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Ich hatte gewußt, daß er noch kurz vor der Entscheidung alles aufbieten würde, mich in seinem Sinne zu beeinflussen. Ich hatte mit Zuversicht darauf gerechnet und mich sogar darauf gefreut. Er würde dadurch ja andeuten, daß er sich meiner noch nicht sicher fühlte, daß er mich für fähig hielt, mit der Tinktur die Flucht zu ergreifen; er würde mir beweisen, wie wenig er diesmal meine Gedanken durchschaute und meine Pläne erriet. Was ich gehofft hatte, traf ein. Zwar war er zu klug, um mich durch Kundschafter überwachen zu lassen und so vielleicht meinen Zorn wachzurufen, aber ich bemerkte wohl, daß man meine Wirtin mißtrauisch gemacht hatte, gleich als stünde ich auf dem Sprunge, abzureisen, und daß sie mich nicht aus den Augen ließ. Vor wenigen Tagen noch hätte mich diese Spionage zur Wut gereizt, jetzt aber bereitete sie mir lebhaftes Vergnügen, entsprach all meinen Wünschen und Hoffnungen. Sein thörichter Argwohn wäre wohl erloschen, hätte er gewußt, was mich bewegte, und um Gnade schreiend wäre er übers Meer geflohen ... Aber die Goldgier hielt ihn in starken Klauen, machte ihn blind und taub. Er war gefangen, verloren ...

Regnerisch, in triefendem Dunst, der vom einförmig grauen Himmel immer dichter herniederkroch, brach der Tag an. Ich erwartete ihn sehnsüchtig; seit fünf Uhr saß ich bei der erbärmlichen Lampe und arbeitete. Ich hatte gehofft, die blutrote Wintersonne zu sehen, die mir so oft in früher Morgenstunde Genossin gewesen war, mich so oft zur That gemahnt hatte. Es schien mir ein böses Zeichen, daß sie gerade heut ausblieb, es stimmte mich nachdenklich und nahm mir die kecke Siegeszuversicht. Und abermals verlor ich mich in lange Grübelei, und abermals sann ich der Frage nach, ob es nicht unedle Gründe waren, die mir die Waffe in die Hand drückten, ob ich mich nicht selbst belog. Es war noch dunkel draußen, der Regen klatschte ans Fenster, und vom Treppenflure her klang es gespenstisch. War es der Sturm, der am Geländer rüttelte, waren es Menschenhände? Oder war es der Tote, dem ich heute den Kameraden nachsenden wollte? Von Grausen gepackt, sprang ich auf und überzeugte mich mit zitternden Händen, daß der Riegel fest vorgeschoben war.

Es ging kein anderer Weg. Versäumte ich's wieder, so gab es für mich keine Rettung mehr. Wenn ich in meiner Feigheit auch noch warten und zögern wollte, er nicht. Er drang auf Entscheidung. Gestern abend war der alte Dr. Schneider, der Chemiker, bei mir gewesen, sein Geschöpf, sein willenloses Werkzeug. Der menschenscheue Einsiedler suchte mir einzureden, daß er etwas wie Sehnsucht nach mir verspürt hätte und deshalb gekommen wäre; indessen durchschaute ich ihn beim ersten, ungeschickten Worte und wußte, daß er hergesandt worden war, mich an das Unabänderliche zu erinnern. Wir saßen wohl eine Stunde lang bei einander, in halb gleichgültigem Gespräch, das immer wieder stockte, immer wieder versandete. Manchmal schien es, als hätte mir der wunderliche Alte etwas zu sagen, das ihm mehr am Herzen lag als die zwecklosen und peinlichen Reden, in denen wir uns ergingen. Er betrachtete dann seine schmutzigen, zerarbeiteten Finger, und die eingesunkenen Augen in dem faltigen, welken Gesichte richteten sich fragend auf mich.

»Glauben Sie an – an das, was man so Geister und Gespenster nennt?« fragte er unvermittelt nach einer längeren Pause.

Ich zuckte nur die Achseln.

