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Es hatten sich damals die Burschenschaften der deutschen Hochschulen zu zwei großen Gruppen zusammengethan, die gleichsam die Rechte und die Linke bildeten. Die zur ersten Gruppe gehörenden Verbindungen vermieden grundsätzlich, sich um die Tagespolitik zu bekümmern und begnügten sich damit, im Allgemeinen unter ihren Mitgliedern einen patriotischen Geist zu erwecken und zu erhalten. Die Verbindungen der zweiten Gruppe hatten regelmäßige politische Abende, auf denen Fragen der Politik verhandelt wurden, und bemühten sich, ihre Mitglieder zu künftigen Parlamentsrednern und Volksführern auszubilden. Zu der ersten Gruppe, welche die jugendlicheren, frischeren Elemente umfaßte, hatte die Fischersbacher Arminia gehört, bis es Heinz gelungen war, sie von ihr zu lösen. Er hatte es durchgesetzt, daß sie sich ganz isolirte, daß an die Stelle des Leseabends der Fechtboden trat, und daß die Verbindung als das Hauptziel ihrer Bestrebungen das stramme, schlagfertige Auftreten ihrer Mitglieder erkannte. Wir sagten schon, daß Heinz sich dadurch die Feindschaft aller alten Herren, d. h. aller früheren Mitglieder, die als Juristen, Geistliche, Aerzte oder Landwirthe in der Umgegend von Fischersbach lebten, zugezogen hatte, und da diesen das Recht zustand, sobald es ihnen beliebte, im Convent mitzustimmen, so hatte Heinz ihnen gegenüber einen schweren Stand, denn wie man sich denken kann, fehlte es ihm auch unter den Studenten keineswegs an Gegnern. Wenn er trotzdem bisher aus allen Kämpfen als Sieger hervorgegangen war, so hatte er das zum guten Theil der Unterstützung, die ihm Hellberg und Hanning erwiesen hatten, zu verdanken gehabt. Hellberg zog die älteren, reiferen Elemente an, mit Hanning gingen die jungen Burschen durch Dick und Dünn. Der erstere schloß sich Heinz an, weil seiner ruhigen, maßvollen Natur jede stürmische Uebertreibung des Deutschthums lästig, der Letztere folgte Heinz, weil er ihn liebte und weil er ein viel zu raufsüchtiger Bursche war, um sich nicht jedem Versuche, die Bedeutung der Mensur herabzusetzen, auf's Aeußerste zu widersetzen.
Es war nicht unbemerkt geblieben, daß Heinz sich mit den Beiden überworfen hatte, und seine Gegner faßten neuen Muth. Gerade die besten Elemente, die tüchtigsten Studenten gehörten zu ihnen, während seine Anhänger, welche allerdings die Majorität gebildet hatten, größtentheils dem Mittelschlag angehörten und Heinz genau aus denselben Beweggründen auf den Schild hoben, wie Hanning. Dazu kam, daß die Majorität großentheils zerfahren war, nicht nur weil Hellberg und Hanning sich von Heinz abgewandt hatten, sondern auch, weil dieser selbst durch das rauhe und absprechende Wesen, das er in der letzten Zeit mehr noch als sonst hervorkehrte, sich manchen früheren Anhänger zum Feinde gemacht hatte.
So war denn seine Stellung bereits sehr erschüttert, als ein an sich unbedeutender Vorfall die Katastrophe herbeiführte.
Einer der treuesten Anhänger unseres Heinz war ein Friese, Namens Fritz Barsch, ein riesiger Bursche, mit einem Stiernacken und den Locken Simsons. Er war nach Heinz und Hellberg der beste Schläger und zugleich der rauflustigste, wildeste Bursche, den man sich denken konnte. Wenn auf der Kneipe vom deutschen Vaterlande gesprochen wurde, von alt-germanischer Herrlichkeit u. s. w., so saß er still da, rauchte heftig und sprach kein Wort; kam aber die Rede auf die Mensur, dann blitzten ihm die Augen und die gewaltigen Glieder reckten sich. Dann legte er die rothe Mütze auf den Tisch, schlug mit der Faust darauf, daß die Gläser klirrten und rief: »Unsere Mütze ist roth, Blut ist auch roth, wir dürfen das Blut nicht schonen! Nicht wahr, Otto?« Mit dieser Anrede pflegte er sich an seinen unzertrennlichen Freund und Gefährten Oldorg zu wenden, und Oldorg antwortete dann regelmäßig: »Ja wohl, Fritz!« Oldorg war ein Ostpreuße, und es war schwer zu entscheiden, ob er in Bezug auf Phlegma, Maulfaulheit, Appetit und Rauflust seinen Freund nur erreichte, oder ihn übertraf.
