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Als die Gäste fort waren, legte sich Frau Agnes, die aufgeregter war, als sie ihrem Gatten zeigen wollte, auf die Couchette und sah den Staubatomen zu, die in den Sonnenstrahlen spielten und durcheinander wogten, während der Doctor mit über die Brust gekreuzten Armen im Zimmer auf und nieder schritt. Die Kinder waren froh, wieder in's Freie zu können, Weinthal deckte den Tisch ab und verließ dann das Zimmer; das Ehepaar war allein.
»Agnes,« begann der Doctor endlich, indem er vor seiner Frau stehen blieb, »ist Irenens Benehmen nicht geradezu unerträglich? Ich kann mit Jedermann leben, mit Jedermann disputiren, ohne deshalb in Streit zu gerathen, nur nicht mit Irene. Nun, Du kennst mich gewiß, sage selbst, ist mit mir nicht leicht leben?«
»Nein, Heinrich,« erwiderte Frau Agnes, indem sie den Kopf mit den reichen kastanienbraunen Flechten auf das Kissen zurücklehnte, »mit Dir und mit uns Allen läßt sich gewiß nur sehr schwer in Eintracht leben.«
»Du thust uns Unrecht, Agnes. Es ist wahr, wir halten etwas auf uns, wir lassen uns nicht unter die Füße treten, aber darauf sind wir eben stolz, und zwar mit Recht!«
»Ach! wäre es nur das! Wir sind auch unverträglich, wir Alle!«
Frau Agnes seufzte, der Doctor setzte sein Hin- und Hergehen fort, dann blieb er wieder stehen.
»Durfte ich denn Irenens hochfahrendes Wesen dulden? Da sie täglich herrischer und absprechender wird, ist es da nicht meine Pflicht, sie zurecht zu weisen? Wenn der Bruder die Schwester nicht tadeln darf, wer soll es dann thun? Dieses selbstherrische Bewußtsein muß gebrochen werden, diesen Liebesdienst bin ich Irenen schuldig.«
»Ach Heinrich, wir wollen uns nicht selbst betrügen. Nicht um sie zu bessern, waren wir gegen die Schwester heftig, sondern weil unsere Leidenschaft uns fortriß, weil wir uns selbst gekränkt fühlten. Irene ist zwar jünger als wir, aber denn doch schon zu alt, um noch erzogen zu werden!«
Der Doctor nagte ungeduldig an seiner Unterlippe.
»Dachte ich's doch,« rief er endlich aus, »daß auch Du Partei nehmen würdest gegen mich! Natürlich! Ich bin schuld, bin schuld an Allem! Wenn Irene heftig wird, so wird das ihrem Temperament zu Gute gehalten, während meine Heftigkeit den schärfsten Tadel erfährt; wenn Irene arrogant auftritt, so heißt es: sie ist schon zu alt, um noch erzogen zu werden, während, wenn ich mich einfach meiner Haut wehre, man mich meistert wie einen Schulbuben. Ich darf ja noch erzogen werden, ich darf nicht heftig sein, ich muß mich noch bedanken dafür, daß man mein Haus eine Schenke nennt! Jeder ist Herr im Hause, nur ich darf es nicht sein; ich soll mich beugen vor Frau und Kind und Verwandten!«
Frau Agnes sprach kein Wort; kannte sie doch die schlimme Wunde, die ihr Gatte aus dem harten Kampf ums Leben davongetragen, den Wahn, daß er, um den sich doch Alles drehte, nicht als Herr geachtet, sondern vernachlässigt werde von den Seinigen, den ihm Untergebenen. Es war eine alte, schlimme Wunde und sie eiterte oft und heftig. »Aber ich will Euch zeigen,« fuhr der Doctor zornig fort, »daß ich weder ein Kind noch ein Hansnarr bin, mit dem jeder im Hause sein Spiel treiben darf. Ich will Euch zeigen, daß ich der Herr bin in diesem Hause! Wer mir hier nicht gehorchen will, wer mir auch nur zu widersprechen wagt, der soll hinaus!« –
»Weinthal!« rief der Doctor, »Weinthal!«
Der Gerufene erschien.