»Die Tiere haben den Sinn,« fuhr er fast eifrig fort. »In jungen Jahren, als ich im Posenschen lebte, ist es mir immer wieder passiert, daß meine Pferde zur Nachtzeit an ganz bestimmten Stellen plötzlich stehen blieben, an allen Gliedern zitterten, in Schweiß ausbrachen und nicht weiter zu bringen waren. Als ich einmal auf solch einem Ritt unsere beiden Wolfshunde mitnahm, fingen die starken und mutigen Kerle im selben Augenblick, wie der Gaul versagte, kläglich zu winseln an und wollten angstvoll an mir hinauf. Sie mußten etwas gesehen haben, was ich nicht sah.« Er hielt inne, als erwarte er eine Entgegnung. Da ich aber in meinem Schweigen verharrte, knurrte er ein paar unverständliche Worte vor sich hin.

»Übrigens hat der feiner organisierte Mensch auch die Nerven dafür,« begann er nach einer Weile von neuem. »Nur sind sie verkümmert. Wenn Sie in der Nacht allein sind und hören irgend ein seltsames Geräusch, dessen Ursprung Sie sich durchaus nicht erklären können, überläuft Sie dann nicht jener ganz eigenartige, furchtbare Schauer, so ein Fieber des Entsetzens, wie Sie es bei alltäglicher Furcht nicht annähernd verspüren? Ich behaupte, da wittern die feinsten Fasern unseres Nervensystems etwas Ungeheuerliches, das die gewöhnlichen, groben fünf Sinne leider oder Gott sei Dank nicht mehr zu erfassen vermögen. Da tritt ein ganz neuer, sechster Sinn in die Erscheinung.«

Mir wurde unbehaglich zu Mute. »Das sind Kinderhistorien.«

»Mag sein. Aber gerade weil die viel zarter veranlagten Kinder so inbrünstig an Gespenster glauben, und weil jedes Volk, jedes Volk ohne Ausnahme in seinen Sagen und Märchen von Gespenstern zu erzählen weiß, sehen Sie, gerade daraus schließe ich –«

»Gewiß, gewiß!« unterbrach ich mit ärgerlichem Spott. »Die Seele ist ja wohl unsterblich, und in den Himmel oder die Hölle kann sie erst nach dem jüngsten Gerichte komme»; was thut sie also in der Zwischenzeit? Sie spukt.«

Sein ernstes, runzliches Gesicht nahm einen traurigen Ausdruck an. »Ich hätte geglaubt, Sie dächten anders darüber. Ich hätte Sie dann um etwas gefragt. Nun kann ich's nicht.« –

»Es muß eine Verbindung zwischen uns und denen geben, die hinübergegangen sind,« hob er nachher wieder an. »Und niemand in der Welt darf mir bestreiten, daß sich Fernwirkungen zutragen, so seltsamer Art, so unerklärlich. Ich hab's an mir erlebt, und darum lass' ich mir's von keinem Gescheiten ableugnen. Ich arbeitete hinten in Preußen in einer Zuckerfabrik. Wir waren mitten in der Campagne, im Dezember. Da geh' ich abends über den finstern Hof; eben vorher war Schnee gefallen. Mit einem Male löst sich von der Mauer ein Schatten los und gleitet vor mir her. Ich denke, 's ist einer von den Polacken, der mausen will, und ruf' ihn an. Er hört nicht, ich renne hinterher ... und da, Kempff, sehe ich plötzlich meinem Vater ins Gesicht. Meinem Vater, der sich hundert Meilen ab am Rheine befindet. Es war etwas nach elf Uhr nachts. Zwei Tage später bekomm' ich von Hause die Nachricht, der Alte sei Mittwoch Nacht um ein Viertel auf zwölf gestorben. Jeder mag sich denken, was er will; aber die Thatsache bleibt.«

»Ja, und –«

»Warum sollen Menschen, deren Geist sich in gewaltiger, Tag für Tag lastender Gedankenarbeit zu höchster Feinheit und Schärfe entwickelt, warum sollte man bei unserer fieberisch angestrengten Seelenthätigkeit nicht endlich empfänglich genug werden, um zu sehen, was der Pöbel sieht? Und andererseits – wie darf man es wagen, etwas zu leugnen, das man nicht weiß und begreift?«

»Wo hinaus wollen Sie mit alledem?« fragte ich jäh den heut' so Gesprächigen.

