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Tillys Antwort auf meinen Brief kam schon am nächsten Tage. Ich hatte nicht erwartet, daß sie meine Vorwürfe als gerecht anerkennen, daß sie mich um Verzeihung bitten würde; allzu lange hatte ich mich ihren Launen gefügt und in urteilsloser Verliebtheit ihren Schwächen geschmeichelt. Daß sie mir aber in so kaltherzig rohen Worten die Freundschaft aufsagte, in einer höhnisch giftigen Manier, die zu der unorthographischen, ungefügen Schrift in seltsamem Widerspruche stand, das kränkte mich empfindlich. Gewiß, ich war entschlossen gewesen, mit ihr zu brechen; seitdem ich wußte, daß sie mich belog und betrog, war die schwärmerische Neigung für sie verflogen, aber mein Herz dankte ihr darum nicht minder für die märchenschönen Stunden, die ihre Liebe mir in meiner Armut und meinem Dunkel gespendet hatte. Mochte sie immerhin nur den in mir gesehen haben, der es ehrlich mit ihr meinte, der sie heiraten wollte – ihrer Küsse Glut hatte deshalb doch auf meinen Lippen gebrannt, und ich hatte deshalb doch unerhörte Seligkeiten genossen. Ich stand tief in ihrer Schuld. Und darum hatte ich mir gedacht, daß wir in Frieden, in stiller Trauer von einander gehen würden, daß für alle Zeit die Erinnerung wie Abendrot auf unserer gestorbenen Liebe ruhen sollte. Ihr Brief vernichtete diese melancholische Hoffnung. Tilly erklärte, daß ihre Angelegenheiten mich gar nichts angingen. Sie wäre meiner ewigen Fragen danach längst überdrüssig gewesen und hätte sich einen Spaß daraus gemacht, mich zu foppen; von Unwahrhaftigkeit könnte gar keine Rede sein. Unwahrhaftig wäre nur ich ihr gegenüber gewesen. Immer und immer wieder hätte ich ihr die Heirat versprochen, aber lieber auf eine einträgliche Stellung verzichtet, als mein Wort eingelöst. Nun, sie weine mir nicht nach. Sie wäre vielmehr froh, endlich von diesem Martyrium erlöst zu sein; sie hätte ohnehin schon lange gefühlt, daß sie mich nicht so liebe, wie es unter Ehegatten wohl erforderlich sei. Sie gebe mir mein Wort um so bereitwilliger zurück, als sie es auf keinen Fall ertragen könne, von mir brutalisiert zu werden. Dergleichen habe sie nicht nötig; sie würde mir auch meine Geschenke zurückgeben, wenn sie welche besäße. – Ich war versucht, den Schandbrief in kleine Stücke zu zerreißen; ein starkes Gefühl des Abscheus quoll in mir auf, aber ich faßte mich bald. Dieser Verlust ging mir nicht mehr so nahe, wie ich immer noch gefürchtet hatte; ganz andere Sorgen und Pläne beschäftigten mich. Unsere Wege trennten sich heute für alle Zeit – in der That, was gingen mich ihre Angelegenheiten an?

Ob ich schon einen Nachfolger in ihrer Gunst hatte? Ich glaubte es nicht. Ich vermutete vielmehr, daß sie allen Ernstes annahm, weiter mit mir spielen zu können, daß sie mit Sicherheit erwartete, ich würde sofort nach dem Empfang des Briefes zu ihr eilen und ihre Verzeihung erflehen. O, die Abenteurerin sollte sich verrechnet haben! Sie hatte diesmal zu hohen Einsatz gewagt.

Wie leicht ich doch diese Neigung aus meinem Herzen riß! Es war mir ein neuer Beweis dafür, bis zu welchem Grade ich mich und meine Leidenschaften zu meistern vermochte. Auf dem Wege zu Jonas' dachte ich kaum noch an Tilly. Aber mit Sorge erfüllte mich die Vorstellung, daß die gastfreundliche Familie, Hilde vor allen, mir mein auffälliges Betragen im Theater sehr übel genommen haben könnte. Hilde, die mich doch für krank halten mußte, hätte sich, vielleicht durch Walter, gewiß nach meinem Befinden erkundigt, wenn sie nicht beleidigt gewesen wäre. Unsere junge Freundschaft entwickelte sich so fröhlich, und unsere Gedanken klangen immer so harmonisch zusammen, daß es mich bitter verdroß, das kaum geknüpfte Band durch einen dummen Zufall schon wieder zerrissen zu sehen. Um so bitterer verdroß, als zweifellos ich ganz allein alle Schuld an dem Mißverständnis trug.

