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Meine Tochter steht vor der Schlußprüfung. Wo sie steht und geht, wirft sie mit Knochen um sich. Nicht mit den ihren – meiner Tochter Molligkeit erschwerte da den Zugriff. Auch nicht mit den Knochen andrer Leute, die sich's kaum gefallen ließen.
Sondern mit den Knochen ihrer Bücher. In diesen Knochen wird sie ja geprüft. Diese Knochen bilden doch das Lehrgebäude zweier Jahre: Staatliche Gymnastiklehre für die Krankenpflege.
Gewiß, es geht nicht nur um Knochen. Sondern auch um Dinge drumherum. Drumherum sind Muskeln, Sehnen, Adern, Nerven. Auch, was man so gemeinhin Seele nennt, ist zwischen das Gerüst der Knochen eingebaut und kann nicht gut umgangen werden, wenn man in der Heilgymnastikprüfung sich nicht selbst blamieren will bis auf die Knochen.
Ein Zeugnis: »Verlässig und tüchtig bis auf die Knochen befunden,« hätte wenig Wert.
Darum also ochst die Liesel nun seit Wochen nur mehr Knochen. Ich habe in ihr Lehrbuch einen Blick geworfen. Da gab es: dicke, kurze, lange und gemischte Knochen, Röhrenknochen, Rippen, Wirbelknochen, Schädelknochen, Schienbeinknochen, Beckenknochen, zweihundertdreizehn Knochen insgesamt, die Zähne ungerechnet.
Die Liesl bleibt vor jedem Metzgerladen stehen. Nicht des Fleisches wegen guckt sie in die Suppentöpfe. Auf einem Bauernfriedhof hatte ich nicht wenig Mühe, sie von einer Knochenkammer loszureißen.
»Liesl,« sag ich, »willst du heute ins Theater?«
»– zweiter Halswirbel oder Epistropheus,« nickt sie überm Buch und ordnet sich die Haare.
In diesem Stücke ereignete sich ein hinreißender Kniefall eines Helden vor der Heldin. Die Liesl nickte wieder und zählte murmelnd alle siebzehn Knochen auf, woraus ein Knie gebildet ist.
Im nächsten Akte gab es einen Zweikampf. Einer fiel. »Falsch gefallen,« murmelte die Liesl, »du sollst sehen, Vater, diese Lage hält kein Knochen aus.« Wahrhaftig, schon beim zweiten Absatz der Siegesrede seines Gegners drehte sich der Tote auf die Seite.
Da bekam ich doch Respekt vor meiner Tochter.
»Wenn's dir Spaß macht,« sagte sie, »besuch uns morgen im Kolleg, im Hörsaal hinten sitzen öfter alte – ältre Leute – morgen kommt der Gang dran.«
»Der – was?«
»Die Entstehung des Ganges.«
»Kenn ich.«
Sie starrte mich an. Sie bekam Respekt vor ihrem Vater: »Wie, den kennst du?«
»Natürlich. Hatten wir in der Geographie. Kommt vom Südabhang des Himalaya.«
Sie zuckte mit den Schultern. Beziehungsweise mit den Schlüsselbeinknochen. Der Respekt war fort. Spöttisch sagte sie: »So einfach, lieber Vater, ist die Entstehung unsres Ganges nicht – nun, du wirst dich morgen überzeugen.«
Am nächsten Morgen saß ich sehr bescheiden in der hintren Hörsaalecke. Vor mir die Studenten, die Studentinnen. Noch weiter vorne am Katheder der Professor.
»Der Gang,« begann er, »beginnt damit, daß der Körper vorwärts in Fall gesetzt wird.«
»Jetzt da schaug her,« sagte jemand neben mir, »Ham Sie des scho gwißt?«
»Es genügt mir, daß es unsre Kinder wissen – Sie haben auch wohl eine Tochter hier?«
»Ein' Buam. D' Muatter hätt 'n gern auf geistlich gsehn, er hat a Lehrer werdn wolln – no ja, vielleicht is des da vorn die Mitt'.«
»Dabei wird der Fuß durch eine leichte Biegung im Knie gehoben und schnell dicht über den Boden hingeführt,« sagt der Professor, »bis er mit der Ferse ein wenig früher als mit dem Fußblatt aufgesetzt und mit beinahe gestrecktem Knie etwas nach außen gedreht wird, wobei inzwischen der andre Fuß den Körper vorwärtsschiebt und die Arme in parallelen Bahnen frei und ungezwungen an den Körperseiten vorbeischwingen.«
»Ham jetzt Sie des verstanden?« sagte mein Nachbar.
»Natürlich, es ist ganz einfach.«
»So, also nacha sagn S' 's nomal.«
»Frei und ungezwungen vorbeischwingen.«
»Was schwingt?«
»Die Arme.«
»Die Arm'? ja, geht man denn mit die Arm'?«
»Man sollte meinen,« lehrte das Katheder weiter, »daß alle Menschen den Gang richtig und zweckmäßig ausführen würden, da es keine andre Bewegung gibt, die so oft und von so frühem Alter an geübt wird wie diese.«
»Des [moant] ma net nur,« sagte mein Nachbar, »des is aa a so.«
»Dem ist aber nicht so,« sagte der Professor, »das Gehen ist nämlich in Wirklichkeit eine so zusammengesetzte Arbeit, daß sich dabei Gelegenheit für viele Fehler und unschöne, Kraft verschwendende Bewegungen bietet –«
»Sollt ma' net glaub'n,« sagte mein Nachbar bekümmert.
»Schreiben Sie, meine Herren und Damen: Die Fahrt des Körpers beim Gehen wird im wesentlichen dadurch hervorgebracht, daß der hintenstehende Fuß sich abwickelt –«
»Han?« neigte mein Nachbar das Ohr zu mir.
»Sich abwickelt.«
»Was wickelt sich ab?«
»Der Fuß.«
»Net mögli' – wie r a Strickknaul? – 'na wär' er ja nimmer da, der Fuaß?«
»Damit die Abwicklung dem Körper den stärksten Stoß vorwärts geben kann, muß der Fuß an der Stelle stehen, die der Richtung des Ganges am nächsten ist, so daß also eine Linie von der Mitte der Fersen durch die große Zehe gerade nach vorwärts zeigen müßte –«
»Wia er's nur rausbracht hat?« wunderte sich mein Nachbar.
»Experimentell,« sagte ich.
»Net zum glaubn – was 's net alls gibt!«
»Man verliert bei jedem Schritt drei bis vier Zentimeter, hat also bei jedem Kilometer an die hundert Schritte mehr zu machen, wenn man die Füße ein wenig seitwärts dreht –«
»Wer schaffts eahm denn an, daß er so damisch geht?« rief hier mein Nachbar, der sich nicht mehr halten konnte, »der damische Hanswurscht!«
Alle sahen sich um. Der Professor streckte den Arm aus: »Sie haben hinauszugehen!«
Mein Nachbar erhob sich, stand und setzte sich.
»Haben Sie mich verstanden: Gehen sollen Sie!«
Er erhob sich, stand und setzte sich.
»Wenn Sie nicht sofort gehen –«
Er erhob sich zum drittenmal, stand, schlenkerte mühsam einen Fuß und ächzte: »I gaang scho, bal' i no könnt – i kann ja nimmer.«
»Warum können Sie nicht?«
»Weil – weil,« starrte er verzweifelt auf den verkrampften Fuß hinab, »weil er si' net abwickelt, des Luader, des miserablige, des hundshäuterne ...«