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Die Hausthür war verschlossen.

Diese Möglichkeit hatte ich vorher gar nicht in Betracht gezogen. Ich hatte mich gerade über das gefährlichste Hindernis achtlos hinweggeschwungen und als selbstverständlich angenommen, daß mir der Ausgang auf die Straße ohne weiteres freistehen würde. Keine andere Einzelheit, auch die nebensächlichste, war mir entgangen, als ich in fliegender Hast, unter den Augen des Mörders, meinen Fluchtplan entworfen hatte, alle Schwierigkeiten hob spielend die glückliche Eingebung einer kurzen Minute, und nur diese eine war meinem angestrengt arbeitenden Geiste entgangen. Dabei mußte sie sich doch ruhiger Überlegung zu allererst aufdrängen. Ich knirschte mit den Zähnen, als ich zu spät mein thörichtes Versehen erkannte und mich im Käfig gefangen sah; alle Vorsicht vergaß ich und rüttelte wütend an der Klinke, auf die Gefahr hin, das ganze Haus zu alarmieren. Die Thür gab nicht nach. Als mir endlich die Aussichtslosigkeit meiner Bemühungen klar geworden war, und ich schweißtriefend von allen weiteren Versuchen, mich aus eigener Kraft zu befreien, abstand, horchte ich zuerst nach oben hinauf. Lang und bang. Noch regte sich nichts. Der Fremde hatte sich offenbar von seinem Schrecken noch nicht erholt, oder er fand die Gelegenheit günstig, unter den Schätzen des Alten für sich auszuwählen, was ihn lockte. Aber selbst wenn er herunterkommen sollte, ehe ich mich zu flüchten vermocht hatte – würde es mir nicht ein Leichtes sein, mich vor ihm zu verbergen? Als Vertrauter des Toten da oben, besaß er sicher den Schlüssel zum Thore, und wenn ich gewandt und entschlossen vorging, würde ich, ihn rasch beiseite stoßend, im entscheidenden Augenblick die Straße gewinnen können. Der Plan war abenteuerlich und verwegen zugleich, und als ich daran dachte, welch ein Riese an Körperkraft mein Gegner zu sein schien, sank mir der Mut. – Wie ich indessen mein Hirn auch zermarterte, ich fand keinen besseren Ausweg.

Denn die Bewohner des Hauses zu wecken und auf den anderen zu hetzen, schien mir um so gefährlicher, als ich befürchten mußte, über und über mit Blut bespritzt zu sein und mich durch mein Benehmen selber zu verraten. Man hätte mich mindestens für den Mitschuldigen gehalten, der ausgeschickt war, Wache zu stehen und den nun Angst und Gewissensbisse überwältigt haben mochten. Was suchte ich zu nächtlicher Stunde in diesem Hause? Woher wußte ich, daß oben ein Mordgesell beim blutigen Werke war? Die Wahrheit durfte ich nicht sagen, einmal, weil sie mein köstliches Geheimnis preisgegeben hätte und dann, weil sie allzu märchenhaft klang. Der Alte galt für einen menschenscheuen Sonderling – wie sollte er dazu gekommen sein, einen wildfremden, so gar nicht vertrauenswürdig aussehenden Mann mitten in der Nacht zu sich zu laden? Wenn der Bursch oben nachweisen konnte, daß er mit dem Ermordeten in freundschaftlichem, intimem Verhältnis stand, wenn er behauptete, Verdacht geschöpft und mich bei der Blutthat überrascht zu haben – war ich dann nicht der Schuldige? Würde nicht das Messer, das ich oben liegen gelassen hatte, zerschmetternd wider mich zeugen? Nein, nein, ich durfte kein so gefährliches Manöver wagen. ...

Die Nächte waren jetzt lang, die Morgen dunkel. Wie, wenn ich den andern sich ruhig entfernen ließ und in einem sicheren Versteck geduldig abwartete, bis man das Haus in der Frühe wieder öffnete? Ich könnte mich dann vielleicht unbemerkt davonschleichen. ... Aber mir graute davor, noch volle sieben Stunden und länger an diesem Orte zu verweilen; außerdem aber mußte ich ernstlich besorgen, daß der Fremde, um so jeden Verdacht von sich abzuwälzen, unverweilt Anzeige erstatten würde. Bei einer Durchsuchung des Hauses fände man mich – und dann gab es keine Rettung mehr.

Alle diese Vorstellungen huschten mir wie Schemen durch den Kopf; die Kraft, sie auszudenken, wurde schwächer und schwächer, wie mein Körper ergab sich auch mein Geist wehrlos in das Furchtbare. Ein einziges Gefühl übertäubte und vernichtete alle anderen: grenzenlose Angst um mein Leben, um meine Freiheit. ...

