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Ich kam sehr spät in der Nacht nach Hause. Die feuchte und doch empfindliche Kälte des Novemberwindes, der durch die Gasse am Wasser blies, hatte meine Schritte beschleunigt und mich gehindert, allerlei Gedanken über den morgigen Tag und seine voraussichtlichen Ereignisse nachzuhängen. Nun, ich sah ihnen mit der Ruhe des Starken entgegen. Wie ich aber die steile Treppe zu meiner Dachstube emporkletterte, überfiel mich unversehens die Erinnerung an meinen nächtlichen Gang mit dem toten Erck, und ich stieß in furchtbarer Angst einen lauten Schrei aus, als meine Hand plötzlich einen gespenstisch feuchten, eiskalten Gegenstand berührte. Es mochte die Thürklinke der Wohnung unter mir gewesen sein, die mich so erschreckt hatte, und im nächsten Augenblick verwünschte ich meine kindische Feigheit. Trotzdem machte ich Licht, ehe ich mein Zimmer betrat, was mir sonst nie in den Sinn gekommen war, und zündete die Lampe an, obwohl ich mich sonst immer im Dunkeln zu entkleiden pflegte. Ja, vorsichtig und mit einem gewissen bangen Hohn, als könnte doch und ungeachtet meines Spottes über mich selbst irgend eine Gefahr auf mich lauern, leuchtete ich die Winkel des Gemaches ab.

Der Wind rüttelte an den Fensterflügeln und trieb vereinzelte, große Tropfen klirrend gegen das Glas; man hörte sein Sausen in der Ferne, das unwirsche Knarren des alten Nußbaumes am Mühlengraben, hörte dann, wie der Stoß näher kam und heulend und pfeifend, in langgezogenen, schauerlichen Tönen das Haus umbrauste. Die Stirn an die kalten trüben Scheiben gepreßt, schaute ich in die Finsternis hinein. Aber sofort fuhr ich zurück und sah mich verstört um, war mir doch, als hätte mir jemand über die Schulter geblickt. »Unsinn!« sagte ich ärgerlich und schraubte die Lampe höher. Und jetzt gerade wollte ich's versuchen.

Die heutige Projektion, die einmalige Benutzung der Tinktur würde mich auf Monate, vielleicht auf Jahre hinaus frei, unabhängig, ja reich machen, würde mir die Mittel zu dem Kampf liefern, der mir bevorstand, und meine Vereinigung mit Tilly ermöglichen. Meine Vermählung mit ihr, die mich liebte in meiner Einsamkeit, die einzige, die mich die Schrecken des Alleinseins in der Öde vergessen gemacht hatte. Ich träumte einst davon, meine Frau aus den Kreisen zu holen, in die ich, ein kühner Eroberer, siegreich eindringen wollte, eine vornehme Frau aus vornehmem Hause. Ich hatte mein Lebensglück meinem Ehrgeiz unterordnen wollen. Heute dachte ich anders darüber und weiser. Ich bedurfte keines Menschen Hilfe mehr, um zur Höhe emporzusteigen, keines einflußreichen Schwiegervaters, keiner Oheime oder Vettern; ganz aus eigner Kraft konnte ich den Flug wagen. Ich war reich, und deshalb gab es keine Hindernisse mehr für mich. Alles, was ich von dem Weibe heischte, dem meine Seele und meine Sinne gehören sollten: Tilly bot es mir. Die immer jungfräuliche, lockende Anmut ihres schlanken Leibes, ihr kluges Köpfchen und ihr Herz voll unendlicher, zärtlicher Treue – wo in der Welt fand ich köstlichere Kleinodien? Sie liebte mich so, wie ich war, in meiner Armut und Bedeutungslosigkeit, während die andern doch immer den Mann der Zukunft in mir sahen und schätzten. Auf dem ganzen Erdenrund blühte kein Weib, so wie dies für mich geschaffen, keine war selbstloser und hingebender als sie. Sie vertraute mir bedingungslos, mir und meiner Ehrenhaftigkeit, meinem einfachen Wort, sie opferte mir alles, ohne zu fragen und zu wägen – und wahrlich, sie sollte sich nicht getäuscht haben.