»Ich habe etwas gesehen,« flüsterte er erregt, und seine fast erloschenen Augen glühten für eine Sekunde auf. »Etwas Gräßliches, und doch ...«

»Was denn?« drängte ich in ihn, der wieder verstummte.

»Sechs Jahre lang arbeite ich nun mit Felix Heller zusammen,« sagte er, gleichmütig und ruhig. »Sie haben's nur wenige Tage bei uns ausgehalten. Sie werden ermessen, was ich geduldig tragen mußte, des verdammten lieben Brotes halber. Mich nimmt ja kein Mensch mehr, mich alten, morschen Sünder. Jedoch ...« Er lachte, und sein Lachen hatte sehr merkwürdigen Klang.

»Jedoch?« wiederholte ich, aufmerksam werdend und ihm näher rückend. »Sie stehen sich mit Heller nicht gut, scheint es.«

»Nicht gut, nicht gut! Das haben Sie vortrefflich gesagt.«

Weiter war nichts aus ihm herauszubringen. Bald darauf hatte er mich verlassen.

Ich verstand den greisen Gesellen nicht. Manche seiner abgebrochenen Sätze atmeten einen Haß und eine Wut gegen Heller, die früher nie hervorgebrochen war. Der Alte glaubte sich jetzt vielleicht sicherer und vertraute mir mehr als in jener Zeit, es drängte ihn vielleicht, wenigstens in Andeutungen seinem Grimme Luft zu machen. Denn daß er auch die seltsamen Gespensterreden auf Hellers Befehl vorgebracht hatte, glaubte ich nicht; dieser knurrige, verschlossene Bursch' war zu wenig Schauspieler dazu und wäre dann auch deutlicher geworden. So gingen mir seine verworrenen, mystischen Reden im Kopf herum und beschäftigten mich bis tief in die Nacht hinein. Wenn ein Fünkchen Wahrheit in diesem Aschhaufen wüsten Aberglaubens loderte, eine Wahrheit, die wir Aufgeklärten verlachten, weil wir zu beschränkt und einsichtslos waren, um sie zu begreifen; wenn jenes Gesicht, von dem er erzählte, ihm diesmal wieder gekommen war, und wenn ... Eine Blutwelle rann durch meinen Körper und mochte mich so wohlig erschauern, daß ich lächelnd die Augen schloß. Er hatte Heller gesehen, wie er damals seinen Vater gesehen hatte ... Toter Mann, der nur zum Schein noch lebte, nur zum Schein noch auf dieser Erde wandelte, während die Gruft schon offen stand und seiner wartete ...

Jetzt waren die Würfel gefallen. Er hatte das Spiel verloren.

Als es Tag geworden war und ich die Lampe verlöscht hatte, ging ich in die Küche zu der Alten, erzählte ihr, daß ich heute den ganzen Tag über arbeiten müsse und nicht gestört werden dürfe; sie solle mich vor jedem verleugnen, der etwa nach mir frage. Dann verriegelte ich mich wieder in meiner Höhle, und da es mir nicht möglich war, zu arbeiten, setzte ich mich ans Fenster und rauchte. Ein langentbehrter, köstlicher Genuß. Der Regen klirrte noch immer auf die glänzenden Dächer, und der Nebel wurde dichter. Ich sah die Kuppel drüben nur undeutlich durch die halbe Dämmerung blinken; Fluß und Gasse schwammen im grauen Dunst. Ein trefflicher Tag für solche That. Es würde früh dunkel werden.

