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XX. Die Entdeckung des Kronprinz Gustav-Kanals.

Plan und Ausrüstung für die Schlittenfahrt. – Ein missglückter Start. – Der Wind weht das Zelt um. – Wir kehlen nach der Station zurück. – Ein neuer Versuch. – Der Kronprinz Gustav-Kanal, seine Natur und seine Umgebungen.

 

Dass ich auch in diesem Jahr eine Schlittenfahrt unternehmen würde, daran zweifelte ich keinen Augenblick. Eine solche Fahrt hatte jetzt, wo die uns umgebende Natur mir nicht mehr neu und unbekannt war, einen ganz andern Reiz für mich. Auch bedeutete der Einsatz an harter Arbeit, deren Lohn je nach den Verhältnissen das grosse Los oder nur eine Niete werden konnte, unter allen Umständen die herrlichste Befreiung aus der langen Einförmigkeit. In Bezug auf das Ziel meiner Fahrt war ich keineswegs unschlüssig. Es erschien allerdings sehr verlockend, an der Hand der gewonnenen Erfahrungen einen abermaligen Versuch zu machen, in derselben Richtung wie im vergangenen Jahr nach Süden vorzudringen, aber weder in geographischer, noch in naturwissenschaftlicher Beziehung schien dieser Plan so viel zu versprechen wie ein anderer, den ich während des Winters entworfen hatte. Beim Betrachten der Karte von der Küste, die wir besucht hatten, trat ganz deutlich hervor, wie völlig unbekannt das nördlich von der Station gelegene Gebiet noch war. In geologischer Beziehung konnte man deswegen auf besonders reiche Ergebnisse rechnen, in Bezug auf die Geographie dieser Gegend war ich, ohne jedoch hinreichende Beweise für die Richtigkeit meiner Annahme zu besitzen, zu der Überzeugung gelangt, dass die grosse Bucht, die wir im vorigen Jahre hinter Kap Forster entdeckt hatten, sich mit der Bucht hinter Kap Gordon zu einem mächtigen, durchgehenden Kanal vereinige. Und diesen wollte ich nun in erster Linie erforschen.

Noch ein anderes Ziel hatte ich bei dieser Schlittenfahrt vor Augen, ein Ziel, das sich anscheinend nur im Winter erreichen liess. Wie bereits erwähnt, hatten wir erwogen, ob es für den Fall, dass sich die Eisverhältnisse während des kommenden Sommers als ebenso ungünstig erwiesen wie im vergangenen, möglich sein würde, später im Jahre über das Eis bis an das offene Meer vorzudringen, um dort im günstigsten Falle mit der zu erwartenden Entsatzexpedition zusammenzutreffen. Um dies ausführen zu können, war es von Bedeutung, die Verhältnisse im Norden im allgemeinen zu rekognoszieren. Ausserdem wollte ich an zwei Plätzen nach eventuellen Mitteilungen der vorjährigen Entsatzexpedition suchen, wo ich dann auch einen Brief mit Nachrichten über unsere eigenen Pläne zurücklassen wollte, für den Fall, dass ein Schiff früher dorthin kommen sollte, als zu uns. Nachträglich ist es höchst wunderbar, wenn man daran denkt, dass die beiden Plätze, die ich auf der Schlittenfahrt möglicherweise besuchen wollte, die Hoffnungsbucht und die Paulet-Insel waren, gerade die beiden Orte, wo unsere Kameraden um diese Zeit in düsterer Einsamkeit den Zeitpunkt erwarteten, an dem sie ihre Vereinigungsversuche mit uns beginnen konnten. Dass mein Plan, schon um diese Zeit über das Meereis dahin vorzudringen, unausführbar war, habe ich später erfahren. Wie gefährlich dies Unternehmen war, davon zeugt am besten der Umstand, dass mir meine Stationsgefährten, trotz der offenbar dadurch zu erzielenden Vorteile, auf das bestimmteste von der Ausführung abrieten. Hätten wir nur ein wenig mehr Aussicht gehabt, hierdurch etwas zu unserer Befreiung beitragen zu können, so würde sicher jeder gern den Versuch gewagt haben, aber gerade jetzt, wo der eigentümliche Nachwinter auf der einen Seite unsere Hoffnungen gesteigert, uns aber auf der andern einen klaren Einblick in die Gefahr hatte tun lassen, die mit allen Schlittenfahrten über das Meereis verknüpft ist, musste man befürchten, dass das Ergebnis dem Risiko nicht entsprechen würde.