Es war meine Pflicht, sie der niedern Sphäre, worin sie jetzt notgedrungen lebte, bald zu entrücken, damit sie sich und ihre Gaben voll entfalten konnte. Nur Gold, nur Gold! Die Summe, die ich von Heller geliehen, ging bereits auf die Neige; ich hatte Tilly vorhin zwei Doppelkronen gegeben, weil ihr Gehalt augenblicklich wirklich nur sehr gering war, und so blieben mir, da ich außerdem meiner Wirtin einen Teil des Mietrückstandes bezahlt hatte, nur noch einige sechzig Mark.

Ein paar Stäubchen der Tinktur Laskaris hatten zehn Kilo Blei in fast vierundzwanzigkarätiges Gold verwandelt, das alle Proben glänzend bestand. Ich wußte nicht, ob meine Tinktur dieselbe große Kraft besaß; vorsichtshalber würde ich deshalb einige Gramm Pulver mehr in die Masse schütten. Wenn ich annahm, daß meine Tinktur tausend bis fünfzehnhundert Teile Metall veredelte, griff ich gewiß nicht zu hoch und durfte des Erfolges sicher sein. Dies erste Experiment versprach eine Ausbeute von nahezu dreißigtausend Mark.

Ich versicherte mich, daß der Thürriegel vorgeschoben war, dann horchte ich eine Weile mit angehaltenem Atem, ob neben oder unter mir Geräusch laut wurde. Totenstille ringsum, nur Wind und Regen trieben durch die Nacht. Mit vor Erwartung und Gier zitternden Händen entzündete ich ein Kohlenfeuer im eisernen Ofen, und brachte den Schmelztiegel mit dem feingehackten Blei darin auf die Flammen. Nicht lange, und das weiche Metall begann zu fließen.

Auf der Diele liegend, zog ich dann die schwere Bücherkiste unterm Bett hervor, behutsam, vorsichtig, daß sie nicht scharren und poltern konnte. In weniger als einer halben Minute war sie ihres Inhaltes entleert, und nun hielt ich die kostbare Kugel in der Hand, nun sah ich am Boden die dunkelrot blinkende Phiole. Ich bezwang das Grauen, das fast übermächtig in mir aufstieg. Ich öffnete die Thür, nahm die Lampe und spähte auf den Flur hinaus, um Lauscher zu entdecken; leise sperrte ich die Fenster auf, um den Dämpfen, die sich nachher entwickeln würden, Abzug zu verschaffen. Und während die phantastischen Reflexe der Glut, die den Ofen rötete, mich umspielten und während das Metall im Tiegel zu wallen begann und der sturmgepeitschte Regen vereinzelte Tropfen ins Zimmer wehte, daß ich schaudernd zusammenfuhr, entnahm ich der Kugel eine kleine Gabe des fettigen, gelben Pulvers, sieben oder acht Gramm. Als ich das Fläschchen mit dem Blute betrachtete, wollte mich neuerdings Grausen übermannen, und als ich es berührte, schien es wie Feuer zu brennen. Aber Abscheu und Ekel, die mich schüttelten, überwindend, kratzte ich die harte, zerbröckelnde Substanz aus ihrem Behälter heraus und mischte sie mit dem Pulver. Meine Hände fühlten sich eiskalt an, und eisige Kälte durchrieselte meinen Körper bei diesem Werk.

Ich löschte die Lampe aus. Und niemand war, der mich belauschte.

Jetzt – jetzt sank die Tinktur nieder auf das kochende Metall.

Eine blaue Flamme fuhr aus dem Tiegel auf und erleuchtete sekundenlang mit magischem Schein das Stübchen. Und sogleich ging über das siedende Blei ein buntes Schäumen, das mit jeder Minute an Farbenpracht zunahm und höher stieg, als wollte das Metall überlaufen. Dazwischen zogen leichte, farbige Dämpfe auf, die sich rasch im Raume verbreiteten. Regungslos, atemlos stand ich neben dem Feuer und ließ kein Auge vom Tiegel. Allmählich ließ die zischende Bewegung darin nach; der Schaum wurde blutrot, mit hellroten Gischtkronen, und als er sich völlig gelegt hatte, nach einer Viertelstunde etwa, trieb das Metall mit hellem Spiegel. Der Prozeß war beendet, die Projektion gelungen.

