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Die Morgenblätter brachten über den an Professor Erck begangenen Mord und den mutmaßlichen Thäter einige neue, spannende Mitteilungen.

Unter der Wucht des angehäuften Beweismaterials und des unablässig auf ihn ausgeübten Druckes war der Verhaftete endlich zusammengebrochen und hatte eingestanden, am Tage des Mordes in der That nicht nur am Nachmittag, sondern auch zu später Nachtstunde bei Erck gewesen zu sein. Indessen versuchte er sich jetzt durch eine andere, und, wie die Zeitungen behaupten, sehr einfältige Lüge zu retten. Er wäre mit dem Professor sehr intim befreundet gewesen; seit einer Reihe von Jahren hätten sie miteinander experimentiert, und er dürfte sich rühmen, in alle Geheimnisse, alle Wissenschaft des Ermordeten eingeweiht zu sein. An dem verhängnisvollen Tage habe er mit Erck ein Problem von gewaltigster Bedeutung, das sie schon lange Zeit in Atem hielt, studiert; sie hätten gehofft, die mühselige Arbeit nunmehr rasch zum Abschlusse bringen zu können und deshalb, als sie sich erschöpft voneinander trennten, beschlossen, das Werk noch abends fortzusetzen, wenn nötig, die ganze Nacht zu opfern. Haus- und Stubenschlüssel, die man beide im Besitz des Verhafteten gefunden hatte, wollte er nachmittags von Erck selber empfangen haben, damit er auf alle Fälle ohne Schwierigkeit ins Haus gelangen konnte. Übrigens hätte ihm der Professor den Hausschlüssel jedesmal, wenn er spät in der Nacht von ihm ging, ruhig anvertraut. Der Verdächtige schilderte weitläufig, wie er sich an dem Unglücksabend denn auch richtig gegen seinen Willen verspätet habe und erst geraume Zeit nach zehn Uhr vor dem Hause angelangt sei, wie er sich dann ohne Licht die fünf Treppen hinaufgetastet und ahnungslos das Gemach seines lieben Freundes betreten habe. Im Zimmer brannte noch die Lampe, aber so düster, daß er den Leichnam des Ermordeten anfangs nicht bemerkte und Erck wiederholt beim Namen rief; erst als er an den Tisch gelangt war und den Toten mit dem Fuße berührte, erst da ging ihm die Erkenntnis des Fürchterlichen auf. Die Blutflecken an seiner Kleidung erklärte der Verhaftete, wie er meinte, sehr einfach und natürlich, dadurch, daß er sich sofort, auf den Tod erschrocken, um den unglücklichen Freund bemühte und die eigene Sicherheit völlig darüber vergaß. Da es ihm aber nicht gelang, Erck ins Leben zurückzurufen, erinnerte er sich an die Gefahr der eigenen Lage, und nun faßte ihn plötzlich ein furchtbares Entsetzen. Es wurde ihm klar, daß er im Falle der Anzeige bei der Polizei selbst für den Thäter gehalten werden mußte; alle Verdachtsgründe sprachen überzeugend wider ihn. Und so entschloß er sich denn in der unbeschreiblichen Aufregung und Kopflosigkeit der Minute, zu fliehen. Wenn er diese Thorheit auch am nächsten Tage bitter bereute, so fand er doch nicht den Mut, sein Versehen wieder gut zu machen. Die Behörde forschte dann bald aus, daß er lebhaften Verkehr mit dem Professor gepflogen hatte, und da man früheres, von seiner Aufwartefrau bestimmt wieder erkanntes Besitztum Ercks in der Wohnung des Ergriffenen fand, so hielt man den Raubmörder für überführt.