In Bezug auf die Schlittenfahrten waren wir in diesem Jahre in mehr als einer Hinsicht ungleich günstiger gestellt, als im vergangenen. Unser Hundestamm war bedeutend grösser, die vier Veteranen von der früheren langen Fahrt waren noch alle am Leben, und als Ersatz für Kurre hatten wir zwei prächtige grönländische Hunde. Leider hatte Suggen, unser bester Hund, seinen Fuss an einem scharfen Eisen verletzt, so dass es fraglich war, ob er eine anstrengende Schlittenfahrt aushalten würde. Die jüngeren Hunde waren noch nicht zum Ziehen schwerer Lasten zu verwenden, konnten aber unsern zurückbleibenden Kameraden von grossem Nutzen sein bei der Herbeischaffung der Häute und des Fleisches der getöteten Seehunde und Pinguine.

Mit unsern Vorräten stand es nicht wesentlich schlechter als im Vorjahre. Der wichtigste Artikel für Menschen und Hunde, Pemmikan, war noch in ausreichender Menge vorhanden, ebenso konnten wir jederzeit auf Linsensuppe zur Nachtkost rechnen. In Bezug auf die übrigen Artikel mussten wir freilich sparsam sein, aber es war doch von allem noch genug vorhanden, um für die Schlittenreise denselben Küchenzettel zu machen wie im vergangenen Jahr, nur den Verbrauch von Zucker und Kaffee mussten wir wesentlich einschränken.

Am meisten aber rechnete ich auf die Erfahrungen, die ich im vergangenen Jahr gewonnen hatte. Es hatte sich gezeigt, von wie unschätzbarer Bedeutung es ist, über ein ausreichend starkes Hundegespann verfügen zu können, so dass man nicht genötigt ist, noch einen zweiten, wenn auch noch so leicht beladenen Schlitten mitzuführen, der von Menschen gezogen werden muss. Da es mir nicht praktisch erschien, unsere sechs Hunde auf zwei Schlitten zu verteilen, beschloss ich, diesmal nur einen Schlitten mitzunehmen. Gegenüber dem höchst wesentlichen Unterschied in Bezug auf Gewicht und Umfang, der darin bestand, statt einer Ausrüstung für drei Personen nur eine solche für zwei mitzunehmen, spielte der Nutzen, den eine dritte Person schaffen konnte, nur eine ganz verschwindende Rolle. Zwar hätten unsere Hunde möglicherweise auch eine Ausrüstung auf einen Monat für drei Personen ziehen können, trafen wir aber gleich zu Anfang auf schwieriges Eis, so hätte uns die schwere Last sicher viel Mühe gemacht, und unter allen Verhältnissen wäre unser Vordringen dadurch sehr verzögert worden.

Um das Gepäck noch mehr zu erleichtern und dadurch im stande zu sein, während der schönen Tage längere Strecken zurückzulegen, als dies sonst möglich gewesen wäre, beschloss ich, die in Aussicht genommenen Arbeiten auf zwei Fahrten zu verteilen. Während der ersten, längeren Tour, auf der mich Jonassen begleiten sollte, wollte ich, falls sich die Eisverhältnisse als besonders günstig erwiesen, entweder durch den Antarctic-Sund oder auf die Paulet-Insel zu vordringen. Nach der Rückkehr auf die Station wollte ich mich dann so bald wie möglich nach der Sidney Herbert Bay begeben, um den Einschnitt näher zu untersuchen, den wir auf unserer Fahrt mit der »Antarctic« im Februar 1902 gesehen hatten, und der vielleicht ein Sund war, dessen westliches Ende ich auf der ersten Schlittenfahrt zu erforschen hoffte. Nach Verabredung mit Sobral sollte dieser an der zweiten Expedition teilnehmen.