Ich riß den schweren Tiegel vom Herde und setzte ihn auf das Ofenblech, wo er langsam erkalten sollte. Unruhvoll schritt ich im Zimmer auf und ab und sah den phosphorisch leuchtenden Gasen nach, die noch immer spielend, sich drehend und tanzend, in die Nachtluft entschwebten. Wie, wenn im Schatten unten jemand diese seltsame Erscheinung bemerkte und ihrem Ursprünge nachforschte! Geraume Zeit verging, ehe ich das Licht wieder zu entzünden wagte.

Auf der erstarrenden Masse, die eine schöne, rotgoldne Färbung zeigte, glitzerten sternförmige Krystalle eines rubinroten Glases. Die eingeschmolzenen zehn Kilo Blei hatten es also nicht vermocht, die Tinktur völlig zu verzehren, und es hätte ein noch weit geringeres Quantum davon hingereicht, die große Menge Metall zu veredeln.

Ich tauchte ein Stahlstäbchen in die zähe Flut und zog es bläulich dampfend, schwer vergoldet, wieder heraus. Das im Wasserbad erkaltete Produkt ließ sich mit einem eisernen Küchenlöffel leicht von dem Stahlgrund abschaben, es war schwer, biegsam und äußerst geschmeidig, aber von einer hellbraunen, wenig goldähnlichen Farbe. Ich vermutete eine freilich unerklärbare Bildung von Goldoxydul, das ja durch gelinde Erwärmung bequem vom Sauerstoffe befreit und in metallisches Gold umgewandelt werden konnte. Aber ich erkannte sogleich, daß ich mich schwer geirrt hatte. Der Strich auf dem Probierstein freilich ließ sich mit Scheidewasser nicht auslöschen, aber er wurde auch vom Königswasser nicht fortgeschwemmt. Das rätselhafte Verhalten des gewonnenen Metalls schien zu beweisen, daß die Mischung mit Tinktur übersättigt war, und als ich ein paar Gran in Mangansuperchlorid aufzulösen versuchte, erhielt sie einen dunkelgelben, mit Eisenvitriol behandelt, einen bläulichen Mantel, trotzte aber sonst dem Fluidum. Ich behandelte sie darauf mit freiem Brom, von dem ich noch ein wenig besaß, indessen wieder ohne Erfolg. Was ich gewonnen hatte, war also kein Gold, es war offenbar mehr als Gold, etwas viel Wundersameres, aber für mich unverwendbar.

Es schien mir am einfachsten, die Schwierigkeiten durch ein nochmaliges Umschmelzen des Metalles und starkes Versetzen mit Blei zu heben. Nachdem ich vermittelst meines Küchenlöffels aus der zähe werdenden, aber noch leicht zu durchsägenden Masse ein beträchtlich großes Stück herausgeschält hatte, das ich morgen bei Tage eingehender untersuchen wollte, that ich soviel neues Blei in den Tiegel, als das ungefähre Gewicht des Ausschnittes betrug, fachte das Feuer wieder an und schürte es mit aller Kraft, daß der Ofen wie die Hölle glühte und vor Hitze krachte. Indessen nahm der Schmelzprozeß diesmal längere Zeit in Anspruch; eine volle Stunde rann vorüber, es war fast vier Uhr morgens geworden. Nun fanden sich freilich keine Rubinkrystalle mehr auf der Oberfläche, dafür aber zerbröckelte die Masse, sobald sie zu erkalten anfing, in einen weißen, spröden, pulverartigen Niederschlag.

Nun stand ich ratlos. Die Mühe dieser Nacht war verloren, der Versuch, auf den ich tausend Hoffnungen gesetzt hatte, völlig fehlgeschlagen.

Ich setzte mich auf das Bett, überarbeitet, totmüde, mit schwerem Kopf; die Knie versagten mir fast den Dienst. Ich hätte weinen, mir selbst ins Gesicht schlagen mögen vor Wut, nur um mich von dem Drucke zu befreien, der zermalmend auf mir lastete – aber auch dazu war ich zu matt. Mir war's, als hörte ich das hämische, freche Lachen des Alten, der mich um den Raub betrogen, die wichtigste, entscheidende, letzte Weisheit für sich behalten hatte.