Es war noch sehr zeitig, meine beiden Schüler jagten um diese Stunde wahrscheinlich noch auf der Eisbahn herum, und wenn ich nicht die leise Hoffnung gehegt hätte, Hilde zu Haus zu treffen, würde ich meinen Spaziergang durch den schönen, frostigen Winternachmittag fortgesetzt haben. So aber stieg ich mit heftig klopfendem Herzen, als stünd' ich vor einer großen Entscheidung, die Treppe hinauf. Sie selber, an die ich diese ganze Zeit über unablässig gedacht hatte, öffnete mir.

Hilde war so freundlich und gütig, daß meine Befangenheit sehr rasch behaglichster Stimmung Platz machte. Sie sprach ganz leise, sie hatte sich erkältet und hütete das Haus, aber dieser Flüsterton lieh unsrer Unterhaltung einen eigenen, gefährlichen Reiz. Durch die schweren sammetnen Vorhänge drang das Licht wunderbar gedämpft ins Gemach; über der Kaminecke, wo wir uns niederließen, lag schon halbe Dämmerung. Der Feuerschein überflackerte phantastisch ihr madonnenhaftes, weißes Antlitz; strahlend und verzehrend schön, ein farbenprächtiges Gemälde Tizians, saß sie in ihrem dunkelroten Kleide vor mir. Ich weiß nicht mehr, wie unser Gespräch begann. Ich sehe nur noch das herrliche Bild, ihr durch die Dämmerung perlenweiß schimmerndes, von schwarzem Gelock umrahmtes Gesicht, das lockende, leuchtende Weiß ihrer Augen, die vornehme, aphrodisische Fülle ihrer Gestalt. Sie hatte sich bequem in den Sessel zurückgelehnt, und manchmal, wenn unsre Unterhaltung stockte, nicht weil es uns an Stoff mangelte, sondern weil wir beide demselben schönen Gedanken nachhingen und von Dingen träumten, die wir uns nicht sagen mochten, manchmal verschränkte sie die Hände hinterm Haupte und lag, die Augen sinnend zur Decke gerichtet, bewegungslos da. Ihre leise, weiche Stimme, ihr halb unterdrücktes Lachen, das silbern durch den Raum rieselte, die langsam zunehmende Dunkelheit und die rote Glut des Feuers im Kamin, das seine Streiflichter immer breiter um Hildens Gestalt warf – es war alles wie ein Märchen.

»Warum schreiben Sie eigentlich keine Gedichte?« fragte Hilde einmal unvermittelt. »Ich möchte so gern ein Gedicht von Ihnen haben.«

»Ich werde mich wohl hüten, das bischen gute Meinung leichtsinnig zu zerstören, das Sie mir noch gönnen.«

»Aber Gertrud Romberg haben Sie sicher schon Gedichte geschrieben!«

»Fräulein Gertrud würde das gar nicht erlaubt haben. Sie ist viel zu praktisch dazu. Ein Chemiker darf doch keine Poesie erdenken.«

Hilde richtete sich auf und strich mit beiden Händen das Haar aus der freien Stirn. »Sie kennen Rombergs schon sehr, sehr lange? Aber was gefällt Ihnen eigentlich so an Gertrud? Wissen Sie, was mir gefällt? Sie ist so wahr, so ... ich begreife es gar nicht. Ich bin überzeugt, in ihrem ganzen Leben hat sie noch nie jemanden in den April geschickt, nur weil sie das für eine Lüge hält, und weil Lüge die größte Sünde ist. Ja – und wissen Sie, was mir nicht an ihr gefällt?«

Ich glaubte das Recht zu einer Keckheit zu haben. »Ihr Bruder?«

»Ach der!« sagte sie obenhin, ganz geringschätzig. Es war zu dunkel im Zimmer, und sie saß zu tief im Schatten, als daß ich sehen konnte, ob sie errötete und was das Zucken ihrer Lippen verriet. »Sie wagt nichts. Rein gar nichts. Sie hat so gar kein Selbstvertrauen.«