Abgesehen von dem Umfang, war unsere Ausrüstung dieselbe wie im vergangenen Jahre. Der Proviant war für uns persönlich auf ungefähr 30 Tage, für die Hunde auf ungefähr 20 berechnet. Ferner nahm ich ungefähr 18 Liter Petroleum mit, zwei Paar Schneeschuhe und einen reichlichen Vorrat an Reservekleidern. Wenn wir unser ganzes Programm ausführen wollten, galt es, unsere Fahrt so schnell wie möglich anzutreten. Indes ging der September bereits zu Ende, und noch hatten wir nicht einmal an einen Aufbruch denken können, obwohl das Gepäck fertig da lag, bereit an dem ersten schönen Tag auf den Schlitten geladen zu werden. Der 28. September war, ebenso wie die vorhergehenden Tage, kalt und stürmisch bei einer Windstärke von fast 20 m. Es sah also keineswegs ermunternd aus, und ich sagte am Abend zu Ekelöf, der die Morgenwache hatte, dass er gar nicht daran zu denken brauche, mich zu wecken, morgen würde ich auf keinen Fall die Fahrt antreten. Als ich um 6 Uhr erwachte, hörte ich, dass der Sturm nachgelassen hatte, und das Wetter schien auch klar zu sein. Ich stand schnell auf, um mich von den Witterungsverhältnissen zu überzeugen und fand, dass sie sich einigermassen günstig stellten, obwohl das Thermometer -25° zeigte und das Barometer auf nur 740 mm stand. Wir hatten indes so oft bei niedrigem Barometerstand gutes und bei hohem schlechtes Wetter gehabt, dass ich es fast für meine Pflicht hielt, die Gelegenheit nicht unbenutzt zu lassen. Als sich das Wetter nach einer Stunde noch mehr gebessert hatte, schwankte ich nicht länger, sondern weckte Jonassen und begann schleunigst mein Gepäck zu ordnen.

Noch ehe wir uns indes auf den Weg gemacht hatten, türmten sich an allen Ecken Wolken auf, und der Haddington-Felsen hüllte sich in Nebel. Eigentlich hätte man sich wohl hierdurch sollen warnen lassen; da wir nun aber so weit mit der Ausführung eines Beschlusses gekommen waren, erschien es mir wenig angenehm, ihn wieder zu ändern. Es war meine Absicht, zuerst bis zur Lockyer-Insel zu gelangen, wo wir Schutz zu finden hofften, selbst wenn uns ein Sturm überraschen sollte. Von dort sollte der Marsch an Kap Forster vorüber fortgesetzt werden, das Depot bei Kap Hamilton wollten wir dahingegen nicht berühren, es sollte als Reserve liegen bleiben für den Fall, dass das Eis auf dem Sunde aufbrach.

Die Schlittenfahrt beginnt

Auf dem harten, glatten Eis in der Nähe der Station ging der Marsch schnell von statten, und ohne Schwierigkeit konnte einer von uns auf der Last fahren, während der andere voran ging und den Kurs angab. Hinter Kap Hamilton verschlechterte sich das Eis, es war mit einer mehrere Zentimeter dicken, oben gefrorenen Schneeschicht bedeckt. Die Kruste war jedoch so dünn, dass Menschen, Hunde und Schlitten hindurchsanken. Die Wunde an Suggens Fuss brach wieder auf, infolge der beständigen Reibung gegen die Kante der Schneekruste, und das arme Tier hinterliess deutliche Blutspuren im Schnee. Im übrigen hatte ein beissender Südwestwind angefangen, uns gerade ins Gesicht zu wehen. Jetzt war keine Rede mehr davon, auf dem Schlitten zu sitzen, im Gegenteil, wir mussten den Hunden helfen. Dank den Schneeschuhen konnten wir uns jedoch einigermassen leicht vorwärts bewegen, und schon um 6 Uhr schlugen wir unser Lager am Fusse einer mächtigen Schneeschanze auf, die sich an der Nordseite der Lockyer-Insel angesammelt hatte.

Gleich nach 11 Uhr, als wir eben eingeschlafen waren, hörten wir einen brausenden Laut, zuerst aus weiter Ferne, dann immer näherkommend, und ehe wir es uns versahen, sauste der Sturm über uns dahin. Er kam in gleichmässigen Stössen, die das Zelt erschütterten und Massen von Schnee vor sich her trieben, wovon wir unser reichliches Teil durch die Zeltöffnung abbekamen. Am nächsten Morgen waren die Aussichten so schlecht wie nur möglich, von einem Verlassen des Lagerplatzes konnte keine Rede sein.