Nun giebt es auf deutschen Hochschulen unter den zahlreichen Vereinigungen, die alle möglichen Zwecke verfolgen, auch Studentenverbindungen, die aus den Traditionen der alten Burschenschaft hauptsächlich das christliche Element bewahrt haben und dieses ganz besonders betonen. Ohne die althergebrachten Formen des deutschen Burschenlebens aufzugeben, verwerfen diese Verbindungen, die gewöhnlich den Namen »Wingolf« tragen, doch das Duell, und obgleich sich dagegen in der Theorie nicht viel einwenden läßt, so spielen diese Wingolfiten doch eine untergeordnete Rolle.
Nun hatten unsere phlegmatischen Freunde eines Tages eine Ausfahrt in die Umgegend unternommen und waren gegen Abend in ein Wirthshaus eingekehrt, in dem auch ein paar Wingolfiten zufällig vor dem strömenden Regen Zuflucht gesucht hatten. Da Barsch und Oldorg bereits den ganzen Vormittag auf einer Bierinspectionsreise zugebracht hatten, so befanden sie sich durchaus in der Stimmung, jede Gelegenheit zu Händeln hochwillkommen zu heißen, und da sich ihnen nichts Besseres bot, so richteten sie ihr Augenmerk auf die Wingolfiten.
»Es ist ein Wetter, um ein Wingolfit zu werden,« begann Barsch. »Nicht wahr. Otto?«
»Jawohl, Fritz,« war die Antwort. »Hol's der Teufel!«
Die Wingolfiten thaten, als hätten sie die Worte nicht gehört, und begannen sich lebhaft zu unterhalten.
Die beiden Arminen steckten sich ihre Pfeifen an.
»Herr Wirth,« rief Barsch, »Herr Wirth! Trinken die jungen Herren dort auch Bier, oder trinken sie Milch?«
Der Wirth schmunzelte, schwieg aber.
»Was glaubst Du, Otto?« fragte Barsch weiter.
»Ja wohl, Fritz,« erwiderte der Angeredete.
»Habt Ihr zu Hause auch Wingolfiten, Otto?« hieß es weiter.
»Ja wohl, Fritz.«
»Wo denn das, Otto?«
»Auf dem Lande, Fritz.«
»Was machen sie denn da, Otto?«
»Sie fressen Gras, Fritz.«
Das Gespräch wurde so laut geführt, als ob die Redenden statt des Tisches die Saale zwischen sich gehabt hätten Die Wingolfiten erhoben sich und traten auf die Beiden zu. »Habe ich recht gehört,« fragte der Eine von ihnen, »wenn es mir schien, als ob Sie eben den Namen der Verbindung, der anzugehören ich die Ehre habe, in einer sehr beleidigenden Weise gebrauchten?«
Fritz und Otto schienen den Redner nicht bemerkt zu haben. Sie blickten standhaft in ihre Pfeifenköpfe.
»Geben sie auch Milch, Otto?« schrie Barsch.
»Nein, Fritz, Milch geben sie nicht, Fritz.«
»Was hat man denn von ihnen, Otto?«
»Wolle hat man von ihnen, Fritz.«
»Meine Herren,« rief der Wingolfit mit vor Wuth bebender Stimme, »Sie werden diese Beleidigungen meiner Verbindung zu verantworten haben.«
»Stoßen sie auch, Otto?« fragte Barsch kaltblütig weiter, als ob ihn nichts unterbrochen hätte.
»Nein, Fritz, sie blöcken nur, Fritz.«
Das Gespräch wurde mit unerschütterlichem Ernst und in durchaus ruhiger Weise geführt. Es kam den Beiden offenbar nur darauf an, sich über die ostpreußischen, ländlichen Wingolfiten zu unterhalten. Die Wingolfiten wandten sich um und verließen das Zimmer.
»Soll ich ihm ein Seidel über den Kopf gießen, Otto?« fragte Barsch.
»Ja wohl, Fritz,« war die Antwort.
Als die beiden Wingolfiten aus der Hausthür traten, wurde ihnen der Inhalt der beiden Seidel so geschickt auf die Köpfe gegossen, daß kein Tropfen verloren ging.
Wie man sich denken kann, erregte die Handlungsweise der beiden Freunde die äußerste Entrüstung des Wingolfs. Dieser wandte sich in einem Schreiben an die Arminen und verlangten exemplarische Bestrafung der übermüthigen Beleidiger.