»Rufe mir den Jungherrn! Sogleich!«
Kaum hatte der Diener das Zimmer verlassen, so sprang Frau Agnes von der Couchette auf und eilte auf den Doctor zu.
»O, Heinrich,« rief sie mit zitternder Stimme, indem sie seine Hand festhielt, die er ihr vergeblich zu entziehen suchte, »nur jetzt nicht! O, bitte, bitte Heinrich, nicht jetzt! Du bist jetzt erregt, ich habe Dich gereizt, ich bin schuld, es war sehr unrecht von mir, aber nicht jetzt! Warte, bis Du ruhig bist, tritt dem thörichten Knaben dann mit aller Strenge entgegen, strafe ihn, er hat es verdient, aber nicht jetzt. Wenn Du jetzt mit ihm sprichst, wirst Du ihn nur noch eigensinniger, nur noch härter und verschlossener machen. O, höre auf meine Bitten, zürne mir für mein thörichtes Reden, aber achte auf meine Bitten!«
»Geh, laß mich!« sagte der Doctor rauh, »ich sage Dir Frau, laß mich! Ich bin kein Kind, ich weiß, was ich thue, auch wenn ich gereizt bin. Laß mich, ich will ihm ja nichts thun. Laß meine Hand los, pfui, laß das, ich kann das Händeküssen nicht leiden. Ich sage Dir, nur nachgeben soll er, dann kann er gehen. Ich darf solchen Trotz nicht dulden, und so wahr ein Gott im Himmel lebt, ich will ihn brechen. Der Bube soll mir gehorchen lernen!«
Da öffnete sich langsam die Thür und Heinz trat zögernd ein. Frau Agnes, die sich machtlos fühlte, was nun kommen mußte, zu verhindern, wollte wenigstens nicht Zeuge davon sein, verließ das Zimmer und schloß die Thür hinter sich. Vater und Sohn waren allein.
Der Diener hatte die Kinder wieder spielend unter der Gallerie gefunden. Sie hatten den kleinen Ziep mit allerlei Putzsachen angethan und waren eben im Begriff, ihn zu taufen. Der kleine Ziep war das einzige Thier im Hause. Es war ein kleiner, ruppiger Bauerhund ohne jede Race, den der Doctor, als er einmal im Winter über Land fuhr, zitternd vor Frost mitten im Walde gefunden hatte. Er fühlte Mitleid mit dem verlassenen Thierchen, stieg aus dem Schlitten, hob das kleine, schmutzige Geschöpf auf und hüllte es in seinen Pelz. Er erwärmte es an seiner eigenen Wärme und hielt am nächsten Kruge an, um es mit warmer Milch zu füttern. Seitdem hatte Ziep gute Tage. Er schlief unter seines Herrn Bett und derselbe Mann, der so oft hart und rauh gegen seine Umgebung sich zeigte, blieb wohl einmal eine halbe Stunde länger auf dem Sopha sitzen, damit Ziep nicht durch sein Aufstehen geweckt würde. Ziep war auch einmal von aller Welt verlassen gewesen!
Lelia hielt ihn eben zur Taufe bereit und Heinz war im Begriff, eine sehr erbauliche Rede zu halten, als der Diener kam.
»Jungherrchen, sollen zu Vater kommen! gleich, gleich!«
Heinz, der wohl wußte, um was es sich handelte und der vor Schreck bleich wurde, weigerte sich.
»Ich will nicht,« sagte er.
»Was da, Jungherrchen, wenn der Vater ruft, muß man kommen.«
»Ich will nicht!«
»Nicht geraisonnirt, Jungherrchen, gehorcht und geschwiegen! Soll ich Jungherrchen hinauftragen«
»Probir' es!« sagte der Knabe trotzig und ballte die Fäuste.
Weinthal lächelte. Er kannte das Zauberwort. »Jungherrchen fürchtet sich vor dem Vater,« sagte er.