Der Tag ging langsam hin, war im übrigen aber ganz gemütlich, da es ja zu Anfang einer Fahrt immer viel zu bereden gibt. Aber wir hatten einen schlechten Zeltplatz gewählt; in dem Schnee unter dem Schlafsack bildete sich allmählich eine tiefe Grube, in die wir beide hinabsanken, einander gegenseitig drängend. Die Nacht wurde infolgedessen recht unbehaglich, und trotz der Kälte war es uns viel zu warm in dem zugestopften Schlafsack. In der Schwierigkeit, während der Nacht hinreichend Luft zu bekommen, ohne seinen Kameraden zu stören oder ihm Unbequemlichkeiten zu verursachen, liegt meiner Meinung nach der grösste Nachteil dieser für mehrere Personen berechneten Schlafsäcke.

Wir hatten gehofft, dass sich das Wetter bessern würde, aber der nächste Tag, der erste Oktober, wurde in dieser Beziehung fast noch schlimmer. Die Luft war infolge des Schneegestöbers ganz undurchdringlich, und der Wind kam mit gewaltigen Stössen, zwischen denen regelmässig eine unheimliche, fast erstickende Ruhe eintrat, eine Ruhe, wie mitten in einem Cyklon, während der man doch von weitem ununterbrochen das rhythmische Brausen des Sturmes vernahm, das an einen Wasserfall oder an die Brandung eines sturmerregten Meeres erinnerte. Wir mussten also ruhig im Schlafsack liegen bleiben. Späterhin am Tage kochten wir unser Mittagessen und versuchten dann, auszufegen und im Zelt ein wenig aufzuräumen, um es so gemütlich wie möglich zu machen.

Wir hatten uns wieder hingelegt und lauschten dem Sturm, dessen Stösse ungewöhnlich heftig waren, als ganz plötzlich, ohne vorhergehende Warnung, ein toller Stoss das ganze Zelt über unsern Köpfen zusammenwarf. Die Öse an der hinteren Zeltstange war losgerissen, wodurch das Zelttuch mehrere Löcher bekommen hatte. Ohne Rock und Schuhe anzuziehen, was unklug genug war, und auch ohne Fausthandschuhe eilte ich hinaus und löste die Stange, während Jonassen von innen Anstalten traf, um die Löcher notdürftig zusammenzunähen. Es war fürchterlich draussen im Sturm, wie kalt es war, weiss ich nicht, – auf der Station zeigte das Thermometer an diesem Tage -25°, – und der Wind wehte so heftig, dass man sich kaum auf den Beinen halten konnte. Die Schäden an dem Zelt waren recht beträchtlich; aber glücklicherweise gelang es uns, es soweit wieder in stand zu setzen, dass wir uns in unsern Schlafsack legen konnten; die eine Stange mussten wir freilich herunternehmen und den vorderen Teil herablassen und zum Teil mit Schnee belasten.

Unter diesen Verhältnissen hielten wir es für ratsam, nach der Station zurückzukehren, ehe wir die Fahrt fortsetzten. Es erschien uns auch vorteilhaft, die Vorräte zu ersetzen, die wir während dieser Tage ohne Nutzen verbraucht hatten. Die Hauptsache aber war, dass der Schaden an dem Zelt ausgebessert werden musste, nicht nur die notdürftig zugenähten Löcher, sondern auch die eine Bambusstange, die eingeknickt war. Ausserdem waren alle unsere Sachen feucht geworden und steif gefroren infolge des vielen Schnees, der in das Zelt hineingeweht war.

Die Nacht hindurch mussten wir freilich noch hier bleiben. Als es uns am nächsten Morgen gelungen war, uns aus dem Zelt herauszuarbeiten, das jetzt fast ganz im Schnee begraben lag, fanden wir das Wetter bedeutend besser, wenn auch noch keineswegs einladend zu einem so langen Marsch. Indessen klärte es sich gegen Mittag auf, und nun begaben wir uns auf die Wanderung. Wir hinterliessen den grössten Teil der Ausrüstung in einem grossen Depot, wodurch unser Schlitten sehr leicht zu ziehen war. Auf diese Weise ging es schnell heimwärts, und als wir an die alten Spuren in der Nähe der Station gelangten, konnten wir beide aufsitzen und mit dem Schlitten fahren. In 3½ Stunden legten wir auf diese Weise die Strecke von fast 30 km zurück, die uns von unsern Kameraden trennte. Ekelöf war der erste, der uns begegnete und fragte, ob uns ein Unglück zugestossen sei. Bald war alles erklärt, und nachdem wir für unser Gepäck Sorge getragen hatten, reihten wir uns schnell wieder in die alte Ordnung ein. Ein wenig ärgerlich war es uns, dass unsere so lange vorbereitete Expedition ein so jammervolles Ende gefunden hatte, aber wir redeten nicht viel darüber und nahmen uns vor, dass die Verzögerung nicht lange währen sollte. Schon im Laufe des folgenden Tages konnten wir alle erforderlichen Arbeiten erledigen. Ich übernahm am Abend die Nachtwache, um mein Tagebuch fertig zu schreiben, in dem u. a. folgende Reflexionen zu lesen waren: So unsicher wie in dieser Zeit habe ich mich selten gefühlt, und es wäre vielleicht ein Glück, dass das Unwetter käme und mir die Entscheidung über den Kopf hinwegnähme.