In der Arminia gingen die Meinungen stark auseinander. Während Heinz und seine Freunde der Ansicht waren, daß eine Verbindung, die das Duell verwarf, außerhalb des Comments stehe und daher keinerlei Rücksichtnahme verdient, erhob sich die ihm feindlich gesinnte Partei der eigentlichen Burschenschafter wie ein Mann. Ein solches Verfahren, behaupteten die Anhänger dieser Richtung, sei in keiner Weise zu dulden. Selbst die rohesten Corpsstudenten würden sich scheuen, Wehrlose zu beleidigen, um wie viel weniger dürften sich Burschenschafter solche Dinge erlauben. Sie behaupteten, daß der Wingolf der Burschenschaft näher stehe, als irgend eine andere Studentenverbindung und verlangten, daß die beiden Freunde feierlich Abbitte leisten sollten. Diese erklärten, sie würden das nun und nimmermehr thun. So wurde denn von beiden Seiten zum entscheidenden Convent gerüstet. Die Gegner boten alles auf, um möglichst viele alte Herren auf den Kampfplatz zu rufen und sich so gleichsam durch die lebendige Tradition zu verstärken. Heinzens Anhänger verließen sich auf die Entschlossenheit und Thatkraft ihres Führers. Unter anderen Umständen hätte dieser Kampf für Heinz großen Reiz gehabt, denn für gewöhnlich brauchte man eine von ihm vernachlässigte Position nur anzugreifen, um sie ihm lieb zu machen, jetzt aber war ihm der ganze Handel gleichgültig und er war ihm nur willkommen, weil er ihm einen Vorwand bot, sich von der Burschenschaft loszumachen. Was gingen ihn noch die Studenten an?
Er erklärte daher zu größer Verwunderung von Freund und Feind gleich beim Beginne des Convents ganz sanftmüthig, daß er, falls seine Freunde unterlägen, austreten würde und hörte der entscheidenden Debatte so gleichgültig zu, als handelte es sich um die geringfügigsten Dinge und nicht um Ansichten, für die er noch vor einigen Wochen mit Feuereifer gestritten hatte. Die Freunde, welche hofften, daß die Debatte ihn schon warm machen werde, vertraten ihre Sache tapfer, sahen sich aber in ihren Erwartungen getäuscht und unterlagen. Da legte Heinz Mütze und Farbenband einfach auf den Tisch, verbeugte sich leicht gegen die Anwesenden und verließ das Gemach. Die Freunde folgten in tumultuarischer Weise seinem Beispiele, eilten ihm nach, umringten ihn und verlangten, er solle angeben, was nun zu thun sei. »Wir müssen ein Corps bilden, Heinz!« riefen sie. Heinz weigerte sich. Als sie in ihn drangen, vertröstete er sie auf den folgenden Tag, sagte, er müsse auf's Land, und ging davon.
Der Regen fiel in Strömen, die Lust war schon empfindlich kalt. Die Bergabhänge waren schlüpfrig und schwer zu ersteigen, von dem nassen Laube, das den Boden bedeckte, stieg ein moderiger Geruch auf. Von Zeit zu Zeit blickte Heinz auf seine Brust; das Band, das ihn so lange geschmückt hatte, das Band, zu dessen Ehre er so manche Fehde ausgefochten hatte mit Worten und Waffen, das Band, das ihn mit so vielen Genossen verbunden hatte, war fort. Der alte, hochmüthige Trotz der Einsamkeit stieg wieder in ihm auf, seine Gedanken waren wieder so thöricht, wie in den Tagen der Schulzeit. »Der Edle gehört nicht unter die Menschen,« dachte er, »der Umgang mit dem gewöhnlichen Durchschnittsgeschmeiß verdirbt ihn, zieht ihn hinab. Nur in der Einsamkeit der höchsten Berge gedeiht das Edelweiß, unten im Thale wuchern die gemeinen Gewächse der Küche und der Scheuer! Die Hannings, die Hellbergs mögen sich im Gewühle glücklich fühlen, an dem Verkehre mit Menschen ein plattes Behagen finden, ich bedarf ihrer nicht. Gott sei Dank! Jetzt bin ich wieder allein und frei!«
Im Pfarrhause war Anna mit seinem Verfahren ganz einverstanden. »Du warst ohnehin zu reif,« sagte sie, »um am Studentenleben Gefallen finden zu können. Du kannst nun ganz Deinen Studien leben.«
Um so unglücklicher war der Pfarrer. Heinz, meinte er, habe Eile. Nun, da er verlobt sei, dürfe er keine Stunde ungenützt vergehen lassen. Er sei das seiner Braut schuldig. Er wolle jetzt nur der Wissenschaft und seiner Zukunft leben.