Der Knabe ging sogleich. Er ging langsam, das Gehen wurde ihm sehr schwer, er biß die Zähne übereinander, aber er ging. Jetzt stand er vor dem Vater.
»Nun, hast Du Dir die Sache überlegt,« fragte dieser schroff. »Wirst Du morgen gehorsam sein?«
Des Doctors scharf geschnittenes Gesicht hatte in solchen Momenten etwas geierartiges. Auch seine Augen blickten dann wie die eines Geiers. Der Knabe wurde roth und bleich, es flimmerte ihm vor den Augen und er konnte kaum athmen. Er ballte trotzig die Händchen und schwieg.
»Wirst Du gehorchen« fragte der Doctor.
Keine Antwort.
Der Doctor schlug den Knaben mit der Hand in's Gesicht. Einmal, zweimal.
Die Thränen strömten aus des Kindes Augen, es biß die Zähne zusammen, aber es rührte sich nicht.
»Antworte, Bube!« schrie der Doctor.
Das Kind schwieg wieder. Da schlug der Doctor ihm noch einmal so heftig in's Gesicht, daß der Knabe einen lauten Schrei ausstieß und zu Boden taumelte. Frau Agnes riß die Thür auf und eilte auf das Kind zu. Die schwache, kranke Frau zeigte jetzt große Kraft. Sie hob den schweren Knaben wie eine Feder auf und trug ihn, ohne ein Wort zu sprechen und ohne ihren Mann anzusehen, an diesem vorüber in ihr Schlafzimmer. Dort legte sie das Kind auf ihr Bett, bedeckte es mit einem Tuch, legte seinen Kopf auf ihren Arm und wischte ihm mit einem Taschentuche das Blut vom Gesicht.
Der Doctor durchmaß unterdessen mit schnellen Schritten das Zimmer. Er war bis in's innerste Herz aufgeregt und seine Brust von den widerstreitendsten Gefühlen erfüllt. Er schämte sich seiner rohen Härte, sie thaten ihm leid: sein Kind, sein einziges Kind und sein Weib, sein krankes Weib. Auf der andern Seite waren sein Stolz, sein Eigenwille auf's Aeußerste verletzt. Sein Kind verweigerte ihm den Gehorsam. Es war zu toll! Ihm, dem Manne, den so viele Männer fürchteten, wagte ein Kind zu trotzen! Und was verlangte er noch dazu von jenem? Nichts anderes, als daß der Junge in eine Elementarschule sollte. Das wollte der Knabe nicht. Er sagte dem Vater geradezu, er werde nicht hingehen. Durfte er hier nachgeben? Mußte, dieser unerhörte Trotz nicht gebrochen werden? Der Doctor wußte sehr wohl, daß er selbst nicht war, wie er sein sollte, darum eben hatte er sein Kind anders erziehen, hatte er dessen Eigenwillen schon früh und ganz brechen wollen. O, sein Sohn sollte ihm nicht auch einmal so eigenmächtig davon laufen, wie er es seinem Vater gethan. Sein Sohn sollte ein verständiger Knabe werden, der regelmäßig seinen Gang ging in Schule und Leben. Darum hatte er mit der Erziehung schon bei dem Wiegenkinde begonnen. Wenn das Kind unnütz schrie, wurde es gestraft. Es schrie nur noch mehr. Es wurde hart geschlagen, es schrie erst recht. Mit jedem Tage wurde es eigensinniger und trotziger. Sobald der Vater, nur in's Zimmer trat, schrie es. Je älter der Knabe wurde, um so weniger verstanden sich Vater und Sohn. Der Vater empfand es mit tiefem Schmerz wenn sein einziges Kind ihn floh, aber er blieb bei seinem Grundsatze. Er war das seinem Kinde schuldig und dieses mußte ihm selbst einmal dafür dankbar sein. Immer unlenksamer wurde der Knabe, immer störrischer. Es war offenbar, daß er oft Freude daran fand dem Vater zu trotzen. »Darf ich das dulden? Nein, tausendmal nein! Aber was thun?« – So fragte sich der Doctor immer und immer wieder, während er im Zimmer auf- und abschritt. Hatte ihm Gott etwa dieses Kind gegeben als eine Zuchtruthe für sein eigenes trotziges, hochfahrendes Herz, als einen grausamen Spiegel seiner eigenen Kinderjahre? Des Doctors Herz war keine Herberge, in welche Gott nie einkehrt. Er hatte den Allmächtigen kennen gelernt, damals als er allein stand in der Welt, und wenn dieser seltene Gast dann plötzlich anklopfte in Stunden wie die heutige war, dann that der Doctor die Thür wohl auf und ließ ihn ein. Diesmal hielt er lange Zwiesprache mit Gott und mit sich selbst; schon dämmerte es draußen, als er zu seiner Frau eintrat.