Die Blätter begleiteten denn auch die Aussagen des Verdächtigen, dem der Untersuchungsrichter nicht den geringsten Glauben schenkte, mit Hohn und Spott, brandmarkten sie als allzu alberne Erfindungen. Der Umstand, daß er sich von vornherein in Lügengewebe verstrickt hatte, diente jetzt dazu, ihn vollends zu Grunde zu richten. Niemand zweifelte mehr an seiner Schuld, und von allen Seiten wurde die Sicherheitsbehörde mit Komplimenten dafür überschüttet, daß sie in diesem Falle endlich einmal scharfen Blick und feste Hand bekundet hatte.

Ich schob die Zeitung mit einem leisen Lächeln von mir, zahlte und verließ das Lokal, ohne mein Glas zu leeren. Ich kam mir seltsam wichtig vor; ich allein unter Millionen wußte ja, daß der Mann in den Hauptzügen lauterste Wahrheit gesprochen hatte, in meiner Hand lag es, ihn zu retten oder zu töten. Verwirrte sich auch der Faden für mich selbst immer wieder, war mir auch Hellers Verhältnis zu diesem Schurken noch völlig unklar, so durchflutete mich dafür das unsäglich selige Gefühl, daß ich nunmehr in Sicherheit und über jeden Verdacht erhaben war. Die Polizei würde nun ihre Nachforschungen einstellen oder doch mit ungleich geringerem Eifer betreiben; sie konnte ja nicht mehr im Zweifel darüber sein, daß sie den Thäter in ihrem Gewahrsam hatte. Mit mütterlicher Sorgfalt räumte mir das Schicksal auch weiterhin alle Steine aus dem Weg; selbst große Unvorsichtigkeiten vermochten mir, seinem Liebling, jetzt nicht mehr zu schaden.

In festlich froher Stimmung schlenkerte ich die baumbestandene Straße zum Tiergarten hinunter. Es war ein schöner, lachender Wintermorgen; prächtige Karossen mit lebhaften Gäulen davor, geputzte Menschen, kostbare Pelze, frische Mädchengesichter allenthalben. Glitzernder Reif schmückte die Kanten des Bürgersteiges, die Geländer, die Kronen der Linden und die Giebel. Ich kam mir inmitten dieser eleganten, müßig promenierenden Menge wie ein Bevorzugter auf den Höhen des Lebens vor; ich glaubte, daß mein Anzug mir sehr gut saß und daß ich einen recht stattlichen Eindruck machen mußte. Nur zu winken braucht' ich, und ein Garten voll Freude und Lust und Jubel that sich vor mir auf. Ich war jung, geistvoll, reich. Alle die Schönheit, alle die Pracht der Welt glühte und duftete auch für mich.

Mit der entlarvten Lügnerin verband mich nichts mehr. Wir waren quitt. Ich riß sie mir aus dem Herzen, ich hätte sie gehaßt, wenn ich sie nicht so tief verachtet hätte. Noch frühzeitig genug waren mir die Augen aufgegangen, hatte sie mir selbst ihre gemeine Gesinnung, ihre Armseligkeit verraten. Wenn ich daran dachte, wie sie mich zu behandeln gewagt hatte, mich, der bereit gewesen wäre, ihr alles zu opfern, mein Leben für sie zu vergeuden, mich, der willig mit ihr teilte, was er besaß und unerhörte Schätze in ihren Schoß schüttete ... Aber was galten ihr diese Schätze? Ein klingendes Goldstück entzückte sie tausendmal mehr als alle Poesie des Himmels. Ich verstand mich selbst nicht, ich begriff nicht, was mich so lange an diese Dirne gefesselt haben mochte. Sie hatte boshaft mein Selbstgefühl verletzt, wann sie nur immer konnte, hatte mich mißhandelt und wie einen Hund herumgestoßen, und das alles hatte ich geduldig hingenommen, ich, der Stolze, Hochmütige! Die Sinnlichkeit war's gewesen, die verdammte, lüsterne, und meine grenzenlose, traurige Armut. Ich durfte ja keine Ansprüche erheben, mußte ja selig sein, wenn man meine Liebe gnädig litt und mit höhnisch verzerrten Lippen, achtlos die schimmernden Kleinodien beiseite stieß, die ich bei mir trug ... O, es würde anders werden. Nicht alle Mädchen glichen dieser einen. Nur die Augen brauchte ich zu öffnen, brauchte nur eine noch unausgesprochene Bitte zu erhören. Paradieseswonnen konnte ich bieten, wenn ich nur wollte. War ich auch tausend Jahre in Schmutz und Lumpen umhergegangen, ich blieb doch der Königssohn, der Prinz-Befreier, und wenn ich die Hand ausstreckte, gehörte die Krone und die Erde mir ...