Verloren ... verloren. ...

Ich weiß nicht, wie es kam, aber ich faltete die Hände und betete inbrünstig, während wildes Schluchzen aus meiner Brust drang. »Lieber Gott – hilf mir – hilf mir! Nur dies eine Mal!« Verächtlicher und stolzer als sonst jemand hatte ich so lange auf den blöden Kinderglauben herabgelächelt und die Schwächlinge verspottet, die sich mit anderen feigen Schwächlingen in dunklen Kirchen zusammenscharen, um in gemeinsamer Erniedrigung vor einem Fetisch neuen Mut, Trost und Hilfe zu finden. Nie war während dieser langen Jahre des Elends auch nur ein Seufzer über meine Lippen gedrungen; stark und fest war ich meinen Weg gegangen, und jetzt ... Die fürchterlichen Aufregungen der letzten Stunden hatten mich erschöpft, der Rückschlag trat ein, und ich stand gebrochen, bettelnd und winselnd in der Ecke. ... Darum hatte ich in Qual und Verzweiflung wie ein Riese gerungen. ...

Während ich, in mein Schicksal halb ergeben, vor mich hinbrütete, die Hände gefaltet, den Kopf auf die Brust geneigt, hörte ich auf der Straße Schritte klingen. Und ... o mein Gott, o mein Gott, vor dem Hause verstummten sie, Stimmen schlugen an mein Ohr. Am ganzen Leibe zitternd, schlich ich der Thüre näher. –

»Ach Paul, Paul – wenn's nur Mutter nicht merkt! Sie paßt jetzt immer so genau auf ... 's ist gleich elf – sie wird schon zu Hause sein –«

»Hilft doch nun nichts!«

»Du bist schuld daran – wir hätten längst gehen sollen! Aber ich nehm' den Hausschlüssel nie wieder mit – nie wieder!«

»Hab' dich doch nicht so, Else! Nun geh' man rasch 'rauf – am Ende ist sie noch gar nicht zu Hause!«

»Wenn mich nur niemand auf der Treppe sieht!«

Der Schlüssel kreischte, die Thür sprang auf, Licht, Freiheit umwitterten mich, ein Wunder war geschehen. ... Ich mußte mich mit Gewalt zurückhalten, ich klammerte mich mit der Faust an einen Vorsprung der Wand, um nicht tigergleich aus dem Winkel hervorzubrechen. Ein junger Bursch zwängte sich durch die nur wenig geöffnete Thür, steckte den Schlüssel von innen ins Schloß und trat dann wieder auf die Straße hinaus. Mit fiebernder Ungeduld hörte ich das Geräusch von Küssen, hörte das Mädchen gute Nacht sagen und ihren Begleiter sich entfernen.

»'N Abend, Fräulein Else!« sagte ich, langsam vortretend. »So spät? Aber das paßt sich gut, ich will noch 'mal in die Kneipe nebenan. Riesigen Durst. Lassen Sie mich nur gleich 'raus.« Ich gab mir die unsäglichste Mühe, harmlos und freundlich zu sprechen, erschrak aber vor dem unnatürlichen, heiseren Mißklang meiner Stimme und ärgerte mich darüber, daß ich in der Hast die meisten Worte verschluckte.

Das Mädchen fuhr heftig zusammen und schrie auf. »Wer – wer sind Sie denn?«

»Na, Gott – kennen Sie mich denn nicht?« preßte ich mit Anstrengung hervor. »Der neue Schlafbursche unten im Keller – Sie kümmern sich auch um keinen Menschen.«

»So – so.«

Ich hatte mich an die Thür herangedrängt und tastete nach dem Schlüssel.

»Wissen Sie, ob Mutter schon zu Hause ist?«

»Ich habe noch kein Licht gesehen, Fräulein Else!«

»Licht gesehen? Das können Sie ja auch gar nicht!«

»Ja – richtig.« – Damit hatte ich den Schlüssel ergriffen, umgedreht und war auf die Straße hinausgesprungen. »Es eilt. Gute Nacht!«

Gütiger Gott im Himmel! Ich war gerettet. ...