»O, das ist wohl doch ein Irrtum. Ich bin doch anderer Meinung. Niemand empfindet so große Sehnsucht wie sie, etwas zu werden –«

»Nun ja, nun ja,« unterbrach Hilde mich schnell, als ärgere es sie, daß ich die Freundin verteidigte. »Sie kennen sie ja besser. Schließlich ist es auch gleichgiltig.«

Aber ich ließ mich nicht abweisen. »So lange Jahre hat sie häusliches Elend gekostet – Fräulein Hilde, wie soll ich Ihnen das schildern? Sie wissen ja nicht, wie das den Menschen bricht und zerstört, demütig und ergeben macht! Da wird man gegen sich selbst und sein Können mißtrauischer als gegen das anderer, da schiebt man sein Bestes in den Winkel, hängt sein bischen Talent in die Rumpelkammer, um nicht beim Broterwerb gestört zu werden. Ich kann das alles Gertrud nachempfinden, mich peitschte das alles ebenso hart, und härter noch als sie –«

Hilde erwiderte nichts. Sie schien mir gar nicht zuzuhören. Regungslos sah sie über mich fort, in den verdämmernden Abend hinein; nur ihre Füßchen pendelten unterm Rocksaum unruhig hin und her.

»Lügen Sie nicht – Sie lieben Gertrud!« sagte sie dann rasch. »Ich habe es vom ersten Augenblick an gewußt. Sie müssen sie ja lieben. Gertrud liebt Sie ja auch.«

»Das ist nun so Ihr Lieblingsgedanke, und ich muß mich drein ergeben!« entgegnete ich, sonderbar erregt. Mein Gesicht brannte, und ich wagte es nicht, Hilde anzublicken, weil ich fürchtete, sie sähe seine Röte. »Sie machen mich eitel und eingebildet, und wenn ich nicht ganz bestimmt wüßte, daß Gertrud sich demnächst mit einem jungen Lehrer, dem Doktor Wendtland, verloben will –«

»Ach, das fällt ihr ja gar nicht ein. Das ist auch so eine dumme Idee ihres Bruders. Der sieht und begreift natürlich nichts.«

»Sie scheinen von Walter doch recht wenig zu halten!« meinte ich, fest entschlossen, ihr unterm günstigen Stern dieser Stunde zu entlocken, was ich wissen mußte. »Sie werden mich auslachen, aber ich habe eine Zeit lang wirklich geglaubt, daß er so unvernünftiges Glück hat und –«

»Und? So sprechen Sie doch ruhig aus!« Hilde bückte sich, um die goldfarbne Seidendecke von der Erde aufzuheben und über ihre Knie zu breiten.

»Sie werden mir böse sein. Und ich möchte nicht, um alles in der Welt, daß Sie das auch nur eine Sekunde lang sind.«

»Chemiker machen keine Gedichte. Eigentlich müßte ich Ihnen auch nichts erzählen; Sie behalten ja Ihre Geheimnisse auch so sorgsam für sich. Aber – na ja, das mit Herrn Romberg ... es war 'ne rechte Dummheit. Er himmelte mich so unvernünftig an, und uns Mädchen macht das immer wieder Vergnügen. Ich glaube, Gertrud war an allem Schuld.« Sie lachte, um ihre Verlegenheit zu bemänteln. »Sie werden's doch nicht für ernst gehalten haben. Eine solche Kinderei.«

»Hand darauf?«

»Aber gewiß!« Sie reichte mir, wieder lachend, mit einer energischen Bewegung die Rechte, und ich küßte die sammetweiche Haut, lang und innig. Ich wollte ihre Hand noch nicht loslassen, doch sie entzog sie mir schnell.

