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Ich sehe dein liebes Angesicht über meinem Bette, Schwester Gertrud, und deine blauen Augen leuchten auf mich herab, in mütterlicher, trauriger Zärtlichkeit und grenzenlosem Mitleid. Ich glaube, du hast geweint, während ich schlief, und du bist heute bleicher als sonst. So ist es wohl bestimmt, daß ich sterben muß. Und deshalb – laß mich noch einmal die Frühlingssonne grüßen! Ich weiß, sie gießt ihren Segen jetzt über die Steinwüste draußen aus; ihr goldener Glanz strahlt wie ein Märchen, tief geheimnisvoll, lieblich lockend aus dem Spiegel an der Wand zurück. Ich möchte die Sonne noch einmal sehen, Gertrud. Und wenn der Oleander vor eurem Hause blüht, lachend rot, dann bring mir morgen einen Zweig davon und gieb ihn mir in die Hand. So will ich die Nacht erwarten.
Ich habe mein Höchstes verraten um eines höllischen Blendwerks willen, und ich sterbe dafür. Das ist aller Judasse Lohn. Was ich Gutes wollte, hat sich in Elend und Haß verkehrt unter der Berührung des kalten Metalls. Und wenn du nicht zu mir gekommen wärst, du Reine, du meine Erlöserin, und wenn dein mildes, frommes Wort mich nicht getragen hätte – mit einem Fluche auf den Lippen wäre ich hinausgegangen aus der Welt, darin ich doch Ewiges bauen sollte.
Wie ein wilder, schrecklicher Traum liegt nun alles hinter mir. Ja, ich habe geträumt, bin nun erwacht.
Laß mich deine Hand küssen, Gertrud, denn ich liebe dich. Wie ein Kranker liebt, wunschlos, still; wie ein Müder, der im halben Schlummer noch dankbar zu der heiligen Jungfrau aufschaut. Und du bist so schön, Gertrud, so unsäglich viel schöner als alle die anderen. Ich war blind und toll in jenen stürmischen Tagen, von denen ich träumte. Du bist so schön. Ich meine nicht dein Antlitz, nicht deinen Mund und die lichten Augen nicht, darin ich mein Bild erblicke und den Himmel, der sich eben jetzt tiefblau, blau leuchtend über der Frühlingserde breitet. Frühling, Gertrud ... warum bleibt mir nicht ein einziger, letzter Frühling? Ich liebe dich, du Wahrhaftige, Hohe, Leuchtende. Und nicht wahr – manchmal im Frühling kommst du hinaus zu mir und bringst eine Handvoll Blumen mit. Ich werde auf dich warten.
Nein, du sollst nicht weinen. Aber neige dich tiefer herab zu mir, daß dein weiches, duftendes Haar mein Gesicht umhüllt gleich seliger Sommernacht, daß ich deine Thränen auf meiner heißen Stirn fühle, liebe Schwester, und deine Küsse auf meinen Lippen. Sei still, ganz still; du bist bei einem Toten. Aber der Tode atmet den Hauch der Rosen noch ein und hört das Weben der Sommernacht noch, sieht noch mit geschlossenen Augen die Sterne am Himmel.
Du magst gleich von mir gehen und fern weilen in der Abschiedsstunde, du bist doch bei mir, und mein letztes Wort ist Dank, Dankbarkeit für dich, du Geliebte, du mein Göttliches, Unentweihtes. Ich sterbe nicht, so lange du meiner gedenkst.
Und ich habe nicht vergebens nach Schätzen gesucht. Wüßte die Welt, was ich lächelnd verließ, so hieße sie mich auf offenem Markt einen Weisen, insgeheim einen schwärmerischen Thoren; wüßte sie, was ich gewonnen habe in diesen letzten Stunden, sie priese mich als den glückseligsten Mann.