Ich dachte nicht mehr über das nach, was ich vollbringen wollte. Es setzte mich fast in Erstaunen, daß meine zornige Leidenschaft zur Ruhe gegangen war, daß ich jetzt so gar keinen Haß, keine Furcht mehr empfand. Ich lauerte, wie der Tiger in der Dschungel, darauf, daß es Abend ward und die Schatten sich herabsenkten – gleichgültig, geduldig. Der Instinkt trieb und leitete mich; alles andere in mir war erstorben. Nur das Messer, das ich doch in der Tasche führte, wagte ich nicht zu berühren. Eine unangenehme Empfindung bemächtigte sich meiner, wenn ich daran dachte. Die stolze Bestie verläßt sich auf ihre eigene, eiserne Muskelkraft; ich armseliger Bursch' bedurfte der Waffe, um das Opfer niederzuschmettern. Einer Waffe, die mich schon damals beinahe zu Grunde gerichtet hatte ...

Befremdlicher Weise war in den öffentlichen Blättern die alchymistische Seite des Prozesses, die doch bei weitem die auffälligste, bedeutsamste war, kaum gestreift worden; außer einigen spöttischen Worten las ich nichts darüber. Ganz offenbar sah man in der ungewöhnlichen Erörterung nur einen Versuch der Verteidigung, den Thatbestand zu verschleiern, und der junge Rechtsanwalt mußte sehr geharnischte Vorwürfe hinnehmen. Es gehe nicht an, hieß es, derartige thörichte Mittel an so ernster Stätte auf ihre Wirkung zu erproben, die rücksichtsloseste Sensationslust und Reklamesucht müsse doch vor der Würde des höchsten Gerichtshofes, und wenn selbst das nicht, wenigstens vor der Lächerlichkeit inne halten. Dagegen war der Zwischenfall, den ich herbeigeführt hatte, Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit und wurde nach vielen Seiten hin eingehend erörtert. Ein kluger Berichterstatter hatte eine lange, rührende Leidensgeschichte von mir veröffentlicht, die seiner Erfindungsgabe höchste Ehre machte; es wunderte mich eigentlich, daß man nicht noch in anderer Weise das öffentliche Mitleid für mich wach rief.

Den Angeklagten selbst hielt alle Welt für des Mordes schuldig.

Es quälte mich mit brennender Neugier, zu wissen, ob mich mein Stern auch diesmal so sichtbar, so auffällig vor jedem Verdachte schützen würde. Und ich achtete auf den Flug der Vögel, die vorbeistrichen, und suchte daraus die Zukunft zu lesen ...

Dann kämen sie wieder, alle die lieben Freunde, für die ich jetzt ein Verlorener, Begrabener war. Aber nur die mich in meiner Armut geliebt hatte, nur Tilly wollte ich wieder aufnehmen. Tilly? Weshalb überkam mich ein jäher Widerwille, als ich ihrer dachte? Ich kannte mich selbst nicht mehr. Ich war ein launisches Kind geworden. Immerhin hatte sie sich schwer gegen mich versündigt, und allenthalben in der Welt waren der Wein süß und die Weiber. Was fesselte mich noch an dies Mädchen und diese Stadt? Anderwärts fand ich noch Raum, mich ungehindert zu entfalten. Fand begeisterte Gefährten, die mit mir vereint meine Ideen zum Siege führen würden!

Warum wohl Gertrud mich so ganz vergessen hatte. ... Wenn ich sie in jenen kranken Tagen auch beleidigt und verwundet haben mochte – wie durfte sie, die Gütige, Verzeihende, mir ein unbedachtes Wort nachtragen? Ein Gefühl der Bitterkeit wollte mir die Kehle zuschnüren. Ich war ja arm und gebrochen, galt ja niemandem mehr als der Wurm am Wege.