»Wir waren gestern eigentlich sehr besorgt um Sie,« begann das Mädchen, während ich, am ganzen Leibe zitternd, nicht fähig war, ein unbefangenes Wort zu sagen. »Nehmen Sie's nicht übel, aber manchmal sind Sie wirklich recht merkwürdig. Denn das glaube ich Ihnen nicht, krank fühlten Sie sich nicht. Und mit Herrn Heller haben Sie sich auch schon wieder überworfen. Sie müssen ein schrecklich unverträglicher Mensch sein.«

»Ja doch ... ich hasse ihn. Ich ertrug es nicht länger, mit ihm zu arbeiten, in ihm sogar meinen Vorgesetzten sehen zu müssen. Aber wenn Sie wüßten, weshalb ich so denke –«

»Ich traf ihn neulich wieder in Papas Komptoir. Da hätt' ich Ihnen gegönnt, zu sehen, wie ich den behandelte. Er redete vom Wetter und vom Theater; ich fragte ihn, was denn seine Schwefelgruben im Winter machten und die armen Leute darin. Ich glaube, er verstand mich gar nicht.«

»Er verstand Sie. Er glaubte sogar, ich hätte Sie gegen ihn aufgehetzt. Er ahnt gar nicht, was eine erbitterte Feindin er in Ihnen hat.«

»Feindin, Feindin! Mein Gott, da müßte er mich doch ein bischen mehr interessieren. Vater meint übrigens, es stehe schlecht mit ihm. Man redet so allerlei. Da ist es vielleicht ganz gut, daß Sie fortgegangen sind. Und wenn Sie ihn 'mal wiedersehen, grüßen Sie ihn von seiner Feindin, und sagen Sie ihm, ich hätte Ihnen Glück gewünscht zum schnellen Entschluß. Feindin! So ein Narr!« Im Tonfall ihrer Stimme noch mehr als in der zwischen Licht und Dunkel verschwimmenden Schönheit ihres Leibes lag ein eigentümlich erregender Zauber; wie sie das Wort »Feindin« aussprach, mit dem Ton auf der letzten Silbe, so daß es weit weniger ihren Haß ausdrückte, als ihr Mädchentum, so daß es mir, der sie nur noch undeutlich im Schatten vor sich sah, doch sofort all ihre weibliche Schönheit blitzhell vor die Seele rückte – das berauschte und betäubte mich.

Dann erzählte ich ihr von den Plänen und Hoffnungen, die ich für meine Zukunft hegte, sprach wohl eine volle Viertelstunde lang ganz allein und wußte doch, daß sie gierig jedes Wort einschlürfte, jeden Gedanken. Und von der Versammlung gestern erzählte ich ihr und spann kühne Träume daran; den unzähmbaren Ehrgeiz meines Herzens, der sich zu schwindelnden Höhen aufschwang, mein tolles Wünschen, meine frechen Forderungen an Leben und Glück, ihr verriet ich alles. Ich erwachte wie aus tiefem, wonnesüßem Opiumrausch, als ich draußen die Klingel gehen hörte. Auch Hilde erhob sich rasch und trat, ihr Gewand ordnend, ans Fenster. Sie ließ es zu, daß ich ihre Finger ergriff und abermals küßte; sie zuckte zusammen, als unsere Leiber sich flüchtig berührten, trat aber nicht zurück. Ich trank die köstlichen Freuden dieser Minute mit durstiger Seele; ich wußte nicht, ob ich wirklich denke und empfinde oder nur träume, wußte nur, daß mich vor diesem Tage niemals das Glück mit vollem Zweige gekrönt hatte. Was ich auch bisher von holden Daseinswonnen gekostet und genossen hatte – ach, es war wenig genug gewesen! – jämmerlich fad und matt schien es mir, mit dieser Stunde stillglühender, duftender Pracht verglichen ...

Meine beiden Schüler haben, das ist gewiß, niemals mein Lob so laut, so begeistert gesungen, wie am Abend dieses Tages. Ich konnte mir gar nicht genug thun, um ihre Liebe und Bewunderung zu erringen; ich quälte sie nicht mit der kleinsten Formel, löste ihnen die Aufgaben von A bis Z, ohne sie durch irgend eine Frage in Verlegenheit zu setzen. Ich versprach ihnen, unter allen Umständen ihr getreuer Freund zu bleiben, bis sie das langweilige Abiturium hinter sich hätten. Es waren ja Hildens Brüder, denen ich mich gefällig erwies, und was ich hier wirkte und schaffte, that ich für Hilde.

