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Aus Mariens Tagebuche.

Den 22. December.

Heute haben sie den grünen Kuni begraben. Die Frau thut mir leid, aber sie ist selbst schuld daran, daß es so gekommen. Als er zum ersten Male wieder wildern ging, hätte sie ihm nachlaufen müssen und das Wild verscheuchen. »Man muß die Männer kurz halten,« das ist einer meiner Grundsätze.

Den 24. December, Morgens.

Heute kommt natürlich der »Abscheuliche« und Johannes und er bleiben zu Hause. Das wird ein schöner Weihnachtsabend werden! Wäre es nicht um Anna's willen, ich käme gar nicht herunter; aber ich will ihr nicht wehe thun. Für Johannes, den alten Philister, hab' ich ein Paar Morgenschuhe, für ihn eine Cigarrentasche: braune Blumen auf grünem Grunde. Beides ist recht gut gerathen. Der »Abscheuliche« bekommt natürlich nichts.

Den 24. December, Abends.

Gott sei Dank, der Abend ist endlich vorüber. Vater kam gleich nach Tische zu mir heraus und hielt mir eine lange Vorlesung darüber, daß der »Abscheuliche« unser Gast und Anna's Bräutigam sei und als solcher Anspruch auf eine anständige Behandlung erheben könne. Er bat mich dann, doch recht artig gegen ihn zu sein, und behauptete, daß man mit dem Kopfe nicht durch die Wand könne. Diese Männer! Als ob es nicht auch Wände von Papier gäbe, durch die man sehr wohl mit dem Kopfe kann. Neun Zehntel aller dieser angeblichen Wände, durch die man nicht können soll, sind von der Art. Das ist einer meiner Grundsätze. Den »Abscheulichen« soll man anständig behandeln! Nun, meine stillen Blätter, ihr werdet ja gleich erfahren, wie anständig der Patron sich selbst benimmt.

Am Nachmittage, wenn Vater sein Mittagsschläfchen gehalten hat, pflegt er uns am Weihnachtsabende regelmäßig hinauszuschicken und allein den Baum zu schmücken. Das ist nach meiner Ansicht auch ganz vernünftig, denn, wenn wir uns über den Glanz des Baumes so recht freuen sollen, so müssen wir ihn vorher nicht gesehen haben, und Vater thut es natürlich nur aus Liebe zu uns und um unsere Freude zu erhöhen. Wie er nun also heute die alten schwarzen Handschuhe anzieht, um sich nicht die Finger zu zerstechen, und uns Alle auffordert, das Zimmer zu verlassen, bleibt der impertinente »Abscheuliche« kaltblütig stehen und sagt wörtlich: »Wir sind ja keine Kinder mehr, Herr Pfarrer. Bleib' hier, Anna, wir wollen dem Vater helfen!«

Ich hätte vor Wuth bersten mögen, denn ich sollte natürlich das Kind sein. Ich fühlte, wie ich erröthete und rief: »Wenn Ihr bleibt, bleibe ich auch.« Da lachte der »Abscheuliche« so recht malitiös, stieß Anna an und sagte: »Natürlich, Miß Mary, Sie sind ja kein Kind.« Darauf sah er Anna an mit einem Blicke, der so viel heißen sollte, wie: »lache doch,« und sie that denn auch so, als ob sie seine Worte sehr witzig fände. Ich beherrschte mich um Anna's willen und schwieg. Ich wünschte nur, er wäre dabei gewesen. Der Vater ging ein paar Mal im Zimmer auf und nieder, blieb dann vor dem »Abscheulichen« stehen und sagte: »Es mag Ihnen komisch Vorkommen, Eichenstamm, daß auch die Erwachsenen hinausgehen; aber in meinem Hause ist es seit 25 Jahren so gewesen und ich würde nur ungern auf diese Sitte verzichten. An diesem Abende sollten wir Alle sein wie Kinder, so rein wie Kinder und so fröhlich wie Kinder.«

Konnte man hübscher und zugleich höflicher sprechen als Vater? Ich eilte auf ihn zu und küßte ihm die Hand; aber dieser Eichenstamm, nein, dieser Eichenklotz, wie er wohl richtiger heißt, zieht die Stirn kraus und erklärt: »Wenn ich hier lästig sein sollte, so kann ich auch gehen.« Damit wandte er sich um und wollte wirklich gehen.

Statt ihn sich nun trollen zu lassen und noch drei Kreuze hinter ihm her zu machen, geht nun von Anna's Seite natürlich das Bitten an. So hätte es der Vater nicht gemeint, er solle doch nur dableiben. Sie und ich würden hinausgehen und er solle dem Vater helfen. Ich sah, wie der Vater böse werden wollte, aber Anna's Angst rührte ihn und statt den Abscheulichen hinauszuweisen, ging er auf ihn zu, reichte ihm die Hand und sagte: »Die menschliche Gesellschaft beruht auf lauter Compromissen; wollen wir auf diesen Compromiß eingehen.« Der Vater ist viel zu gut.