Frau Agnes hatte nicht lange auf das Erwachen des Kindes zu warten gebraucht. Zwar schloß es, als es zu sich kam, rasch wieder die kaum geöffneten Augen; aber als es bemerkte, daß der Vater nicht mehr da war, die Mutter allein sich über ihn beugte, da richtete es sich auf und sagte trotzig: »Und ich werde doch nicht gehen!«
Die Mutter küßte ihn auf die geschwollenen Lippen und streichelte sanft seinen Kopf. »Ich denke, mein Heinz wird mir schon den Gefallen thun,« sagte sie.
»Nein, Mutter, gewiß nicht. Er mag mich schlagen, so viel er will, ich werde doch nicht gehen.«
»Von Schlagen ist nicht die Rede, Heinz, habe ich Dich je geschlagen?«
»Nein, aber er mag mich schlagen wie viel er will, ich thue es nicht, auf keinen Fall!«
»Hast Du mich lieb, Heinz?«
Heinz umschlang den Hals der Mutter, küßte sie und drückte sie an sich.
»Zeige mir, wie lieb Du mich hast!«
Heinz drückte so stark er konnte.
»Ach, Heinz, Du hast mich nur mit Küssen lieb.«
»Mutter, ich könnte für Dich – ich will mich für Dich zehn Mal von ihm schlagen lassen.«
»So sprichst Du nur.«
»Was soll ich denn für Dich thun,« rief der Knabe leidenschaftlich, »wie soll ich Dir denn zeigen, daß ich Dich mehr lieb habe, als Alles auf der Welt?«
»Du sollst morgen in die Schule gehen.«
Das Kind sah sie mißtrauisch an.
»Das läßt er mir sagen,« sagte er und ließ seine Arme herabsinken.
»Nein, Heinz. Du weißt sehr wohl, daß der Vater solche Umwege nicht liebt. Die wären seinem Kinde gegenüber auch nicht am Platze.«
»Ach Gott, ach Gott, daß er mein Vater sein muß!« rief Heinz und warf sich in das Bett zurück, das Gesicht in die Kissen begrabend.
Frau Agnes wollte aufstehen, setzte sich aber wieder und bedeckte ihr Antlitz mit beiden Händen.
Heinz sah, daß die Mutter weinte. Er sprang aus dem Bette und suchte ihre weißen Hände vom Gesicht zu entfernen. Als es ihm gelang, wandte sie ihr Gesicht ab, aber er sah ein paar Thränen auf das Bett fallen. Er war in Verzweiflung. »O, weine nur nicht,« flehte er, »bitte, bitte, weine nur nicht! Ich habe gar nicht verdient, daß Du um mich weinst, ich bin ein unartiger, böser Junge, schlage mich tüchtig, nur weine nicht. Liebe, gute Herzensmutter, weine nicht! Ich will ja alles thun, was Du willst. Ich will in die Schule gehen, ich will gleich gehen, wenn Du willst. Ich will nie wieder trotzig sein, ich will ihm immer antworten, ich will immer folgsam und artig sein!«
So bat er und als die Mutter noch immer das Gesicht abwendete, da ergriff er stürmisch ihre Hand und riß daran aus aller Kraft, stampfte, aus dem Bette springend, mit dem Fuß auf den Boden und schrie heftig und laut: »Du mußt mir verzeihen! Du mußt mich wieder ansehen! Ich will nie wieder trotzig sein und nie wieder heftig; aber Du mußt, hörst Du, Mutter, Du mußt mich ansehen! Mutter, höre doch, was ich sage! Ich will ja in die Schule gehen, höre doch! Was willst Du denn noch, was soll ich denn noch thun? Sieh mich doch nur an und sage, was ich noch thun soll!«
Die Mutter wandte ihm endlich das Gesicht zu.