Und dann überschlich mich wieder der Gedanke an den unerbittlichen, grausamen, tückischen Feind.

Es war nicht schwer, die Komödie zu durchschauen, die er spielte. Ich hatte mich zwar täuschen lassen, hatte seiner frommen Miene getraut und ihn wirklich für so unwissend gehalten, wie er sich den Anschein gab zu sein. Das hatte mich vielleicht zu dreist und übermütig gemacht, mich in die Stimmung versetzt, die er gerade herbeiführen wollte. Aber er würde mich von nun an mißtrauischer finden als vorher. Nie wieder wollte ich auch nur sekundenlang dieses Gegners Macht und Hinterlist unterschätzen. Seine teuflische Klugheit offenbarte sich von neuem grell in der Wendung, die die Verfolgung des Mordes gewonnen hatte. Niemals trat er selbst im Kampfe hervor, focht immer hinter anderen verborgen, und wenn ein wuchtiger Schlag wider ihn fiel, sank immer sein Vordermann, nie er selbst. Ich hatte felsenfest geglaubt, in dem Fremden jener Nacht Felix Heller erkannt zu haben; ich war im Begriff gewesen, ihm diese Anklage entgegenzuschlendern und damit mich selbst unrettbar bloßzustellen. Er hätte mit spielender Leichtigkeit seine Unschuld nachweisen können, ich aber wäre in der Schlinge hängen geblieben. Nein, ihm hätte ich es nie zutrauen dürfen, daß er die plumpe That mit eigener Hand ausführte; er gab seinem Werkzeuge nur die Idee, beschmutzte sich aber nie selbst die feinen, weißen Finger. Er lief keine Gefahr, trotzte keiner. Wie ein Dämon lauerte er im Hintergrunde, zog wie im Puppenspiel die Drähte seiner Marionetten.

Die ganze Welt fürchtete ich nicht, ich höhnte den Scharfsinn der Kriminalisten, der schon in dieser einfachen Frage versagte, bangte nicht vor dem unberechenbaren Spiele des Zufalls und bangte nicht vor mir selber und meiner Unklugheit. Aber vor Felix Heller graute mir, und der Gedanke an ihn vergiftete mir alle Freude an diesem leuchtenden Sonnentage. Vergaß ich denn schon, was ich mir feierlich zugeschworen hatte: daß ich ein Leben ernster Pflichterfüllung führen, begangenes Unrecht durch große und schöne Thaten sühnen wollte?