Also Anna und ich gingen hinaus. »Höre,« sagte ich, als wir im anderen Zimmer waren, »sage doch Deinem Bräutigam, daß er mich nicht Miß Mary nennen soll.« (Es war mir nämlich zuwider, daß er so vertraulich gegen mich that.) »Ich will ihn darum bitten,« antwortete sie mir, »aber ob er es deshalb lassen wird, weiß ich nicht. Es ist ja auch nichts Beleidigendes.« »Ich will aber nicht, daß er mich so nennt,« rief ich. Da brach Anna in Thränen aus. Ich wollte ungeduldig werden, dachte aber an ihn und beherrschte mich. Ich legte meinen Arm um ihre Schulter, küßte sie und sagte: »Meinetwegen mag er mich nennen wie er will.« Nun dachte ich, sie würde aufhören zu weinen, aber sie weinte nur umsomehr. Mir war das Herz voll zum Zerspringen. Ich nahm ihre kleinen weißen Händchen, die ganz kalt waren, drückte sie an meine Brust und küßte ihr die Thränen weg. Ich hab' die Anna lieb wie eine Mutter ihr Kind und würde mich für sie in tausend Stücke zerreißen lassen. »Mein liebstes Schwesterlein,« sag' ich, »warum weinst Du? Ich habe vorhin dumm und unbedacht gesprochen.« Da drückt sie ihren Kopf an meine Schulter, faßt nach meiner Hand und schüttelt sich. »Ach! Ich hab' es so schwer, so schwer!« stöhnt sie.

Mir hat es das Herz zerrissen, daß sie so sprach; ich fing auch an zu weinen und so saßen wir beiden Waisen da und weinten bitterlich. Das war ein schöner Weihnachtsabend! Nach einer Weile springt Anna auf. »Was hab' ich gethan?« fragt sie. »Er wird mir ansehen, daß ich geweint habe.« Wie sie das sagte, waren mir die Thränen weg mit einem Male. »Was thut's?« frag' ich. »Er liebt es nicht,« erwidert sie und eilt auf ihr Zimmer. Dort wäscht sie sich die Augen und ordnet sich das Haar. »Sieht man mir noch was an?« fragt sie und versucht zu lächeln, obgleich sie todtenbleich ist.

Mittlerweile kamen die Kinder aus dem Dorfe und wir hatten genug zu thun, um sie zu beschäftigen und in Ruhe zu erhalten. Gottlob, daß sie da waren; ihr Jubel richtete unsere müden Herzen auf. Ich dachte viel an ihn, der sonst an diesem Festtage immer bei uns war. Nun, die Arminen haben ja auch einen Weihnachtsbaum. Ob er wohl an mich gedacht hat? Ob ihm wohl die Tasche gefallen hat?

Die Kinder waren nicht mehr zu halten, so daß ich einem Buben ein Paar Klapse gab. Ich bin eigentlich gegen das Schlagen, aber oft leistet es doch sehr gute Dienste.

Als Vater klingelte, strömten die Kinder jubelnd hinein. Kinder sind doch allerliebste Geschöpfe!

Anna und ich gingen zuletzt hinein. Der »Abscheuliche« kehrte uns, dem strahlenden Weihnachtsbaume und dem Vater den Rücken zu, hatte den Kopf an das Fensterkreuz gelehnt und blickte zum Fenster hinaus. Er dachte wohl an die Bären und Wölfe seiner Heimath.

Warum geht er nicht dahin zurück?

Anna eilte natürlich gleich auf ihn zu und umschlang ihn. Er ließ sich denn auch umwenden, that dann aber wieder, als ob sie gar nicht da wäre, kreuzte die Arme über der Brust und stand so großartig da, wie König Heinrich der Abscheuliche. Er hatte sie übrigens sehr reich beschenkt; ich denke, der Schmuck allein muß ein Paar Hundert Gulden gekostet haben. Als ich an meinen Platz ging, zitterte ich davor, daß er mir nicht auch etwas geschenkt habe, und richtig, das hübsche Nähtischchen war von ihm. Nachher kommt er noch auf mich zu und sagt in seiner nichtachtenden Weise: »Wenn's Ihnen peinlich ist, von mir ein Geschenk anzunehmen, Miß Mary, so können Sie es ja in die nächste Verloosung schicken.« Ich schwieg, aber mein Gesicht sagte ihm wohl, daß ich es genau so machen würde. Doch darf ich nicht verschweigen, daß er mir heute zum ersten und hoffentlich auch zum letzten Male in meinem Leben einen Augenblick gefallen hat. Das war, als die alte Trude Anna ihre Fuchsia schenkte. An und für sich war es ein ziemlich schofles Gewächs, aber es bekam dadurch Werth, daß die Alte es so mühsam gezogen und so ängstlich vor Anna versteckt hatte. Anna wußte natürlich lange schon, was die Alte für sie vorbereitete, aber es war rührend zu sehen, wie diese die Blume in ihrer Art pflegte. Regnete es, so stellte sie sie auf's Dach. Dann warf der Wind die ganze Geschichte herab, daß der Topf zerbrach und das arme Ding in andere Erde kam. Nun hätte ich nie geglaubt, daß der Eichenstamm den Werth, den diese Blume dadurch erhielt, daß sie mit Liebe großgezogen ward, verstehen könnte; aber es schien doch so, wenigstens umfaßte er die Trude und gab ihr einen Kuß.