Am Morgen war das Zelt zum grössten Teil in Schnee begraben

Wir haben wieder Nordwestwind bekommen, das ist das grosse Ereignis des Tages, und es handelt sich jetzt nur darum, ob ihm ein Sturm folgen wird, oder ob dieser Wind anhält. Schon hat sich das Eis am äussern Rande ein wenig gelockert. Um diese Jahreszeit könnte das ja eine erfreuliche Nachricht sein, aber für unsere Schlittenfahrt ist solch Wetter keineswegs vorteilhaft.

Während der Nacht nahm der Westwind noch an Stärke zu, aber da wir den Wind im Rücken hatten und die Temperatur sich in der Nähe des Gefrierpunktes hielt, mussten wir doch wohl aufbrechen, um, ehe ein Umschlag in der Witterung eintrat, so weit wie möglich hinaus gelangt zu sein; als nun obendrein gegen Morgen Windstille eintrat, war denn auch keine Rede mehr von Warten. Niemand gab uns das Geleite auf den Weg, kein feierlicher Abschied bezeichnete den Anfang der denkwürdigsten Schlittenfahrt, die auf der ganzen Expedition gemacht wurde.

Das Gepäck war leicht, und wir brauchten uns nicht zu beeilen, um die Lockyer-Insel zu erreichen, wo wir auf alle Fälle die Nacht zubringen wollten. Wir schlugen unser Lager ein wenig von der Stelle entfernt auf, wo wir kürzlich so unangenehme Stunden verlebt hatten. Ich fand noch Zeit, eine Serie von Messungen an dem Vorgebirge vorzunehmen. Rings um mich her schwebten Scharen von Eissturmvögeln, die ihre Nester oben auf der steilen, dunkeln Basaltwand haben. Ununterbrochen hörte man ihre gurrenden, beinahe krächzenden Töne, die ungewöhnlich hart sind für einen so kleinen und dem Aussehen nach so ätherischen Vogel.

Am nächsten Morgen hatten wir Nebel und Schnee mit schwachem Wind aus Südwesten. Wir konnten uns aber ohne Gefahr auf den Weg machen.

Allmählich kamen wir nach Kap Forster und bogen um das Vorgebirge in die grossartige Bucht ein, die wir vor gerade einem Jahr zum ersten Male gesehen hatten. Auf den schwarzen Bergvorsprung hatte die Sonne stark eingewirkt. Aller Schnee war hier geschmolzen und das Eis blau und spiegelblank. Wir kamen über viele grosse Spalten und sahen eine ganze Herde von Seehunden, beinahe mehr als ich überhaupt seit Verlassen des Schiffes gesehen hatte. Wir sollten später im Kanal noch mehrere ähnliche Scharen antreffen. Eine langgestreckte Bucht schneidet nach Osten zu in das Land ein, eine eigentümliche Bergwand, schmal und zackig, läuft bis an den Strand hinab.

Draussen vor der Bucht lagen Unmengen von Eisblöcken, die in das Meereis eingefroren waren. Sie stammen wahrscheinlich von dem Gletscher drinnen, und es war sehr beschwerlich, sich mit dem Schlitten einen Weg hindurch zu bahnen. Wir wählten einen guten Lagerplatz und blieben die Nacht zwischen diesen Eisblöcken liegen. Ganz in unserer Nähe lagen einige Seehunde. Wir töteten ein Junges zur Speise für uns und die Hunde. Die Nacht sollte indes unruhig werden, wie sie es stets ist, wenn die grönländischen Hunde Seehunde antreffen. Stunde auf Stunde hörten wir ihr Gekläff draussen auf dem Eise, untermischt mit dem klagenden Geschrei der Mutter des getöteten Jungen, die allmählich dicht an unser Zelt herangekrochen kam.