»Was hilft Dein Gehorsam, wenn Du so von Deinem Vater sprichst,« sagte sie traurig.
»Ich werde nicht mehr so sprechen. Ich werde gar nicht mehr von ihm sprechen.«
»Ach, Heinz, wenn Du wüßtest, wie wehe Du mir thust, wenn Du vom Vater sprichst wie vorhin, von Deinem lieben, guten Vater!«
»Warum schlägt er mich denn, wenn er mich lieb hat?«
»Weil Du unartig bist, weil Du ihm zu widersprechen wagst. Er erträgt von keinem Erwachsenen Widerspruch, wie sollte er ihn dulden von seinem Kinde?«
»Nun gut, aber wenn ich werde erwachsen sein, dann will ich ihm immer widersprechen.«
»Wenn Du erwachsen sein wirst, mein Kind, dann wirst Du wissen, daß ein Sohn seinem Vater nie widersprechen darf.«
»Dann wird er mich aber auch nicht mehr schlagen dürfen.«
»Nein, Du wirst ihm dann gehorchen, weil Du einsehen wirst, daß er stets nur Dein Bestes will.«
»Ja, wenn ich ihm selbst werde gehorchen wollen, dann werde ich ihm gern gehorchen; aber wenn er mich schlägt, werde ich ihm nie gehorchen.«
»Gut, Heinz, aber jetzt gehorche ihm, weil er Dein Vater ist und Du sein Sohn!«
»Gieb mir einen Kuß, Mutter.«
»Ja, Heinz, aber nur unter einer Bedingung!«
»Was soll ich thun? Ich werde ja gehorchen.«
»Das ist noch nicht genug, Heinz.«
»Was dann?«
»Du mußt Deinen Vater auch noch um Verzeihung bitten.«
»Das werde ich gewiß nicht thun.«
Die Mutter schwieg, Heinz faltete den Aermel ihres Kleides zusammen und ließ ihn dann wieder los.
»Bist Du böse, Mutter?«
»Nein, Heinz.«
»Warum giebst Du mir denn keinen Kuß?«
»Weil ich Jemand, der mich nicht liebt, nicht küsse.«
»Wie, liebe ich Dich nicht?«
»Mich kann Niemand lieben, der nicht auch den Vater liebt.«
Sie schwiegen wieder. Endlich sagte Heinz weinerlich: »Mutter!«
»Nun?«
»Dann bekommst Du auch einen Kuß.«
Frau Agnes küßte ihn auf den Mund, er umfaßte sie stürmisch und bedeckte ihre Wangen, ihren Hals, ihre Stirn mit Küssen. »Ach, wie ich Dich liebe,« sagte er ein über das andere Mal.
Sie ließ sich geduldig liebkosen. »Wird es nun nicht genug sein, Heinz?« fragte sie endlich.
»Noch ein Bischen!«
»Nun ist es aber genug.«
»So! Ja, nun!«
»Also morgen früh wirst Du zu Vater gehen und ihm sagen: Ich war gestern sehr unartig, lieber Vater. Verzeih mir!«
»Ja, so will ich sagen.«
»Und dann wirst Du in die Schule gehen.«
»Ja.«
»Warum wolltest Du eigentlich nicht gehen, Heinz?«
»Siehst Du, Mutter, wie er mir das so sagte –«
»Lieber Heinz, sage nicht er, sage Vater.«
»Wie Vater mir das so sagte, so grob sagte – da stieg es so in mir auf –«
»Da stieg der Bock in Dir auf.«
Heinz lachte. »Ja, der Bock, und ich dachte: Nun werde ich gerade nicht gehen! Das nächste Mal will ich ihn schon fortjagen!« fuhr er fort und runzelte die Stirn.