So rasch mich meine Beine tragen wollten, in kurzen Zwischenräumen scheu hinter mich blickend, rannte ich bis zur nächsten Ecke und bog dann, ganz außer Atem, in die Nebenstraße ein. Hier blieb ich stehen und horchte, ob jemand hinter mir her käme. Kein Laut drang durch die Nacht. Ich begriff, daß es thöricht wäre, ohne Not so unsinnig weiter zu stürmen, daß bis jetzt kein Mensch außer dem Einen von der Mordthat wisse und keiner mich verfolgte, daß ich aber durch meine Eilfertigkeit sehr leicht Verdacht erregen könnte und dann Gefahr lief, angehalten zu werden. Ich mäßigte meine Schritte, geriet aber gleich wieder in die alte Hast hinein. Nur fort aus dieser Gegend, nur fort. Und während ich die Straßen kreuz und quer lief, um etwaige Verfolger irre zu führen, redete ich mir mit halblauter Stimme Trost und Stärkung ein. »Hast ganz recht gethan – es ging gar nicht anders! Der Schuft, der Schuft! Töten hat er mich wollen!« Mein Gewissen sprach mich nicht nur frei, es lobte mich überschwänglich für meine That, und die Empfindungen, die mich durchwogten, waren seltsam gemischt aus Gefühlen frohen Stolzes, gesättigter Rachlust und erregter Besorgnis vor dem Unbekannten, der mir vielleicht schon auf der Fährte war.

Mit großen Schritten, immer in Furcht, Menschen zu begegnen, die ja sofort auf meinem Gesicht lesen mußten, woher ich kam, eilte ich durch die trübe Nacht. Je weiter ich mich indes von dem Orte entfernte, desto mehr nahm meine Unruhe ab und desto zufriedener ward ich mit mir selbst.

Der Regen hatte nachgelassen, die Luft war wärmer geworden, aber ich schauderte vor Kälte, während doch meine Wangen brannten. Von Zeit zu Zeit tastete ich zärtlich nach dem Kleinod, das ich bei mir trug, und es strömte von ihm wie süße Beruhigung in mich über. Als ich an der nächsten Straßenbiegung unvermutet einem Trupp junger Leute begegnete, wich ich ihm nicht aus, wie's im ersten Augenblick des Schreckens meine Absicht war, sondern trällerte laut einen Gassenhauer vor mich hin. –

»Na, so fidel?« schrie der eine mich an.

»Natürlich! Bei den miserablen Zeiten alleweil!« entgegnete ich. Im nächsten Augenblick fiel mir ein, daß es sehr unvorsichtig war, auch nur den Klang meiner Stimme zu verraten und neue Zeugen zu schaffen, die mich in dieser Nacht in dieser Gegend gesehen hatten. Ich beeilte mich, weiter zu kommen.

Niemand achtete auf mich. Niemand folgte mir. Alle Gefahr war vorüber. Und ich stand am Markstein eines neuen Lebens.

Mit durstigen Zügen trank ich den feuchten Odem der Nacht und ließ in schauerndem Wohlbehagen die Regentropfen mein heißes Gesicht kühlen. Das Gefühl der Kälte war nach dem angestrengten Marsch geschwunden, eine Seligkeit sondergleichen durchströmte und durchfeuerte mich. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen; vorsichtig nahm ich die Kugel aus der Tasche und betrachtete sie beim braungelben Schein der nächsten Laterne. Nun war ich ein Reicher, ein Großer, ein Mächtiger. Die Welt war mein. Unerhörte Triumphe würd' ich erringen, Gewaltiges schaffen in gewaltiger, doch sorgenfreier Arbeit. Ein Held und Führer der Menschheit würd' ich sein, und wie ein Segenswunsch würde noch nach Jahrhunderten mein Name von ihren Lippen klingen. ...

Und Tilly schwebte neben mir her. Ich sah ihre jugendschlanke, schmiegsame Gestalt, fühlte den Glanz ihrer tiefen, brennenden Augen, atmete den schwülen Duft ihres weichen, blonden Haars, ihres Gewandes. ... Meiner Seelen Seligkeit, Zukunft und Ruhm hätte ich willig für sie geopfert, hätte Arbeit, Ehre und mich, mich selber vergessen für sie, aber dessen bedurfte es nun nicht mehr, wo ich reicher war als sonst jemand auf Erden. Seit sieben oder acht Wochen, fast so lange, als ich mit der einfältigen Studie über den Stümper Seton beschäftigt war, hatte ich Tilly nicht mehr gesehen. Es fehlte mir am Nötigsten; was ich von Walter lieh, reichte gerade hin, meine einfachsten Bedürfnisse zu befriedigen, und ich wußte ja, wie sehr sie das Leben und die Freuden des Lebens liebte, wie gern sie sich fetieren und beschenken ließ. Ich mochte nicht vor ihr dastehen als ein armseliger Lump, der jeden Groschen prüfend und zögernd anblickte, ehe er ihn ausgab, und so hatte ich denn die flammende Sehnsucht niedergezwungen und die wilde, wütende Leidenschaft. Ich hatte mich kasteit, mich gepeinigt bis auf's Blut, hatte gedarbt und rasende Qualen erlitten, ihretwillen – nun sollte sie mich entschädigen, nun wollte ich den Goldpokal nicht mehr von den Lippen lassen, den sie darbot, wollte trinken, wie ein Verschmachtender trinkt. ...