Statt die folgenden Tage eingehend zu schildern, will ich hier einige Auszüge aus meinem Tagebuch wiedergeben.

Den 6. Oktober. Der Tag begann trübe und windig, besserte sich dann aber und ist im ganzen brillant gewesen. Das Eis war gut, aber ganz anders wie wir es auf der vorjährigen Schlittenfahrt kennen gelernt haben; wir sind über eine Menge Spalten und Unebenheiten, auch über tiefe Einsenkungen mit Wällen an beiden Seiten glücklich hinweggelangt. Dass es Meereis ist, sieht man an den Seehunden, die wir hier und da treffen, die Unebenheiten stehen vielleicht damit in Zusammenhang, dass das Eis nicht so alt ist, wie das, welches wir weiter südlich passiert haben. Nie werde ich das grossartige Panorama vergessen, von dem wir hier umgeben waren. Erst jetzt kann man sehen, welch weit ausgedehntes Wassergebiet wir entdeckt haben, mag es nun eine Bucht sein oder ein Sund. Man merkt, dass sich die Ufer allmählich einander nähern. Das Land auf unserer westlichen Seite, die Fortsetzung von König Oscar-Land, besteht aus einem hohen, zusammenhängenden Eisplateau, das deutlicher hervortritt, je weiter man sich davon entfernt. Davor liegen wilde Zacken und Kämme, auch isolierte Spitzen, oft von sehr regelmässiger Pyramidenform. Dem Meere zunächst erblickten wir oft einen breiten, zusammenhängenden Eissockel.

Ganz anders ist die Natur auf unserer Ostseite. Das Land zeigt dieselben Bergformen, wie wir sie von unserer Winterstation aus sehen, einen hohen, dominierenden Eiskegel, dessen Gipfel hier jedoch nicht hervortritt, nach dem Meere zu unterbrochen von halbkreisförmigen Tälern mit fast lotrechten, schwarzen und roten Basaltwänden. Unten auf dem Grunde dieser Täler befinden sich grosse Eismassen, und dazwischen ragen schwarze, gedrängte Bergmassen auf, die nach dem Meere zu steil abfallen. Spitze Kämme und Gipfel bilden stets nur ein Detail in diesem Bilde.

Den 8. Oktober. Volle zwei Tage haben wir hier liegen müssen. Das Wetter kann nicht eigentlich schlecht genannt werden, aber wir haben zu viel Wind und Nebel, um unsere Wanderung fortzusetzen, so lange es nicht unbedingt nötig ist. Einige kleinere Ausflüge habe ich aber machen können. Es war interessant, auch hier einen Sandstein mit Pflanzenüberresten zu finden, obwohl diese leider ganz unbestimmbar sind. Über den Sandstein breitet sich der grobe Basalttuff aus, wie man ihn auch am Admiralitätssund findet. Nach dem geologischen Bau zu urteilen, erscheint es annehmbar, dass der Haddington-Berg ein alter Vulkan ist, was ja auch mit seiner Form in Einklang steht.

Den 9. Oktober. Der Tag begann mit einem kleinen Abenteuer, keiner der Hunde war sichtbar, als wir am Morgen hinauskamen. Sie hatten Jonassen gestern Abend auf einer Wanderung nach Norden zu begleitet und waren dort sehr in Anspruch genommen durch einige Seehunde, weswegen wir die Vermutung hegten, dass sie jetzt den Platz wieder aufgesucht hatten. Es blieb nichts weiter übrig, als dass sich Jonassen dorthin begab, um sie zu suchen, während ich eine Ortsbestimmung machte und einige andere Arbeiten vornahm. Gegen 12 Uhr kamen die Ausreisser zurück, und nun konnten wir unsern Marsch antreten. Jonassen wie auch die Hunde waren anfangs schlechter Laune nach dieser Promenade und Kurre richtete allerlei Unheil an, indem er erst Suggens Zügel und dann seinen eigenen durchbiss, was eine bedeutende Unterbrechung unseres Marsches zur Folge hatte. Seither aber ist der Tag um so vorzüglicher gewesen. In der Sonne war die Wärme so drückend, wie ich es in diesen Gegenden kaum je empfunden habe. Ich schnallte meine Schneeschuhe an, denn es lag eine Menge Schnee auf dem Eise. Die Augen wurden durch den blendenden Schnee sehr angegriffen, und ich musste sie irgendwie schützen; bei dieser Witterung war es fast am vorteilhaftesten, sich einer nur aus einem feinen Netz bestehenden Brille zu bedienen. Wir kamen an einer vorspringenden Halbinsel nach der andern vorüber, die durch Buchten getrennt sind und in vereinzelten Fällen in eine niedrige Landzunge auslaufen. Auch die geologischen Verhältnisse sind interessant, es wurde mir sofort klar, dass ich hier noch verweilen und sie genauer untersuchen muss, ehe wir diese Gegend verlassen.