Wie ich das dachte, hörte ich Schritte und Stimmen auf der Treppe. Ich kannte diese Schritte, diese Stimmen. Eine glühende Röte stieg mir in die Wangen, ich hätte in lauten Jubel ausbrechen mögen, ich war versucht, hell aufzulachen. Also doch! Sie hatten mich nicht vergessen, diese beiden nicht! Und ich empfand plötzlich eine tötliche Furcht davor, daß sie von der Wirtin abgewiesen werden könnten. Ich wollte zur Thür stürzen und sie entriegeln. Aber im nächsten Augenblicke besann ich mich. Öffnete ich ihnen jetzt, so würden sie mich nicht mehr frei lassen. Sie würden mich zwingen, mit ihnen zu gehen, den Tag in ihrer Gesellschaft zu verbringen – wahrlich, ich hätte es so über alles gern gethan, aber heute durfte ich es nicht. Es würde mich ablenken und vielleicht wankelmütig, feige machen. Heute nicht.

Und ich schwieg still, als sie anpochten, so weh es mir that. Ich hörte sie miteinander sprechen, an der Thür rütteln, und wagte nicht zu atmen.

»Ach, wie schade!« sagte Gertrud traurig, mit ihrer lieben, klangvollen Stimme. »Nun ist er wieder ausgegangen. Wären wir doch ein bischen früher gekommen, Walter!«

»So 'n verrückter Kerl!« knurrte der Bruder. »In dem Wetter fortzulaufen! Mitschleppen können wir's doch nicht wieder ... Zu dumm!«

Der gute, gute Mensch! Er hatte alles vergessen und vergeben ... Ich hätt' es nicht länger ertragen, hätte die Thür aufgerissen und sie lachend bewillkommnet, wenn nicht eben die Wirtin, von dem Klopfen herbeigelockt, auf dem Plane erschienen wäre.

»Sie suchen woll den Herrn Doktor! Der ist weg, vor 'ner halben Stunde weg.«

»Vor 'ner halben Stunde weg! Vorzüglich! Sieht ihm ähnlich!« brummte Walter. »Wann wird er denn wiederkommen?«

»Keine Ahnung.«

»So. Na, dann grüßen Sie ihn von uns – von Rombergs – Sie kennen mich ja. Und hier den Korb geben Sie ihm. Wir haben nämlich von der Tante allerlei Geschlachtetes gekriegt,« erklärte er geschäftig, »na, und da dachten wir – so'n Kosthappen –«

»Er wird sich höllisch freuen,« krächzte die Alte. »Et jeht ihm mieß jenug.« Das boshafte Geschöpf konnte es sich nicht versagen, dem Lauscher hinter der Thür einen kleinen Puff zu versetzen.

»Du, Gertrud,« meinte Walter dann, »es ist doch möglich, daß er's übel nimmt –«

»Mir wird er es nicht übel nehmen,« sagte das Mädchen einfach. »Und selbst wenn er es thäte, wenn es ihm keine Freude machte, so hat es uns dafür um so größere gemacht.«

Dann gingen sie. Ich horchte angstvoll auf ihre Schritte, ihre Stimmen, bis sie schwächer wurden, ganz schwach, und verhallten. Ich hätt' es nicht länger ertragen. So viel Liebe verschwendete man an mich, so viel Güte und unerschütterliche Freundschaft. Hätte ich die Alte Lügen strafen dürfen, so wäre ich ihnen jetzt noch nachgeeilt, hätte sie zurückgerufen, ihnen alles erklärt .. Doch ich mußte stark bleiben ...

»Wirklich, ein bildschönes Fräulein!« sagte die Wirtin, als sie mir den Korb hereinbrachte. »Daß Ihnen das alles so gleichgiltig ist! Ich habe sie übrigens gut abgeführt, was? Es that mir eigentlich beinahe leid ... Aber Sie haben ja jeweint, Herr Doktor! Nanu! Machen Sie so was!«

Ja, ich hatte geweint. Ich war wie ein hysterisches Mädchen, überschwänglich in Haß und Liebe. Ich ertrug keine große Freude mehr.