Vor der nächsten Anschlagsäule blieb ich stehen, unschlüssig, ob ich den Spaziergang fortsetzen oder mich nach Hause an die Arbeit begeben sollte. Wie ich die Plakate halb gedankenlos betrachtete, fiel mir hoch oben ein blutroter, breit umränderter Zettel auf, und im selben Moment durchzuckte mich ein fürchterlicher Schreck, grinste mir eine satanische Fratze entgegen. In mächtigen, weithin leuchtenden Lettern standen dort oben die Worte: »Die rote Tinktur« zu lesen. Und mit hastiger Gier verschlang ich den begleitenden, minder hervorspringenden Text. »Heute abend um acht Uhr in Lammer's Festsälen: Große Volksversammlung. Tagesordnung: 1) Die europäische Lage. Referent wird in der Versammlung genannt. 2) Vortrag des Herrn Redakteurs Franz Wethorn: Die rote Tinktur. 3) Diverses. Zur Deckung der Unkosten wird ein kleines Entree nach Belieben erhoben. Jeder unabhängige Arbeiter ist willkommen.« Ich lächelte, als ich mich so von der Grundlosigkeit meines Entsetzens überzeugt hatte; ich erinnerte mich sogleich der Unterhaltung im Hause Hellers und wußte, daß Wethorn heute die ihm von uns gegebene Anregung benutzte. Jedenfalls wollte ich die Versammlung besuchen; vielleicht bot sie mir willkommene Gelegenheit, den Führern der Bewegung näher zu treten und in den neuen Beruf hineinzuspringen, von dem ich so oft und gern geträumt hatte. Durfte ich es auch jetzt noch nicht wagen, öffentlich als Redner aufzutreten, mußte ich vielmehr alles daran setzen, fürs erste in tiefster Verborgenheit zu leben und niemanden auf mich aufmerksam zu machen, so durfte ich doch hoffen, der großen Sache in anderer Weise nützen zu können. Ich wollte die ganze Schule durchlaufen, von der Pike auf dienen; dadurch würde ich die notwendige Sicherheit und, was wichtiger war, gründliche Kenntnis der Parteiverhältnisse erwerben. Erst ein derartig praktisches Studium konnte mich hinreichend befähigen, mit Aussicht auf Erfolg die neue Laufbahn zu betreten.

Der quälenden Sorge ums tägliche Brot war ich enthoben; von keinem störenden Nebenberufe abgelenkt, mit unzersplitterter Kraft durfte ich mich der neuen Aufgabe weihen. Ich kam aus den Niederungen der Armut, wo die feine Blume des Geistes und der Bildung sich nicht entfalten kann, wo auf dürrem, gelbem Flugsand keine Ernte der Sichel entgegenreift und nur mageres Gras, braunes, trockenes Heidekraut scheu am Boden entlang kriecht. Wir Kinder des Elends konnten ja den Kampf um Glück und Macht so wenig aufnehmen, wie das erbärmliche Gewächs der Heidewüste sich an Schönheit und Kraft mit dem wogenden Korn messen darf, das feuchter, schwarzer Ackerscholle entsprießt. Der Boden, der uns gebar, gab gerade so viel kümmerliche Nahrung her, daß wir bei Anspannung aller Kräfte nicht verhungerten; er verwehrte es uns, gut und groß zu sein, an edlere Dinge als den täglichen Lebensunterhalt zu denken. Mir hatte das Schicksal die eiserne und unzähmbare Energie, den Drang zur Höhe verliehen, mich hatte es aus der Klammer des Elends losgerissen, unter Tausenden bevorzugt. Tief aufatmend ging ich waldeinsam, gipfelwärts eigenen Weg. Aber Mitleid und Liebe zu den Bedrängten allein hätten mich nicht so machtvoll für die Mission begeistert, und auch meine Eitelkeit, die glänzende Triumphe erhoffte, gab nicht den Ausschlag. Ohne daß ich's mir eingestand, war es wieder Heller, der mich zu rascherer Entscheidung trieb. Vor meinen Augen tauchte gleich einer Vision jenes Harzabenteuer auf, das Hilde so anschaulich beschrieben hatte. Im glühenden, weißen Licht des Mittags ziehen müde, langsam, langsam die schwindsüchtigen Arbeiter aus den Schwefelgruben über die grüne Lehne des Oberschulenberges, eine Schar unglücklicher, schuldlos zum Tode verdammter Sklaven ... Und doch Menschen wie ich, von Fleisch und Blut wie ich, meine Brüder wie alle diese anderen um mich her. Und daß just er ihr Mörder war, das zwang mich, auf ihre Seite zu treten; in diesem Kriege bis aufs Messer kämpfte ich für eine gute und gerechte Sache gegen den Todfeind. – –