Und seltsam! Wie ich nun in stumpfer, vergrämter Melancholie und nicht ohne Anstrengung des Lebens da draußen dachte und meines eignen Lebens und Wollens, da faßte es mich wie unsäglicher Kleinmut, wie Verachtung und Widerwillen vor mir selbst. Es war wie das Erwachen aus einem schweren Rausch, mit seinem körperlichen Unbehagen, das halb tötliche Müdigkeit, halb dumpfer Kopfschmerz scheint, mit seinem Gefühl fürchterlichster Leere, galligster und finsterster Verbitterung ...

Auf dem Tisch lag ein dickes, in blaue Aktendeckel sauber gebundenes Buch – Gertruds Arbeit, die meine Abschriften der alten Alchymistenpergamente zu heften pflegte. Ich schlug es auf und blätterte darin herum. All diese gewundenen, gleichnisreichen Redensarten, mit denen die Autoren glaubhaft zu machen suchten, daß auch sie im Besitz des Magisteriums gewesen seien, all diese Parabeln und in unsinnige Allegorien eingekleideten Vorschriften kamen mir jetzt unsagbar lächerlich vor. Verriet denn nicht jede Zeile auf den ersten Blick den unwissenden Stümper, den Charlatan? Ich schob das elende Machwerk verächtlich beiseite. Wenn verständige Leute sich lachend von diesem plumpen, durchsichtigen Schwindel abwandten, so thaten sie recht. Mich für mein Teil hatte das Buch lange und angestrengt beschäftigt; manche Nacht hatte ich ihm geopfert, manche kostbare, unwiederbringliche Nacht, und damit vielleicht manches Jahr meines Lebens. Durchsichtiger, plumper Schwindel! So nutzlos vergeudete ich meine Zeit, ich, der armselige, darbende Bettler, und spreizte mich noch mit meinem Narrentum. Bohrende Zweifel faßten mich an. Am Ende, was war's mit der Tinktur? Wo lag der Beweis, daß jener, dem ich sie geraubt hatte, nicht ein Irrsinniger war? Kindische Überhebung, frecher Hochmut ohnegleichen gehörten dazu, all die geistvollen und genialen Chemiker, die das Suchen nach dem Magisterium als zeitverderbenden Unfug gebrandmarkt hatten, für kurzsichtige Thoren zu halten, meine eignen, tollen Ideen und die Spekulationen eines wahnwitzigen Greises dagegen für lautere, tiefsinnige Wissenschaft, an der die beschränkten Banausen achtlos vorübertrabten.

Diese Stunde hielt mir und meinem Schaffen den Spiegel vor. Unbarmherzig, groß und finster blickte sie auf mich nieder. Und ich sank, von Scham und Ingrimm zerfleischt, zusammen. Und ich demütigte mich in dieser traurigen Einsamkeit, tief, tief wie noch niemals. Es zwang mich, wieder das Knie zu beugen vor der dämonischen, weltbeherrschenden Macht, in deren Augen wir nichts sind als anmaßlich dreiste Infusionstierchen, und all unser Treiben nichts als nahezu sinnloses, selbstsüchtiges Fratzenspiel. O ich lernte, und ich glaubte zu erkennen, welcher Abgrund klaffte ...

Aber Heller glaubt doch auch an die Tinktur, Heller auch! flüsterte ich mir zu. Und rasch vergegenwärtigte ich mir Hellers Pläne und Gedanken, seine gierigen Wünsche nach dem Kleinod, das ich besaß. Wenn alles Lüge und Trug war, alles grobe Täuschung, warum verfiel dann auch er ihr, der Kluge, Weitschauende? Wenn alles Lüge und Trug war und ich ein ausgemachter, geprellter Narr – mußte es mich dann nicht wieder aufrichten, daß er mein Narrentum teilte, er, der kalte, klare Skeptiker, zu dem alle bewundernd aufsahen?

Was mir heut morgen so grenzenlose Furcht eingejagt hatte, sein hohes, heißes Interesse für die große Wissenschaft, sein Wort, daß es eine Tinktur gebe und daß Erck fraglos ihr Besitzer gewesen sei – nun tränkte es mich mit neuem Mut und neuer Kraft.

Angekleidet warf ich mich aufs Bett, mich darauf freuend, diesen tröstlichen Gedanken nun in wohliger Ruhe weiter nachhängen zu dürfen. Nach der ersten Minute aber war ich entschlummert.

* * *


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