Der Pfarrer schüttelte den Kopf. »Sie werden künftig weniger arbeiten, als bisher,« sagte er. »In Ihrem Alter fördert sich die Arbeit nur, wenn sie neben einem angenehmen, geselligen Leben hergeht. Einsame Jünglinge arbeiten nicht, – sie träumen.« Heinz sollte bald erfahren, daß der Pfarrer Recht hatte. Er wies die Bitten der Freunde, sich an der Gründung einer neuen Verbindung zu betheiligen, ab und machte sich allmälig von ihnen los. Er brach auch sonst allen Verkehr ab. Er wollte nur arbeiten. Nichts sollte ihn stören, ihn abziehen.
Er war bisher immer fleißig gewesen. Er war es schon aus Ehrgeiz, und obgleich ihm die Burschenschaft viel Zeit gekostet, hatte er doch bedeutende Fortschritte gemacht. Wenn er arbeitete, so war er eben ganz bei der Sache gewesen, und da es ihm an reicher Begabung nicht fehlte, so hatte er rasch gearbeitet. Die Arbeit war ihm wie ein frisches, kaltes Bad gewesen, aus dem er froh und heiter hervorging. In den Pausen hatte er ein paar Gänge durch den prächtigen Park gemacht, war durch die Alleen gegangen und hatte sich dann wieder an den Arbeitstisch gesetzt. Er war voll Frische und Zufriedenheit gewesen.
Das wurde jetzt anders. Auf dem »Höchst«, der nur von Arminen bewohnt war, konnte er nicht bleiben; er zog also in die Stadt.
Da saß er nun den ganzen, langen Tag über den Büchern, aber mit wenig Erfolg. Er bemerkte bald, daß es ihm an der alten Freudigkeit fehle. Er war zerstreut, oft ertappte er sich dabei, daß er, während er vor einem offenen Buche saß, doch nicht darin las, daß er, statt zu arbeiten, – träumte. Er war klug genug, einzusehen, daß er sich in großer Gefahr befand, wieder in das alte Traumleben zu verfallen, und er war zu energisch, um sich ohne Kampf zu ergeben; aber da er selbst alle Bundesgenossen weggewiesen hatte, so war sein Widerstand von vornherein aussichtslos. Wer als Student in einer kleinen Universitätsstadt nicht mit Studenten lebt, der lebt eben nur mit sich, und wer als Student nur mit sich lebt, der lebt in gefährlicher Gesellschaft. In einer großen Stadt können die Theater, die Concerte, die bunte Menschenmenge selbst dem Einsamen den Verkehr mit Menschen wenigstens einigermaßen ersetzen, in der kleinen bleibt ihm nichts übrig, als an die Stelle des wirklichen Lebens Traumgebilde treten zu lassen.
Heinz fühlte selbst, wie unhaltbar seine Lage war und er beschloß, nach Berlin zu gehen; aber konnte er sich von Anna trennen?
So blieb er denn, fühlte sich jedoch sehr unglücklich. Ein paar mal wöchentlich ging er hinaus nach Lindenruh. Dort wußte er sich von Anna sehnsüchtig erwartet, dort erregte sein Kommen noch hellen Jubel. Wie ein Pfeil flog Anna ihm entgegen, sobald sie ihn ersah, ihre Arme umschlangen ihn, sie wurde nicht müde, ihre Freude an den Tag zu legen. Wenn sie neben ihm saß, seine Hand in ihren Händen hielt und ihre schönen Augen ihn forschend anblickten, ob er auch nur zufrieden, ob er auch nur glücklich sei, dann war ihr Antlitz wie ein Spiegel, der getreulich wiedergab, was in Heinzens Gesicht vorging. Wenn er etwas erzählte und dabei in seiner lebhaften Weise die Stirn runzelte, oder den Kopf zurückwarf und die Gesichtsmuskeln je nach dem Inhalte des Erzählten spielen ließ, dann machte sie ihm das alles unwillkürlich und ohne daß sie es wußte, getreulich nach. Seine Ansichten wurden, sie mochten noch so wunderlich und excentrisch sein, bald auch die ihrigen, und sie gab sie dann so genau mit seinen Worten wieder, als ob er sie hingeschrieben und sie dieselben auswendig gelernt hätte. Er bemerkte das wohl mitunter und es erfüllte ihn mit Freude; aber in der Regel schätzte er ihre Liebe wie wir Menschen eben die Güter schätzen, die wir ganz und unangefochten besitzen. Wir nehmen sie hin wie etwas Selbstverständliches. Erst der Schwindsüchtige weiß, daß er einmal gesunde Lungen besaß und daß das schön war.