Daheim nahm ich eine wissenschaftliche Arbeit vor, aber gährende Unruhe hinderte mich, die Gedanken auf sie zu bannen; ich blätterte in meiner Abhandlung über Setonius und ertappte mich plötzlich dabei, wie ich mir die kommenden Ereignisse, den heutigen Abend in brennenden Farben ausmalte. Zuletzt gelang es mir doch, wenigstens einen Brief an Tilly zu schreiben, worin ich ihr ihre Unwahrhaftigkeit in ernsten Worten vorhielt und sie aufforderte, sich heute noch zu rechtfertigen, wenn anders ihr überhaupt irgend etwas an unserm weiteren Verkehr läge. Dann arbeitete ich die Rede aus, die ich heute halten wollte für den Fall, daß sich ein besonders günstiger Anlaß zum Eingreifen in die Debatte bot. Die Stunden schlichen unerträglich langsam hin; ich verbrachte sie auf der Straße und in Kaffeehäusern, fuhr einmal, um den Anblick einer hübschen Blondine länger genießen zu können, mit der Stadtbahn nach Westend und dachte sogar daran, Rombergs zu besuchen. Schon geraume Zeit vor der festgesetzten Stunde hatte ich in der Versammlung einen Platz belegt und freute mich des glücklichen Zufalls, der mir den Hauptredner, Franz Wethorn, in den Weg führte.

Der gesprächige Herr hatte mich kaum erblickt, als er auf mich zugelaufen kam und mir mit allen Zeichen freudigster Erregung wiederholt die Hand drückte. »Nein, das ist aber prächtig von Ihnen, Herr Doktor,« rief er und brachte seinen wallenden Bart sorgsam in Ordnung. »Freilich, ich wußt' es ja, Sie sind einer von den Wenigen, die das Herz auf dem rechten Fleck haben. Hoffentlich wird Ihnen mein Vortrag wohlgefallen. Anderen Leuten wahrscheinlich weniger. Ihrem Herrn Chef zum Beispiel schon gar nicht.«

»Sie meinen –«

»Nun natürlich Herrn Heller.«

»Ich bin seit einigen Tagen nicht mehr in der Firma.«

»So, so. Haben sich also auch mit ihm überworfen. Na, das war vorauszusehen. So ein zänkischer und hochmütiger Patron wie der ... Aber ich werd' ihm heute zu Leibe gehen, erbarmungslos, rücksichtslos. Mich reizt man nicht ungestraft, Herr Doktor. Ich lasse mich ja leicht von einem Menschen täuschen, aber wenn ich einmal hinter seine Schliche gekommen bin, dann kenn' ich auch kein Mitleid mehr. Sie werden ja sehen.«

Ich fragte einigermaßen erstaunt, was denn Herrn Wethorn in solchen Zorn wider Heller versetzt hätte, indessen zog es der Agitator vor, ein paar unverständliche Worte vor sich hinzumurmeln und sich der Pflege seiner prächtigen Mähne zu widmen. »Wenn Männer wie Heller so jedes Opfermutes entbehren,« sagte er endlich »auf wen soll man dann noch bauen? Doch lassen wir das.«

Er setzte mir in großen Zügen, strahlend im Vorgefühl des Sieges, die Disposition seiner Rede auseinander, betonte aber, daß er sich ganz den Eingebungen des Augenblicks überlasse und nur die ungefähren Umrisse zu Hause entwerfe. »Allein das Unmittelbare packt und ergreift. Mühsame Vorbereitung läßt den Redner kalt, da fehlt immer die elementare Leidenschaft. Die Sprache des Herzens kann man nicht zu Papier bringen.« Da ihm meine Aufmerksamkeit schmeichelte, erging es sich noch eine ganze Weile in derlei klangvollen Redensarten und ließ mir Zeit zu der Überzeugung, ob es geraten sei, gerade ihm mein Anliegen vorzutragen. Endlich siegte der heiße, sehnsüchtige Wunsch, die Entscheidung herbeizuführen, und als er einmal innehielt, um dem Lagerbier nachdrücklich zuzusprechen, wagte ich die Frage.