Wir nahmen den Kurs auf eine kleine, eigentümlich geformte, fast halbkugelförmige Insel, Nach einem der bedeutendsten Mäcene der Expedition Wilhelm Carlssons-Insel benannt. die stark an die Rosamel-Insel erinnerte. Das Eis war teilweise ganz ausgezeichnet, aber vor jedem Einschnitt zog sich eine der uns jetzt so wohlbekannten Reihen von Eisblöcken hin. Schliesslich sahen wir das Festland in eine lange, nur 10-20 m hohe Landzunge Kap Lagrelius. auslaufen, und hier schlugen wir am Abend unser Lager hinter einer hohen Eisschanze auf. Hier fanden wir auch eine ungewöhnliche Menge teilweise recht grosser Eisberge, sowie die Splitter von Eisbergen.

Vor uns ward eine eigentümliche, fast halbkugelförmige Insel sichtbar

Der Abend war ebenso schön, wie es der Tag gewesen war, er schenkte mir eine der stimmungsvollsten Stunden, die ich seit langer Zeit erlebt hatte. Im Westen und im Norden breitete sich das grossartige König Oscar-Land in der magischen Beleuchtung der Abenddämmerung aus, mit seinen riesenhaften, weissschimmernden Gletschermassen, seinen kühnen Kämmen und Spitzen, die freilich in der Regel nicht sehr hoch, dafür aber steil und eigentümlich geformt sind. Dort würde ein Alpinist eine Lebensaufgabe finden! Viele von den Felsen liegen isoliert, heute aber fügen sie sich zu einer hohen, abschliessenden Bergwand zusammen. Im Nordosten erhebt sich die sonderbare, schwarze, rundliche Insel, die ich eben erwähnt habe, und dann folgt ein langes Vorgebirge, das einzige, was jetzt die Aussicht nach der Richtung hin verschliesst, wo die Frage entschieden werden kann, ob dies ein Sund ist oder nicht. Im Osten breitet sich das Land aus, dessen Küste wir nun so lange gefolgt sind, mit seinen vielfarbigen, lotrechten Felsabhängen, wie ich sie ähnlich nur in Grönland gesehen habe. Rings um mich her Eisberge und Eisschanzen, bald massive, burgartige Vierecke, bald durchbrochene und bogenförmige Gewölbe, ein zuckerhutähnlich geformter Pfeiler, blau und weiss glitzernd, der aus der blendend weissen Decke des tiefen, frisch gefallenen Schnees aufragt. Und hoch über dem allem wölbt sich der funkelnde Sternenhimmel.

Kap Lagrelius

Ich entfernte mich eine Strecke vom Zelt, um mit der Natur allein zu sein. Alles um mich her war so still und friedlich, während ich ein Bild betrachtete, das, wie ich glaubte, noch bisher von keines Menschen Augen erblickt worden war. Ich ahnte ja in dieser Stunde nicht, dass in einer Entfernung von kaum einem Tagemarsch andere Menschen vielleicht um eben dieselbe Zeit die vor uns liegende Landschaft betrachteten, die ich für die allerunbekannteste in der ganzen Welt hielt. Ein einziger Schritt um die Ecke des Eisberges führte mich wieder unserm Zelt entgegen, das dort so still im Sternenlicht stand, bewacht von den schlafenden Hunden, mitten in der öden Natur die Zivilisation und Kultur vertretend, aber auch in den Frieden und die Harmonie ein wenig von dem Unfrieden hineintragend, der unzertrennlich von menschlichem Verkehr zu sein scheint. Ja, Friede liegt freilich nicht immer über dieser Natur, das wissen wir alle!