Ich hatte die Uferstraße erreicht und brauchte nur noch die alte Kettenbrücke zu überschreiten, um daheim angelangt zu sein. Aber wie von wahnsinnigem Schreck gepackt, fuhr ich zusammen, als drüben im Laternenlicht Helm und Uniformknöpfe eines Schutzmannes aufblitzten, der gerade vor meinem Hause stand und im eifrigen Gespräch mit einem Dritten begriffen war.

Ganz fassungslos vor Entsetzen drückte ich mich an die Häuserwand und wagte keinen Schritt zu thun. Die Beiden drüben lauerten auf mich, kein Zweifel mehr. Wieder zur Besinnung gekommen, hielt ich es nicht für klug, geradenwegs ins Verderben zu laufen und den angebotenen Kampf aufzunehmen. Ich ging, übermäßig langsam, die Gasse hinauf, bis zur nächsten Brücke, und wartete. Fürchterliche, vernichtende Minuten. Dann hörte ich wuchtige Schritte mir entgegentönen, strengte die Sehschärfe meiner Augen an, bis sie mich schmerzten, und bemerkte, daß der Polizist seinen Posten verlassen hatte und auf mich zukam. Jetzt übermannte mich namenlose Angst, und alle Vorsicht außer acht lassend, flog ich wie ein gehetztes Tier in die Querstraße hinein, die ich entlang rannte, ohne mich auch nur einmal umzublicken. Sie lief in eine der belebtesten Verkehrsadern der Innenstadt aus. Vor dem blendenden Licht elektrischer Lampen, das von ihr in die stille Gasse hineinflutete, stutzte ich unwillkürlich und hörte nun, daß hinter mir die Nacht schweigend dalag. Kein eiliger Schritt, kein Ruf unterbrach ihre Stille. Ich schmiegte mich in den nächsten Thorweg und horchte. Nichts Verdächtiges regte sich. Hatte ich mich wieder von meiner verängsteten Phantasie narren lassen? Ich schalt mich einen Thoren, einen kindischen Dummkopf, der an Gespenster glaubte, und gewann dadurch endlich so viel Mut, daß ich mein Versteck zu verlassen wagte, den Fahrdamm überschritt und vorsichtig zum Flusse zurückschlich. So wundersam hatte mich heute abend der Zufall behütet, so sichtbar handelte ich unter dem Schutze, unter dem Willen einer höheren Macht, daß ich wahrhaftig nicht zu besorgen brauchte, jetzt noch, kurz vorm Ziel, zu scheitern.

Es wäre wohl rätlich gewesen, nicht wieder durch diese Gasse, sondern lieber auf einem Umweg meine Wohnung zu erreichen, aber der Umweg hätte durch die grell beleuchtete Hauptstraße geführt und mich neuerdings in Gefahr gebracht.

Unangefochten, ohne daß mich jemand gesehen hätte, erreichte ich mein Stübchen.

Ich verriegelte die Thür hinter mir, was ich bisher nie gethan; ich zog die staubigen, grauen Fenstergardinen enger zusammen. Dann nahm ich die Kugel und das Fläschlein vorsichtig aus der Tasche und verbarg sie auf dem Grunde einer großen, mit Büchern und Skripturen gefüllten Kiste, die unterm Bette stand. Die Projektion wollte ich morgen in aller Frühe versuchen, da mir heute sowohl Blei wie Schmelztiegel fehlten.

Zu Tod erschöpft, aber dennoch unfähig zu schlafen, setzte ich mich auf den Bettrand und dachte nach. Morgen würde die That bekannt sein, die Polizei ihre Nachforschungen beginnen. Ich mußte es aufs strengste vermeiden, auch nur den Schatten eines Verdachtes zu erwecken. Besonders durfte ich, wenn die Projektion gelungen war, mich nicht durch große Geldausgaben bemerkbar machen oder irgendwie fühlen lassen, daß meine Verhältnisse sich gebessert hatten. Ich mußte weiter in dieser Luke hausen, wenn auch nur noch auf Monate hinaus, mußte ärmlich und bescheiden auftreten und angestrengt arbeiten, meine Lebensgewohnheiten streng wie bisher einhalten. Da Mörder – ich hatte in der Notwehr gehandelt, aber niemand würde mir das glauben – da Mörder sich oft durch unvorsichtige Worte verraten, und Geberdenspäher bei solchen Sensationsfällen überall Anhaltspunkte für ihren Argwohn finden, mußte ich Gesprächen über dies Ereignis ausweichen, ohne sie doch wieder überängstlich zu meiden.