»So ist's recht, Heinz. Wie wird es Dir in der Schule gefallen?«
»Glaubst Du? Ich habe ein wenig Angst vor der Schule.«
»Du Angst, das glaube ich nicht.«
»Nein, natürlich nicht Angst, aber so – weißt Du?«
»Ja, ich weiß, aber wovor denn?«
»Vor dem Prellen.«
»Liebster Heinz, bei Fräulein Berg wird ja noch gar nicht geprellt.«
»Gewiß nicht?«
»Nein. Geprellt wird man erst auf dem Gymnasium.«
So plauderten die Beiden und Heinz wurde ganz heiter und erzählte allerlei und dann erzählte die Mutter ein hübsches, langes Mährchen und schließlich war Heinz fest eingeschlafen.
Als der Doctor eintrat, saß Frau Agnes noch immer am Bett ihres schlafenden Kindes. Sie ergriff des Doctors Hand und küßte sie innig. »Er wird Dich morgen um Verzeihung bitten und gehen wohin Du willst,« flüsterte sie und sah ihren Mann freundlich an.
Der Doctor küßte sie und setzte sich ihr gegenüber auf den Rand des Bettes.
»Er schläft?« fragte er leise.
Sie nickte.
»Du zürnst mir nicht, Agnes?«
»Nein, Heinrich, wie sollte ich Dir zürnen? Wir waren zu heftig, darum setzten wir Nichts durch, als wir ruhig mit ihm sprachen, sah er sein Unrecht ein.«
Sie erhob sich, setzte sich auf den Schooß ihres Mannes und umschlang seinen Hals.
»Du bist sehr, sehr gut, Agnes,« sagte der Doctor.
Sie lächelte. »Du Schmeichler!«
»Nein, das ist wahr.«
»Es wird wahr werden! Wir wollen anders werden, wir wollen versuchen, weniger heftig zu sein, weniger hart. Siehe, der Knabe ist doch unser Fleisch und Blut, wie soll er da sanft und nachgiebig sein? Hat er sein trotziges Wesen doch von uns ererbt! Fahren wir so fort, so werden wir ihn ganz verderben. Glaube mir, Heinrich, wir werden ihn mit Liebe wie an einem Seidenfaden leiten, aber mit Strenge nicht von der Stelle bringen können. Sind wir nicht Alle so? Wir wollen Geduld haben, Heinrich! Sind doch selbst wir alten Leute (der Doctor lächelte hier) noch so abhängig von unserem Temperament, daß Scenen wie die heutige vorkommen können! Als ich eben jetzt, ehe Du kamst, nachdachte über unser Verfahren gegen unsere Verwandten, da kam es mir vor, als ob wir doch sehr Unrecht gethan. Wir waren die Wirthe, sie unsere Gäste. Sie hatten Unrecht, natürlich, aber wir haben ihnen denn doch zu scharf widersprochen, sind wieder einmal zu heftig gewesen.« Sie hielt inne und sah den Doctor an, der Doctor blickte vor sich nieder.
»Sprich nur weiter,« sagte er.
»Siehe, und da dachte ich, ob wir nicht die Verpflichtung hätten, unserem Kinde mit gutem Beispiele voranzugehen!« Sie zögerte etwas, aber da des Doctors Arm sie immer inniger und fester umschlang, sprach sie muthig weiter.
»Ich glaube, Heinrich, daß wir die Unserigen beleidigt haben und ich denke mir, daß eine Beleidigung, die von Dir, dem Familienhaupte, ausgeht, besonders wehe thun muß. Ich glaube, wir sollten morgen Irenen und dem Vetter einen Besuch machen. Ich glaube, Du hast besonders die Verpflichtung, dafür zu sorgen, daß die Familie friedlich zusammenhalte. Ich verstehe ja davon Nichts, aber es scheint mir so.«
»Du hast ganz recht,« sagte der Doctor.