Den 10. Oktober. Heute haben wir wieder den ganzen Tag still gelegen, teils wegen des nebeligen Wetters, teils weil ich die sonderbaren geologischen Verhältnisse in unserer Umgebung untersuchen wollte. Das Gestein am Strande besteht aus einem Konglomerat von einem Typus, wie ich ihn bisher noch nie in dieser Gegend gesehen habe, und darüber liegt vulkanischer Tuff. Ich ging auf die eigentümlich niedrige Landzunge hinaus, die den Abschluss des Landes nach Südwesten zu bildet, aber der Nebel wollte sich nicht lichten, und ich konnte keine volle Klarheit darüber erlangen, wie weit sich der Sund fortsetzt.

Den 11. Oktober. Wieder liegt ein langer, guter Marschtag hinter uns, ein Tag so reich an Entdeckungen, wie noch kein zweiter. Das Rätsel, das bisher über der Geographie dieser Gegenden gelegen hat, ist jetzt gelöst. Wir sind durch einen grossartigen Kanal gekommen, der die grosse Insel mit dem Haddington-Berge vom Festlande trennt. Die einzige, jetzt noch schwebende wichtige Frage ist, inwiefern dieser Kanal mit der Sidney Herbert-Bucht zusammenhängt, ob es zwei Inseln sind, an denen wir jetzt vorübergekommen sind. Letzteres scheint nicht ausgeschlossen, und ich hege die Hoffnung, auch dies Rätsel auf der nächsten Schlittenfahrt zu lösen. In wissenschaftlicher Beziehung besitzt dieser Kanal, der nach Sr. Kgl. H. dem Kronprinzen benannt wurde, ein besonders grosses Interesse, namentlich wegen der Analogie mit den tiefen Senkungen, die man an mehreren Stellen in Patagonien an dem östlichen Abhang der Kordilleren findet und die dort die eigentliche Bergkette von einem östlicheren Hochland trennen, das, genau so wie hier, aus vulkanischem Gestein und jüngeren Sedimenten aufgebaut ist. In Bezug auf seine Entstehung dürfte sich dieser Kanal wesentlich von denen an der Westküste, von dem Orléans- und dem Gerlache-Kanal, unterscheiden. Die grössere Insel an der Ostseite des Kanals habe ich nach dem Entdecker dieser Küste die Ross-Insel, die kleinere die Vega-Insel genannt.

Der nächste Morgen war nebelig, und erst gegen 10 Uhr konnten wir aufbrechen. Es stellte sich heraus, dass die kleine viereckige Insel eine bedeutende Ausdehnung nach Nordosten hat, wo sie steil zum Meere abfällt und einen äusserst wilden Eindruck macht mit ihren turmähnlichen Klippen und ihrer dunkeln Basaltfarbe, unterbrochen von roten, unregelmässigen Flecken. Die Nordküste der grossen Insel sah ähnlich aus wie die Partien, die wir bisher durchzogen hatten, mit zahlreichen Buchten und verhältnismässig sanft abfallenden Felsabhängen, die oft in leuchtenden Farben spielten.

Das Eis war uneben und voll zahlreicher, kleiner, eingefrorener Eisblöcke. Ich hatte keinen bestimmten Plan in Bezug auf die passendste Marschrichtung, hielt mich zu Anfang so nördlich wie möglich, ging dann eine Weile auf die am weitesten im Süden sichtbare äusserste Landzunge zu, wo ich glaubte, dass Kap Gordon liegen müsse, und bog schliesslich definitiv nach einer mitten im Sund belegenen hohen Insel ab. Dass nach Osten zu das Meer offen vor uns lag, konnten wir schon jetzt sehen. Während des Nachmittags kamen wir über eine schmale, tief eingeschnittene Bucht, und nun lag der Haddington-Berg in seiner ganzen grossartigen Pracht im Hintergrunde sichtbar da. Nach einem sehr schnellen Marsch kamen wir gegen 7 Uhr nach der obengenannten Insel, einem hohen, völlig senkrechten Felsen aus rotem Tuff mit unregelmässigen, schmalen Basaltgängen. Eissturmvögel und Möwen flogen in Scharen um unsern Lagerplatz zwischen den Eisklippen, wo wir nun zum letzten Male eine Nacht für uns allein verbringen sollten.

Wilhelm Carlssons-Insel von der Ostseite gesehen


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