Der frühe Winterabend war mit tausend Sternen geschmückt, die in mattem Glanze durch das kahle Geäst lugten, ein entzückendes Feuerwerk, ein leuchtendes Liebeslied. Jene milde Kälte lag in der Luft, die alle Lebensgeister weckt, die den Dunst der Großstadt verjagt und Höhenodem in das Häusermeer haucht. Noch brannten die Laternen nicht, und in den hohen Fensterscheiben oben glomm noch ein letzter, fahler Silberschein, als hätte der scheidende Tag vergessen, dies sein Eigentum mitzunehmen. Alle Farben, alle Umrisse schwammen in feinem, kühlem, blaugrauem Duft, darin sich Himmel und Erde begegneten. Ich schleuderte durch die köstliche Frische dieses Abends, losgelöst von allem, was mich einengte und bedrückte; so groß war der Jubel meiner Seele, daß ich sang und lachte und Verse vor mich hinschwatzte. O du Glück, du Glück ... Ich lüftete den Schleier, dahinter es sich verbarg, und ein Meer von Licht flutete auf mich ein und erhellte Vergangenheit und Zukunft. Die rechte Arbeitsfreude überkam mich; zu wertvoll und teuer war diese Stunde, als daß ich sie in faulem Nichtsthun vergeuden durfte. Ich eilte nach Hause. Mit nicht geringem Erstaunen und einigem Ärger sah ich Gertrud Romberg vor der Thür auf und ab gehen.

»Ich war schon heute früh bei dir,« entschuldigte sie sich. »Ich mußte dich sprechen und hinterließ deshalb, daß ich um sechs Uhr wiederkommen würde. Ich hatte bis fünf Stunde.«

»Man hat mir nichts davon gesagt, die Leute sind zu rücksichtslos,« erwiderte ich, meine Ungeduld niederkämpfend. »Ist es wirklich etwas so Wichtiges, daß du hier in der Kälte auf mich wartest? Du hättest nur schreiben sollen, und ich wäre zu euch gekommen.«

»Wenn ich dich nicht störe, Max, würd' ich dich schon jetzt um ein paar Minuten bitten. Wir wollen dir ja gewiß nicht lästig fallen –«

»Aber ich bitte dich!« Ihre stille Resignation und die Demut, die in ihrer Stimme lag, rührten mich; es kam mir wieder zum Bewußtsein, daß ich wie ein Schändlicher, wie ein Undankbarer gegen dies reine und edle Geschöpf handelte. »Mach mir nur Vorwürfe, Trudchen, schilt mich nur tüchtig aus. Da hast ganz recht. Wenn du freilich wüßtest –«

Sie lächelte glücklich. »Ja, erwartet haben wir dich eigentlich jeden Tag. Gestern glaubte ich ganz bestimmt, du würdest kommen, wenn auch erst kurz vor zehn. Nein, du arbeitest dich wirklich noch zu Schanden, Max. Wenn mit Walter jetzt etwas anzufangen wäre, hätte er dich einfach zwangsweise zu uns holen müssen.«

»In der That, du hast recht, dies Übermaß von Arbeiten ... Ist Walter nicht wohl?«

»Seinetwegen komme ich eben zu dir. Du bist doch sein bester Freund. Und kannst vielleicht einen guten Rat geben oder sonst helfen.«

»Aber laß uns nicht auf der Straße stehen bleiben,« lud ich sie ein, »ruh' dich ein wenig in meiner einsamen Höhle aus. Und falls es dir recht ist, Trude, und Walter ängstigt sich deinetwegen nicht, dann gehen wir nachher ins Schauspielhaus. Wir sind so lange nicht mehr zusammen gewesen, wir Freunde, was?« Sie sah mich groß und überrascht an, sie wußte nicht, wie sie mir danken sollte, aber ihre leuchtenden, blauen Augen, das Lächeln ihres Mundes sagten mir, welch innigen Herzenswunsch ich ihr erfüllte.