»Ich hätte gleichfalls große Lust, mich der Politik zu widmen. Und wenn Sie geneigt wären, mir Ihre Unterstützung zu leihen ... Sie sind ein einflußreicher Mann –« Ich kam nicht weiter, denn Herrn Wethorns kräftiges Lachen brachte mich einigermaßen in Verwirrung.

»Lieber Herr Doktor,« sagte er, vertraulich die Hand auf meine Schulter legend. »Bleiben Sie beim Leisten. Sie sind zweifellos ein tüchtiger Fachmann, ein Gelehrter sogar, aber von da bis zum gewiegten und angesehenen Parteimanne ist doch noch ein weiter Schritt. Sie bedürfen doch vor allem einer nationalökonomischen Vorbildung, die man sich nur im Laufe der Jahre aneignen kann; ungeheuer viel ernste und ehrliche Arbeit muß vorhergehen. Und wie sollten Sie die Zeit dazu finden? Und dann – ich rate Ihnen wirklich gut – was glauben Sie, daß Sie unter der Eifersucht der Nebenbuhler zu leiden haben! Es sind jetzt ohnehin schon zu viel gute Redner in der Stadt. Nein, wirklich, verbittern Sie sich Ihr junges Leben nicht ohne Not, lassen Sie die Hände von der Politik! ... Übrigens, wenn Sie auch mit Heller auseinander sind, es wird Sie doch interessieren – oder am Ende wissen Sie sogar Genaueres als ich darüber – er soll nämlich ganz ungewöhnlich stark in der Klemme sitzen. Und falls noch der Streik hinzukommt – und ich hoffe, er kommt hinzu, wenigstens an mir soll es nicht liegen –«

»Der Streik? Aber davon habe ich noch gar nichts geahnt!«

»Will ich glauben.« Herr Wethorn lächelte wieder sehr überlegen. »Euch geborenen Stubengelehrten kann der Himmel auf den Kopf fallen, und ihr glaubt, es wird zum Mittagsessen geläutet. Dabei wollen Sie Politik treiben und große Reden halten! Liebster Freund, bleiben Sie beim Leisten! Na, und was den Streik anbelangt, den erwarten wir eigentlich schon seit Wochen. Bisher aber hat's den Leuten immer noch an der geeigneten Führung gefehlt. Die ist jetzt da. Übrigens ein guter Titel für einen sozialen Vortrag, ›Die rote Tinktur,‹ was? Hat Aufsehen gemacht. Der Sache liegt nämlich ein riesig poetischer Gedanke zu Grunde. Die mittelalterlichen Alchymisten, das wird Ihnen wohl bekannt sein, suchten mit solch einer roten Tinktur Gold herzustellen, trieben also gewissermaßen Falschmünzerei, wollten im Handumdrehen reich werden. Heute ist es genau ebenso. Die schmachvolle Auswucherung und Ausbeutung des Volkes ... Aber sehen Sie doch, Herr Heller beehrt uns in höchsteigener Person. Na, das kann ein lustiger Tanz werden. Entschuldigen Sie mich nur, Herr Doktor, nachgerade wird's aber Zeit, daß wir an die Arbeit gehen. Und auf Wiedersehen nachher!«