*

Dämmerung. Die Dunstwolken umhängen weißlichblau die Stadt, das letzte Leuchten ist gestorben, der Regen scheint sich, während er niedersickert, in Nebel aufzulösen und wieder emporzusteigen. Auf dem nassen, blanken Asphalt des Platzes spiegelt sich das Licht der ersten Laterne; rötlich-braun scheint es aus der Tiefe heraufzugleißen, wie ein mächtiger, unterirdischer Goldbarren. Drüben die selbstbewußten, elektrischen Flammen, eine prachtvolle Perlenschnur; dann und wann tanzen rote und grüne Wagenlampen durch die helle Nacht, bunte Edelsteine. Sie schmücken alle den weißen Nacken der Nebelbraut. Ich denke an Niflheim und den Schatz der Zwerge. Eine schwere, düstere Grabmelodie zieht mir durch den Sinn.

Dämmerung. Und ich steige auf die Straße hinab.

Der Regen schlägt mir ins Gesicht und durchnäßt mein dünnes Gewand, dringt in mein zerfetztes Schuhzeug ... ich fühle das alles wie im Traum und eile weiter durch die trüben Finsternisse. Es wird ganz dunkel. Ich denke an nichts mehr, frage mich nichts. Fast ohne aufzuschauen, finde ich den Weg zu seiner Wohnung, ich, der ihn erst einmal gegangen ist und sonst alles Ortsinns entbehrt. Etwas Fremdes in mir, das ich nicht kenne, das aber stärker ist als ich, leitet mich und zieht mich vorwärts. Die Laternen auf dem Wege verdrießen mich, sie stören die Nacht ringsum, und den grell beleuchteten Schaufenstern weiche ich aus, denn ich liebe das Licht und den Tag nicht. Ich vermag nur in der Nacht zu atmen, zu sehen.

Die Straße ist ein breiter, flacher See. Weiß gewaschen glitzern die Granitplatten, und die Flammen, die aus allen Winkeln hervorbrechen, spielen drüberhin mit einem protzigen Glanze, der meinen Augen weh thut. Kein Mensch achtet in dieser triefenden Hölle auf den andern, unter den tausend Regenschirmen ist kein Gesicht zu erkennen, keine Gestalt in den langen, wallenden Mänteln – eine herrliche Nacht!

Und da stehe ich vor seinem Hause. Lustiger Regen, was springst du so frohgemut plätschernd gegen diese Mauern! Ich liebe deine Musik, die die andern scheuen und hassen. Mir ist wohl, unsagbar wohl unter diesen klirrenden, kühlen Wassern.

Ich schleiche mich ins Haus, ohne daß der Pförtner es sieht, ich steige die Treppe hinan, ich läute. Es ist sehr still ringsum – ich höre die leise Melodie der Gasflammen.

Er öffnet mir selber. »Ich wußte, daß Sie kommen würden.« Weiter sagt er kein Wort. Und ohne ein Wort zu sagen, folge ich ihm.

Es ist derselbe Raum, wo wir uns an jenem Festabend Aug' in Auge gegenübersaßen, wo unsere Reden aufeinander schmetterten und flammten wie zwei Schwerter. Noch derselbe spielerische, weichliche Luxus, dasselbe gedämpfte, rote Licht aus niedrig geschraubter Lampe. Es schmeichelt meinen Augen. Ich strecke mich behaglich. Die Uhr über der Thür tickt leise, ganz leise, im Ofen schreit der Wind, und aus der durchbrochenen Eisentür fällt blauroter Schein.

»Ich weiß nun alles. Aber Sie haben es mir schwer gemacht, einerseits. Andererseits wieder sehr leicht.«

»Sie wissen nicht alles.« Ich starre höhnisch in sein widriges Gesicht. »Nicht mehr, als Sie damals wußten, wo ich Ihnen zuerst begegnete.«

Er lächelt. Das unmerkliche Lächeln des eitlen Siegers. »Damals wußte ich gar nichts. Aber allmählich, gegen Ihren Willen, haben Sie sich verraten und mich auf den Gedanken gebracht. Und nun schließen wir doch das Bündnis, das Sie erst verweigerten. Zwei tragen und begraben besser ein Geheimnis als Einer. Einen erdrückt es.«

Ich senke schnell den Kopf auf die Brust, damit er mein verzerrtes Gesicht nicht sieht. Er ist aufgestanden und zündet sich eine Cigarrette an. Und gedankenschnell blicke ich mich im Zimmer um, ohne den Kopf aufzuheben. Er bemerkt es nicht, er bläst behaglich den Rauch von sich.