»Und nun, was ist's?« fragte ich oben, als ich die Lampe entzündet und den einzigen Stuhl, den ich besaß, für sie freigemacht hatte. »Hoffentlich braucht ihr Geld. Davon hat's jetzt eine schwere Menge hier zu Lande. Wahrhaftig, Trude, heute kannst du von mir eine halbe Million kriegen. Hier oben sieht's zwar nicht besser aus als früher, aber das will nichts bedeuten, es geschieht nur wegen der Einschätzungskommission. Ich bin ein verkappter Nabob.«

»Es ist Walters wegen,« sagte Gertrud zögernd, indem sie sich den Schleier abband. »Ich weiß nicht, was das mit den beiden werden soll. Mit ihm und Hilde, mein' ich. Sie ist auf einmal ganz verändert, kommt nicht mehr zu uns, läßt nichts mehr von sich hören –«

»Das Fräulein ist krank,« erläuterte ich. »Ich habe sie vorhin erst gesprochen. Total heiser. Freilich, die Geschichte mit Walter ... weißt du, meiner Meinung nach habt ihr euch da etwas eingeredet – oder aber, es hat sich's keiner von beiden richtig überlegt. 'ne Schwärmerei, Gertrud, thatsächlich nichts weiter. Das ist meine Ansicht. Er soll sich's doch nicht zu Herzen nehmen.«

»Hat sie mit dir darüber gesprochen?« forschte Gertrud ängstlich.

»Aber Trude! Für so intim befreundet darfst du uns doch nicht halten. Aber ich habe die Empfindung, als ob sie ... Na, und du mußt doch selbst einsehen, du kleine Klugheit: ein recht ungleiches Paar würden die beiden abgeben, ein höllisch ungleiches Paar.«

Die Lampe bestrahlte hell ihr ernstes Gesicht, in dem Kummer und Gram ausgeprägt lagen. »Ja, ja – doch ich konnt's ja nicht ahnen. Du glaubst ja nicht, was für Avancen sie ihm machte. Er selbst hätte ja nie den Mut dazu gehabt, aber – aber als sie wirklich zeigte, daß sie sich sehr für ihn interessierte ... Und sie hat's mir doch selber gesagt, Max. Ich hätt's ihm sonst gewiß ausgeredet. So mit einem Menschen zu spielen!«

»Das sind Mädchenlaunen. Den ganzen Tag über hat das Völkchen nichts zu thun, als Romane zu lesen und zu ersinnen,« versuchte ich zu scherzen. Insgeheim empörte es mich aufs äußerste, daß Gertrud so niedrig von Hilde Jonas dachte; ihre Eifersucht freilich erklärte alles. »Von Fräulein Hilde halte ich dergleichen übrigens für unmöglich. Ihr werdet euch irren.«

»Nein, nein. Ich kenne da Hilde doch zu gut. Wenn sie so anfängt, dann ist alles vorbei,« sagte Gertrud, den Sinn meiner Worte nicht verstehend. »Du hast keinen Begriff, wie hochmütig sie sein kann, wie unnahbar. Als ob sie Einen nie gekannt, nie eine Silbe mit Einem gesprochen hätte. Sie erinnert sich dann an nichts mehr. Ich weiß es noch aus der Schule, wie sie's macht. Ich hätte vorsichtig sein und Walter warnen sollen. Freilich, ich konnte ja nicht glauben, daß jemand so herzlos –«

»Ich kenne Fräulein Hilde zu wenig, und ich erlaube mir deshalb kein Urteil,« unterbrach ich sie mit unverhohlenem Ärger. »Aber selbst wenn sie schuldig wäre – ist es nicht besser, daß sie rechtzeitig zur Einsicht kommt? Walter paßt doch nun einmal nicht für sie, absolut nicht. Erinnerst du dich noch unserer Unterhaltung von neulich? Deine Freundin will beschäftigt, immer angeregt und amüsiert werden. Das kann doch Walter nicht. Er hat sehr viel gute Eigenschaften, und ich habe ihn sehr lieb – aber offen gestanden, als Hilde Jonas' Mann vermag ich ihn mir beim besten Willen nicht vorzustellen. Zu der Einsicht hätte er selber kommen müssen.«

»Er liebt sie aber, Max – ich kann es dir gar nicht sagen.«

»Und das stöhnt er dir vor? Recht hübsch von ihm! Hausmütterchen soll helfen und kalte Umschläge auflegen oder das widerspenstige Mädel an den Haaren herbeiziehen. Dergleichen läßt sich doch nicht kommandieren, Trude! Wenn er ein richtiger, tüchtiger Kerl ist, dann faßt er sich ein Herz und geht zu ihr hin, oder macht von vornherein einen dicken Strich durch die ganze Geschichte. Das scheint mir das allervernünftigste. Und um Himmels willen, was soll ich denn bei der Sache thun?«