Die Polizei würde sich wie immer zuerst fragen: wem hat es genützt? und demzufolge, selbst wenn der Alte im Rufe bitterster Armut stand, gegen seine etwaigen Freunde vorgehen. Dabei mußte dann ihr Augenmerk notwendig auf den Fremdling fallen, dessen intime Beziehungen zu dem Getöteten sicher einem oder dem andern bekannt waren. Über der Jagd nach ihm, dem mutmaßlichen Thäter, von dem man genaue Personalbeschreibungen in die Welt schleudern würde, vergingen sicher Wochen, vielleicht Monate, nach denen auch die letzte Spur, die noch auf mich deutete, verwischt wäre. Ich hatte in der Bibliothek neben dem Alten gesessen, das ist wahr, und möglicherweise entsann sich morgen, sobald die Kunde von seiner Ermordung laut wurde, jemand dieser Thatsache; aber selbst wenn die Dinge eine solch unwahrscheinliche Wendung nehmen sollten, vermochte ich immer noch nachzuweisen, daß ich mehrere Minuten vor ihm gegangen war und ihn bis dahin überhaupt nie gesehen hatte. Niemand wußte um unsere gemeinsame Wanderung, niemand von meinem späten Besuche bei ihm. Da ich nicht einmal seinen Namen kannte und überdies keine Verpflichtung hatte, mich bei der Arbeit um meine Nachbarn zu kümmern, brauchte ich mich auch nicht freiwillig als Zeuge zu melden, konnte vielmehr der Entwicklung des Dramas in aller Ruhe zuschauen und warten, bis man sich mir näherte.

Indessen, trotz der auffällig glücklichen Umstände, welche die That und meine Flucht begünstigt hatten, trotz der Verwirrung des Knotens und des erdrückend schweren Verdachtes, der auf dem andern lastete, konnte doch ein schlimmer Zufall die Meute auf mich hetzen. Auch für diesen Fall war ich gewappnet. Ich würde dann die reine Wahrheit sagen und damit hinlänglich entschuldigt sein. Den Raub der Tinktur konnte ich um so eher verhehlen, als kein Mensch von ihrer Existenz wußte oder auf diesen Punkt irgendwelche Wichtigkeit legen würde. Der Alte, dem seine alchymistischen Studien ohnehin den Stempel der Verrücktheit aufdrückten, hatte mich an sich gelockt, um ein irrsinniges Experiment vorzunehmen; in der Notwehr hatte ich ihn niedergestochen und war nur dadurch dem eigenen Tode entgangen. Der Fremde mußte diese meine Aussage bestätigen, um sich selbst vom Verdachte zu reinigen; dafür, daß man seiner habhaft würde, wollte ich schlimmstenfalls durch anonyme Briefe an den Staatsanwalt sorgen.

Meine Arbeit über Alexander Setonius behielt ich nun besser für mich; sie konnte doch bei irgend einem Schnüffler Argwohn erwecken und scharfsinnigen Richtern Anlaß zu allerhand Kombinationen geben. Außer dem Bibliothekar, der an ganz andere Dinge zu denken hatte, wußte eigentlich nur Walter von meinem Versuch, und ihm konnte ich wahrheitsgemäß mitteilen, daß der Unvollständigkeit des Setonschen Pergamentes wegen alle meine Mühen verschwendet waren. Überdies stand der letzte Termin zur Einreichung der Preisarbeit noch in weiter Ferne; vielleicht nahm die ganze Sache eine solche Entwicklung, daß es mir später möglich war, meine Bewerbung anzumelden, ohne mich dadurch auch nur im geringsten zu gefährden. –

Diese Gedankengänge befriedigten mich so, daß ich vergnügt vor mich hinlachte und mit den Fußspitzen den Takt zu einer flotten Melodie schlug. Ich schob die Bücherkiste noch tiefer unter das Bett, und da ich kein Licht anzuzünden gewagt hatte, bemerkte ich erst jetzt an einem klebrigen Gefühl, daß Blut an meinen Händen haften müsse. Ich wusch sie im Finstern und rieb an ihnen wohl eine Viertelstunde lang unausgesetzt herum, bis sie wie Feuer brannten, dann schüttete ich das Wasser in die Dachrinne, wo es der heftig niederträufende Regen rasch wegspülen würde, entkleidete mich und war bald fest eingeschlafen.

* * *


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