelt?«
»Mühsam? Daß ich lache! Man ist damals auch geflogen, immer je drei Stufen.« Das Zimmermädchen wies uns unsere Zimmer: »Bitte, die Herrschaften, 354 und 356.«
»Nummern?« mißbilligte sie, »ist das nötig – sind Sie verwandt mit Bichelsberger, Fräulein – was sollen diese Hähne hier – wie, kaltes und warmes Wasser – hab ich nicht bestellt – werd' ich nicht bezahlen – ihr seid viel zu luxuriös, das ist vom Übel, Kindchen.« Andern Morgens hörte ich, sie sei schon über eine Stunde aufgestanden, sei treppauf treppab gewandert in dem ganzen Hause ...
»Hör mal,« sagte ich beim Frühstück, »hast du irgend was gesucht?« Ein wunderschönes Spätrot überzog langsam ihr helles Gesicht: »Gesucht? Ja, aber nicht gefunden, weißt du, wo wir damals wohnten, Max und ich –«
Sie war richtig schon vorausgegangen an den Bahnhof, als ich nachmittags die Rechnung zahlte. Lächelnd wehrte der Portier mein Trinkgeld ab: »Hat die Dame schon erledigt, bitte.« Wieder unterwegs mit ihr im Zuge, sah ich sie in ihrer Ecke gegenwartsverlassen glücklich lächeln. Sie erlebte ihre Hochzeitsreise wieder.
»Es war so schön,« sagte sie laut, daß die Mitreisenden die Köpfe hoben. Ich schämte mich, daß ich mich schämte: »Ja,« bog ich's um, »es ist ausgezeichnet, das Savoy-Hotel.«
»Kenn' ich nicht, du meinst die Goldne Gans?«
»Hm, sag mal, warum hast du denn das Trinkgeld für uns zwei voraus bezahlt?«
»Trinkgeld?« drohte schalkhaft einer ihrer Zeigefinger, »sieh mal den Verkleinerer; die ganze Rechnung habe ich bezahlt, mein Lieber, ich hatte den Betrag noch gut im Kopf von damals, als es Max bezahlte – gelt, du wunderst dich – ja, wir Alten wollen auch einmal splendid sein, lieber Enkel ...«