»Ich sehe es ja ein – es war dumm von mir!« sagte Gertrud sehr verlegen. »In der Angst und der Sorge thut man manches ... Er taugt gar nicht für sie, das ist gewiß. Ja du, Max, du würdest dich eher mit ihr zurechtfinden.«

»Wie steht's übrigens mit dir selbst?« unterbrach ich sie, von dem unbequemen Thema jäh ablenkend. »Ich glaubte immer, nun bald die Verlobungsanzeige zu bekommen, aber die Trude will nicht. Magst du ihn denn so wenig leiden?«

Sie errötete heftig. »Ich heirate überhaupt nicht. Wozu denn? Ich fühle mich ja doch jetzt so wohl. Und Walter muß jemand um sich haben, der auf ihn acht giebt und es gut mit ihm meint.« Sie sprach sehr hastig und lauter, als es sonst ihre Art war. »Ich bin noch so jung. Wenn der Rechte kommt, werd' ich's schon merken.«

»Und Doktor Wendtland ist nicht der Richtige?« neckte ich sie.

»Ich habe gar nichts gegen ihn. Es ist ein sehr braver Mensch und hat Walter schon viel Liebes gethan. Aber muß ich ihn deshalb heiraten?« Das klang sehr drollig in ihrem Munde.

»Wenn du eine gute Schwester und ein vernünftiges Mädel wärst, thätest du es. Du behandelst ihn zu schlecht, das weiß ich. Walter erzählte mir förmliche Räubergeschichten. Nicht einmal ins Konzert hast du mit ihm allein gehen wollen.«

»Nein – aber wie könnte ich denn auch?«

»Mit mir gehst du sogar ins Theater!«

»Ja, mit dir!« sagte sie einfach. »Mit dir ginge ich bis ans Ende der Welt und fürchtete mich nicht. – Wir beide kennen uns ja auch schon so lange,« setzte sie hinzu, als besorge sie, ein Dritter könnte sie hören und mißverstehen.

»Wenn du fortfährst, paß' auf, dann treffen wir beide im höchsten Alter wieder zusammen, ich als grauer, knurriger Hagestolz, du als Spitteljungferchen. Ja, so kommt es. Geschieht dir aber ganz recht.« Indessen schien ihr diese trostlose Aussicht keinen besonderen Schrecken einzujagen, und als sie nachher an meinem Arm über die Straße ging, plauderte und lachte sie unablässig; selten noch hatte ich die Ernste so aufgeräumt gesehen. Ich war ein wenig zerstreut, die Erinnerung an die sonnige Schönheit des Nachmittags zog meine Gedanken ab; ja, ich bereute es beinahe, daß ich mich mit Gertrud an einem öffentlichen Orte zeigen wollte. Wie leicht konnte Hilde davon erfahren und dann grundfalsche Schlüsse ziehen ...

Gertrud schien mir einen Vorwurf daraus zu machen, daß ich Parkettplätze kaufte; wir hatten früher immer mit sehr bescheidenen Sitzen im dritten Range, dem Kronleuchter gegenüber, fürlieb genommen. Sie fand, daß der Theatersaal, von oben gesehen, einen weit imposanteren Anblick gewähre; da wirkten der von Menschen wogende, unruhvolle Kessel des Parketts unten, die sich auftürmenden Ränge, wo man Kopf an Kopf gedrängt saß, die Logen mit ihren schön geputzten Insassinnen und eleganten Herren weit großartiger. Ich wußte, sie wäre mir für den schlechtesten Eckplatz auf der höchsten Stufe, wo sie sich bücken und den Hals schmerzhaft verrenken mußte, wenn sie etwas sehen wollte, ebenso dankbar gewesen wie jetzt. Das Schauspiel von Grillparzer fesselte mich heute nicht, obwohl ich den Wiener Poeten, der hellenische Gesinnung und Donauphäakentum so klassisch vereinigt, sonst sehr lieb hatte; ich gönnte auch Gertrud kaum einen Blick, die mit halb erbrochenen Lippen und schimmernden Augen den Vorgängen auf den Brettern folgte.