»Wie denken Sie sich unser Zusammenarbeiten?«

»Sie treten wieder in die Fabrik ein. Dort stört uns niemand, beargwöhnt uns niemand. Den Gewinn teilen wir.«

»Ich fürchte nur, daß wir uns nicht ineinander finden.«

»Wir werden uns vertragen, glauben Sie nur. Die gemeinsame Thätigkeit, gemeinsame Interessen machen alles. Wir verstehen uns in so vielem, gleichen uns in so vielem –«

Da fällt mir Tilly's Bemerkung ein, das wir beide uns in gewissen Stunden ähnlich sähen wie Brüder. Der Gedanke, der uns in diesen Stunden gleichzeitig bewegt, schafft die Ähnlichkeit. Und ich erinnere mich des Abends, da ich ihn auf der Straße zum ersten Male flüchtig sah und vor ihm erschrak. Ich glaubte, sein Antlitz schon gesehen zu haben. Es war mein eigenes Gesicht gewesen, das da verteufelt, verzerrt vor mir auftauchte.

»Unser Geschmack gleicht sich, das ist wahr. Sie haben es meiner Braut bewiesen.«

Er schnipst mit dem kleinen Finger die Asche von der Cigarrette. »Vergessen Sie das, lieber Doktor. Ich – es thut mir jetzt fürchterlich leid. Ich sagte es Ihnen schon. In alle Zukunft –«

»Sie werden mich quälen und martern, bis ich Ihnen das Geheimnis allein überlasse, ich weiß es. Sie kennen keine Treue, Sie sind unersättlich.«

»Ich schwöre –«

»Sie werden es thun, kein Zweifel. Sie müssen es ja thun. Das Fremde in Ihnen, das zwingt Sie dazu.«

»Ich verstehe Sie nicht. Wollen Sie damit sagen, daß ich doppelzüngig –«

»Mich zwingt es auch. Deshalb verarge ich es Ihnen nicht.«

Während ich das sage, bemerke ich, daß die Thür zum Balkon nur angelehnt ist. Die zweite Thür führt in das große Gesellschaftszimmer, durch die dritte Thür trat ich eben vom Korridor herein. Ich weiß nicht, weshalb ich diese Beobachtungen mache. Diese drei Thüren gehen mich doch nichts an, mein Plan hat mit der Wohnung gar nichts zu thun.

Und dennoch befiehlt mir etwas, die Balkonthür zu schließen.

»Der Mörder ist verurteilt,« hebt er, mir den Rücken zuwendend, an. »Es war vorauszusehen. Aber wie konnten Sie sich nur so auffällig betragen? Um ein Haar hätten Sie alles verraten.«

»Was denn?« fragte ich trotzig und zugleich in ängstlicher Spannung.

Da dreht er sich jählings um und sieht mich lächelnd an. Er lächelt immer, auch hier noch, wo es sich um Tod und Leben handelt. Ich bin vom Divan aufgestanden.

»Das Messer,« sagt er langsam, »daß man bei Erck gefunden hat, gehört Ihnen.«

»Sie wußten es damals schon!« fahre ich wie rasend auf. »O Sie Schurke! Wie ein Henker haben sie mich –«

»Damals?« fragt er ganz erstaunt. »Damals schon? Was meinen Sie? Ich habe Sie nur einmal gesehen, seitdem ich diese Gewißheit habe. Und das war am vergangenen Freitag. Ich weiß von Tilly, daß Ihnen das Messer gehört hat.«

»Von Tilly!« schreie ich, außer mir vor Wut. »O die ... Und gestern – gestern noch hat sie –«