Und doch war selbst in Lindenruh nicht Alles geblieben, wie es früher gewesen war.
Der Pfarrer war in Heinzens Gegenwart nicht gerade verdrießlich, aber doch ernst und wortkarg; Marie ließ sich, wenn Heinz da war, so wenig als möglich blicken. War ein Zusammensein nicht zu vermeiden, so saß sie schweigend da und zeigte ein so trotziges Gesicht, wie ein eigensinniges Kind, das gesagt hat: »Meinetwegen, an den Tisch setze ich mich, wenn Ihr es wollt, aber die Suppe esse ich darum doch nicht.« So waren denn viele Stunden für alle Theile gleich peinlich.
Das mußte Heinz gerade damals sehr unangenehm empfinden. Er wußte sehr wohl, daß es nur in seiner Gegenwart im Pfarrhause so still herging, er wußte, daß, wenn er ging, Hanning kam und daß der Pfarrer und Marie sich dann durch heiteres Geplauder für den Zwang entschädigten, den Heinzens Gegenwart ihnen auferlegte. Sie konnten es ungestört thun, denn sobald Hanning kam, ging Anna auf ihr Zimmer und ließ sich nicht sehen.
Heinz wußte das Alles und der Gedanke, lästig zu fallen, ein unerwünschter Gast zu sein, mußte ihm selbst den Aufenthalt in Lindenruh verbittern.
Heinz war ein echter, fehdelustiger, kampfesfroher Deutscher. Ihm war nie wohler, als wenn er einem Gegner gegenüberstand, als wenn er kämpfte, sei es nun mit dem scharfen Wort oder mit dem scharfen Stahl. Das ging nun nicht mehr recht an, denn die Studenten und er waren sich fremd geworden, den Professoren ging er aus dem Wege, mit Anna zu streiten, war für ihn unmöglich. Sie widersprach ja niemals, entweder weil sie seine Ansichten wirklich zu theilen glaubte, oder weil sie ihn nicht reizen wollte. Schalt er sie dafür, dann flüchtete sie an seine Brust und rief: »Quäle mich nicht, Herzens-Heinz, ich will fühlen und denken wie Du. Andere mögen mit Dir streiten, ich will Dich lieben.«
Durch Nichts wurde Heinz so sehr von Anna bezaubert, als durch ihr schönes Verhalten den Armen gegenüber. Die Dorfbewohner waren sehr arm, während Anna über bedeutende Mittel verfügte, denn einmal war ihr Vater verhältnißmäßig wohlhabend, und dann hatte sie von ihrem verstorbenen Manne ein nicht unbeträchtliches Vermögen geerbt. Von diesem machte sie den schönsten Gebrauch, indem sie überall half, wo Hülfe noth that, und da sie jeden Menschen im Dorfe genau kannte, griff sie mit ihren Unterstützungen nicht leicht fehl. Wichtiger aber noch als ihre Geldgaben waren oft ihre Rathschläge, ihre Bitten, denn sie verstand es wunderbar, die Herzen der sogenannten kleinen Leute gefangen zu nehmen; so geschah es denn, daß nichts irgend Wichtiges sich im Dorfe ereignete, ohne daß man ihren Rath eingeholt, oder womöglich sie herbeigerufen hätte. Heinz, der, wie viele seiner Landsleute, von Jugend auf es vortrefflich verstand, mit den unteren Volksklassen zu verkehren, fand Freude daran, Anna auf ihren Gängen zu begleiten, mit ihr in die Hütten der Armen einzutreten, ihr an die Betten der Kranken zu folgen. Mit Verwunderung sah er dann wohl, wie völlig leidenschaftslos, wie sanft und doch wie fest Anna in allen Dingen war, die zu ihm in keiner Beziehung standen, und er fragte sich, was er denn eigentlich bewirkt habe, daß sie ihm gegenüber so völlig willenlos, so völlig unselbstständig erschien.
Er beantwortete sich diese Frage dahin, daß seine Person doch eine ganz besonders bedeutende sein müsse, da sie ein solches Wunder zu Stande gebracht.