Der Saal hatte sich inzwischen ziemlich gefüllt. Bereits stieg von den Tischen der graue Tabaksqualm auf, der sich dann im Laufe des Abends zu brodelnden Nebelmassen verdichtet und die Gasflammen zu ersticken droht; Geklapper von Biergläsern und der Lärm von tausend Stimmen vereinigten sich zu einem disharmonischen und doch einer gewissen Großartigkeit nicht entbehrenden Akkord. Ich ließ kein Auge von Heller, der sich, hier und da respektvoll begrüßt, langsam durch die Menge schob und schließlich an einem der vordersten Tische Platz nahm. In das Getöse hinein klangen die schrillen Glockenzeichen des Vorsitzenden, der die Versammlung für eröffnet erklärte; ein Rauschen stieg auf, dann ward es allmählich still. Der Redner, der sich über die europäische Lage verbreitete, sprach sehr eingehend und, wie es schien, nach dem Herzen der Zuhörer; er mochte auch Witze reißen, denn zuweilen brach wütendes, brüllendes Gelächter aus. Ich hörte ihn nicht, ganz befangen in phantastische, fremde Gedanken. Statt seiner sah ich mich dort oben stehen, unter mir die vielköpfige, unruhvoll bewegte, atemlos lauschende Menge, über deren Häupter die Rauchwolken träge hindampften, mir zu Füßen der Verhaßte, der wie gebannt an meinem Munde hing; hinten, ganz hinten Hilde's große, braune Augen, tröstende, liebe Sterne, die aus dem Nebel schimmerten. Ich hörte mich wundersame Worte sprechen; gewaltig starke und doch so zauberschöne Gedanken stiegen in mir auf. Mir war, als müßt' ich sie in Versen ausdrücken, daß sie heller und bunter leuchteten; in Tanzgewandung sollten sie daherkommen, wie es Göttern geziemt. Ich sah mich, den schwärmerisch entflammten Geisteshelden im geflickten Kittel, zerlumpt, krank, hungrig und doch ein unbezwinglicher Riese; fühlte mein bleiches Antlitz brennen, meine Augen leuchten vor unendlicher Menschenliebe, von Mitleid und Erbarmen. So rief ich meine neue Bergpredigt hinaus in die polizeilich überwachte Volksversammlung. Und andere standen nach mir auf und redeten und zeugten von dem neuen Gotte wie ich. Und ich sah, wie es verräterisch funkelte in den Augen der Männer ringsumher, wie ein Gedanke, brennend rot, einem prächtigen Falter gleich, langsam durch die Seelen schwebte. Ein blasser Einsam stand plötzlich neben mir, über dessen eingefallene Wangen schwere Thränen niedersickerten, Thränen überseliger Freude, wie sie ein junger Poet vergießt, dessen Dichtung endlich, endlich einen Kreis teilnehmender und begeisterter Freunde findet. Und wie ich schwieg, hob er zu sprechen an, eine wundersame und furchtbare Rede, voll Tiefsinn und lodernder Glut:

»Gehet hin von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln.

Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich nicht gespeiset. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich nicht getränket.

Ich bin ein Gast gewesen, und ihr habt mich nicht beherbergt. Ich bin nackend gewesen, und ihr habt mich nicht bekleidet. Ich bin krank und gefangen gewesen, und ihr habt mich nicht besuchet.

Da werden sie ihm antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich gesehen hungrig oder durstig, oder einen Gast, oder nackend oder krank, oder gefangen, und haben dir nicht gedienet?

Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: was ihr nicht gethan habt einem unter diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht gethan.

Und sie werden in die ewige Pein gehen, aber die Gerechten in das ewige Leben.«

Das waren die Worte, die die Mutter mir mit eigener Hand in die Konfirmationsbibel geschrieben hatte. In dieser Bibel lag ihr Bild, und ich hatte ihr in den letzten Stunden versprochen, es dort für immer liegen zu lassen. Wenn ich ihr liebes, verhärmtes Antlitz sehen wollte, las ich auch die leuchtenden Sätze aus dem Evangelium des Matthäus.

Ich erhob mich, um zu gehen. Es litt mich hier nicht länger. Da der Erläuterer der europäischen Lage offenbar gerade eine besonders geistsprühende Wendung vorbrachte, gaben sich die Umsitzenden das Ansehen, als störe sie mein frühzeitiger Aufbruch im Genusse; sie zischten sehr vernehmlich und verlangten laut Ruhe. Dadurch entstand eine beträchtliche Unruhe, alles schaute verdrießlich nach unserm Tische aus, und Hellers Blicke begegneten den meinen. Er winkte mir vertraut zu und lächelte sehr freundlich; er schien nicht übel geneigt, mir auf der Stelle zu folgen.

* * *


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