»Sachte! sachte!« ruft er. »Sonst hört uns noch jemand.« Und damit geht er zu der Balkonthür und verriegelt sie. »Tilly kann gar nichts dafür. Sie ging ganz arglos in die Falle. Sie benahmen sich so auffallend, verbrauchten so viel Geld – und da kam mir ein ganz närrischer Gedanke. Wie nun das Messer in den Zeitungen abgebildet worden war, verschaffte ich mir genau das gleiche Muster und richtete es genau so zu, wie die Zeichnung zeigte. Dann spielte ich es Tilly in die Hände. Und richtig – sie fragte mich, wie ich zu Ihrem Messer gekommen wäre. Und sehen Sie – da hatt' ich Sie gefangen, lieber Doktor!«

Auf dem Tische liegt keine Waffe. Er wird sie bei sich führen. Plötzlich ist mir, als würde das Messer in meiner Tasche zentnerschwer, als müßte ich es herausreißen –

»Haben Sie die Tinktur mitgebracht?« fragte er, ganz dicht an mich herantretend.

»Nein,« stammele ich in schrecklicher Verlegenheit. »Ich – ich habe sie im Tiergarten vergraben. Ich werde sie morgen holen.« Weiter weiß ich nichts hervorzubringen. Und doch habe ich jedes Wort auswendig gelernt, den ganzen Nachmittag hindurch habe ich mir diese Sätze wiederholt. Ich wollte seine Habgier entzünden, ihn veranlassen, mich zu zwingen, daß ich ihm die Tinktur noch heute auslieferte. Ich wollte ihm die Furcht einflößen, daß ich vielleicht bis morgen wieder wankelmütig in meinem Entschlusse werden, mir vielleicht das Leben nehmen könnte und daß er doch um das kostbare Kleinod kommen würde. Dann, hatte ich gehofft, würde er mir befehlen, sofort mit ihm nach dem Stadtpark zu fahren. Und dann –

Wie ich ihn von der Seite anblickte, weiß ich, daß mein Plan entsetzlich albern war und vollkommen fehlgeschlagen ist.

»Dummheit, Doktor!« scherzt er. »Sie haben sie bei sich. Das seh' ich Ihnen an. Sie können ja nicht lügen. Sie werden ja puterrot dabei. Seien Sie vernünftig, lassen Sie uns die Sache rasch und« – er betonte das Wort schwer – »als Freunde erledigen.«

»Ich – lieber töte ich mich!« stotterte ich, umsonst bemüht, leidenschaftliche Erregtheit zu heucheln.

»Das thun Sie nicht, Doktor. Das wäre ja eine so kolossale Narrheit – nein, derlei Unfug treiben Sie nicht. Kommen Sie zur Sache.«

»Und wenn ich nicht mit Ihnen teile?« rufe ich mit ausbrechendem Grimm. »Ja, wenn ich entschlossen bin –«

Er legt die Cigarette behutsam in den Aschenbecher. Er kommt wieder auf mich zu. Wir stehen Brust an Brust, mein keuchender Atem spielt mit seinem Stirnhaar.

»Dann,« sagt er sehr ruhig und sehr leise, »zeige ich Sie noch heut abend der Staatsanwaltschaft an. Dann verlassen Sie dies Haus nicht mehr als freier Mann.«

Der letzte Satz entscheidet über sein Schicksal. Ich denke nicht mehr, ich fühle nicht mehr, ich will brüllend auflachen und vermag es nicht. Und ich weiß, daß seine Treulosigkeit und seine Niedertracht nun den Gipfel erklommen haben.

Es dampft rot um mich her, es schleudert mich mit unwiderstehlichem Rucke vorwärts. Und während ich wild jauchzend auflache, hab' ich ihn würgend am Halse gepackt, kniee auf dem Schreienden, Tobenden ...

Ich spüre einen stechenden Schmerz in der Brust. Ich taumele auf den Toten hin, es dampft rot um mich her.

* * *


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