Es gab nach dem ersten Akte eine kurze Pause, während der ich mich im Theater umsah. Ganz von ungefähr begegnete mein Blick einem Lächeln des Herrn Kutzner, der mit seiner stattlichen Frau nur einige Reihen vor uns saß. Er grüßte lebhaft mit der Hand, nickte wiederholt und grüßte so liebenswürdig, daß man mich für seinen intimsten Freund halten mußte. Ich wäre ihm nachher gern ausgewichen, aber er folgte mir auf dem Fuße, so daß ich nicht umhin konnte, Gertrud mit den beiden bekannt zu machen. Während die Damen einige Worte austauschten, zog er mich beiseite.

»Das war ein kühner Entschluß – allerhand Respekt vor Ihnen, Herr Doktor! Ja, dem Heller muß man die Zähne weisen, aber tüchtig, sonst bricht er sie Einem aus. Wir stehen uns seit gestern übrigens auch nicht mehr so ganz.«

»Im Ernst? Nun ja, die leidigen Geldgeschäfte!« redete ich frisch drauf los. »Es soll recht bedenklich mit ihm bestellt sein!«

»Ganz Berlin weiß es!« klagte Herr Kutzner. »So ein Mann! Wer hat ihm denn nur geraten, auf die Börse zu gehen? Und nachher, wenn die Würfel nicht so klappen, wie's Seine Hoheit wünschen, nachher packt man unsereinem alles auf. Als ob heute überhaupt noch ein Mensch etwas gewönne! Ich sage Ihnen, Herr Doktor, ich warte nur noch Weihnachten ab – da bereite ich meiner Familie eine Festüberraschung und hänge mich auf. Was den Heller anbelangt, so glaub' ich nun freilich, das Blättchen wird sich wenden; Unglück in der Liebe, Glück im Spiel. Ja, Doktor, so 'ne Dame ist ein Unglück. Aber Sie gefallen mir. Na, ich sage nichts.« Er blinzelte pfiffig.

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Na, Herr Doktor, bei manchem Mädel hat man Unglück, wenn man Glück bei ihr hat. Sie können ganz froh sein. Besonders wenn Sie sich so zu trösten wissen. Schade, Herr Doktor, daß Sie nicht Medizin studiert haben, Sie hätten schon jetzt 'ne schöne Praxis. Aber mir scheint, Sie studieren nun die Rechte.« Bei diesen Witzchen, deren Sinn ich noch nicht ganz erfaßte, musterte er Gertrud sehr ungeniert.

»Wenn ich nicht sehr irre, sind Sie momentan ungemein geistreich. Aber ich verstehe Sie nicht, weiß Gott. Was beabsichtigen Sie eigentlich?«

Der Klang meiner Stimme schien dem Kleinen nicht zu gefallen; er zuckte nur die Achseln. »Sie dürfen einen Spaß nicht gleich krumm nehmen. Ja ja, 's ist traurig; wer 'nen schäbigen Rock trägt und kein Geld im Portemonnaie, der darf keinen Witz machen; es lacht doch niemand drüber und er kriegt höchstens Puffe dafür.«

Die beiden Damen waren vom Menschenstrome in eine entfernte Ecke des Foyers geschoben worden; sie kamen jetzt quer durch den Saal wieder zu uns herüber. Kutzner wollte ihnen entgegen. Ich hielt ihn zurück. »Nun reden Sie einmal offen, was bedeuten diese rätselhaften Anspielungen? Zielen Sie auf mich? Dann seien Sie ehrlich!«

»Werd' ich mich hüten; Sie sind ein ungemütlicher Mann. Und außerdem – nichts Gewisses weiß ich nicht. Ich bin kein Zwischenträger. Aber fragen Sie einmal den Herrn Wethorn, wenn Sie neugierig sind – von dem hab' ich's selber erst heute erfahren!«

Frau Kutzner gab ihrem Mann einen Wink, Gertrud und mich allein zu lassen; der bewegliche Herr verabschiedete sich unter reichlichen Verbeugungen. Ich mußte mich mit Gewalt dazu zwingen, auf Gertruds unschuldig kluges Geplauder zu hören. Ich wußte, daß ein Unglück geschehen war oder geschehen sollte und sann unruhvoll den dunklen Worten des Schwätzers nach.

* * *


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