»Noch eins,« fuhr Frau Agnes fort. »Irene und Friedrich sind von unserem Blute, sie werden uns vielleicht ein wenig herbe begegnen und ich muß Dir sagen, ich fürchte sehr, wir werden uns nicht beherrschen können!«
Der Doctor lachte auf. »Süße Taube,« sagte er, »was sagst Du denn immer »wir«. Du brauchst mich gar nicht so zu schonen, mein Herzensweib. Ich weiß wohl, was Du meinst und ich verspreche Dir, Du sollst mit mir zufrieden sein.«
»Nun, dann ist ja Alles gut,« sagte Frau Agnes und stand auf.
»Gottlob,« sagte der Doctor und erhob sich ebenfalls. »Und Du bist mir nicht böse um des Knaben willen?«
»Heinrich,« sagte Frau Agnes sehr ernst, »wir sind Mann und Weib, zwischen uns darf nichts treten, auch nicht unser Kind.«
Die Aufregung hatte Frau Agnes' Zustand sehr verschlimmert. Sie konnte am anderen Tage das Bett nicht verlassen und litt heftige Schmerzen, aber sie rief Heinz an ihr Bett und schärfte ihm noch einmal ein, was er sagen sollte.
Der Doctor saß am Kaffeetisch, als der Sohn eintrat. Er blickte den Knaben kalt und fremd an. Trotz des gestrigen Abends war er ganz außer Stande, dem Kinde ein freundliches Gesicht zu zeigen, ehe es nachgegeben. Der Knabe wurde wieder roth und bleich, die Worte wollten ihm nicht auf die Zunge, wenig fehlte, so wäre er aus dem Zimmer gelaufen. Endlich faßte er sich ein Herz und sagte, wie wenn er ein auswendig gelerntes Gedicht hersagte: »Ich war gestern sehr unartig, lieber Vater, vergieb mir!«
Der Doctor zog ihn nun an sich und küßte ihn auf die Stirn. »So, nun wollen wir wieder gute Freunde sein. Du warst ein Narr. Wenn Du erst einmal in der Schule gewesen bist, wirst Du gern hingehen. Wer in der Schule etwas Rechtes gelernt hat, der ist nachher ein freier Mann, dem Niemand etwas zu befehlen hat. Der gerade Weg zur Freiheit ist das Lernen, nur der Kenntnißreiche ist wahrhaft sein eigener Herr. Du setzest jetzt den Fuß auf die Leiter, sorge dafür, daß Du höher steigst als Deine Vorfahren. Zeige aller Welt, daß Du ein Eichenstamm bist, wenn auch vorläufig nur ein kleiner, und merke Dir das: – Wir Eichenstamms sitzen überall auf der ersten Bank. So, und nun geh' zur Mutter, gieb ihr einen Kuß, nimm dann Dein Ränzchen und komm. Der Kutscher spannt bereits an!«
»Wie war's?« fragte die Mutter, als Heinz an ihr Bett kam.
»Gut, Mutter. Ist es wirklich nichts mit dem Prellen?«
»Nein, mein Junge, gewiß nichts.«
Heinz eilte hinaus. In wenig Minuten war er fix und fertig beim Vater im Thorwege.
Während der kurzen Fahrt schwiegen beide. »Nur der Kenntnißreiche ist wahrhaft sein eigener Herr,« klang es in dem kleinen Kopfe wieder. O, er wollte schon kenntnißreich werden! Wie sollte man nicht lernen, wenn man dadurch so weit kommt, daß man Niemand mehr zu gehorchen braucht! Was wird Lelia für Augen machen, wenn sie hört, daß er aus der Schule zu ihr kommt! Sie war ihm gestern unter der Hand verschwunden, so, daß sie nicht den Ausgang seiner Schulnöthe erfuhr. Es war ihm jetzt recht lieb.
Da hielt der Wagen vor einem zweistöckigen grauen Hause. Der Doctor sah Heinz schmunzelnd an, als er ihn aus dem Wagen hob. Heinz war sehr roth und das Herz klopfte ihm zum Zerspringen. Er hätte gewünscht, die Mutter an seiner Seite zu haben.