Von ihm erhielt ich zwei Bücher: »Den Trompeter von Säckingen« und die »Blüthen aus dem Treibhause deutscher Lyrik.« Letzteres scheint mir eine Sammlung lyrischer Gedichte zu sein. Johannes sandte mir ein Paar Kaulbach'sche Bilder. Ich glaube, man findet sie recht hübsch. Vater und Anna hatten mich natürlich überreich bedacht.

Ich hoffte schon, der Abend werde ohne weiteren Scandal vorübergehen, aber der blieb doch nicht aus. Als Anna ihre Gaben näher betrachtete, fand sie darunter auch ein goldenes Kreuzchen. Sie fragte den Vater, von wem das käme, da erwiderte dieser mit einem Blicke auf den »Abscheulichen,« es komme von Johannes. Nun, ich bin auch der Meinung, daß Johannes unter bewandten Umständen gut gethan hätte, die Gabe zu lassen, und daß Vater sie wenigstens nicht hätte auf den Tisch legen sollen; aber der »Abscheuliche« benahm sich natürlich wieder frech und roh nach seiner Weise. »Von Herrn Hellberg ist es?« rief er, öffnete das Fenster und warf das Kreuz einfach hinaus. So wurde denn der Abend, als die Kinder und Leute weg waren, recht trübselig, und ich glaube wir waren Alle froh, als wir auseinandergingen.

Den 23. December.

Heute war Anna so krank, daß wir nach dem Arzte schickten. Er sagte, ihre Nerven seien sehr angegriffen und sie müsse vor jeder Aufregung gehütet werden. Ihr Herzleiden macht ihr wieder viel zu schaffen. Es macht mir Sorge, daß er hinzusetzte: »Sie hat ohnehin nicht viel zuzusetzen.«

Für mich ist es schön, wenn sie krank ist, dann kann ich sie recht hegen und pflegen. Heute kämmte ich ihr das Haar. Was sie für wunderschöne Flechten hat!

Den 5. Januar.

Der »Abscheuliche« spricht jetzt viel davon, zu Ostern nach Berlin zu gehen. Anna thut ihm und mir gegenüber so, als ob ihr das ganz recht wäre; aber sie täuscht mich nicht, denn ich bin klug genug und mich betrügt man nicht!

Den 27. Januar.

Wer weiß, was die Beiden mit einander gehabt haben mögen; Anna hat wieder die ganze Nacht über geweint. Vielleicht hat er sie von seiner Abreise unterhalten. Ich weiß nicht, ob ich mehr wünschen soll, daß er geht, oder daß er bleibt.

Heute las ich in einem Buche: »Eine Frau wird von ihrem Manne nur so lange geliebt, als sie ihn beherrscht.« Ich werde diese Ansicht zu einem meiner Grundsätze machen.

Auf den Westfalen-Ball, zu dem mich Frau Krug mitnehmen wollte, fahre ich nun doch nicht. Es schien ihm nicht lieb zu sein, und da bleibe ich lieber zu Hause.

Den 14. März.

Unser Haus ist wie verwandelt. Vater hat all' seinen Humor verloren und ist so ernst, wie ich ihn, seit Anna wieder zu uns kam, nie gesehen habe; Anna grämt und härmt sich. Wie soll sie auch anders? Er erzählte mir, daß der »Abscheuliche« für eine Arbeit die goldene Medaille erhalten habe, aber man merkt ihm keinerlei Freude an. Früher war er wenigstens amüsant, aber wenn er jetzt kommt, ist er immer verdrießlich und schweigsam. So ist er auch, wenn er mit Anna allein ist. Ob ich wohl unglücklich lieben könnte?

Den 2. April.

Jetzt ist der »Abscheuliche« nun schon seit acht Tagen nicht hier gewesen. Anna schleicht wie eine Kranke umher. Sie ist auch krank. Ich begreife Vaters Geduld nicht!

Den 3. April.

Heute kam er endlich. Ich saß am Fenster und konnte Alles hören, Alles sehen. Als Anna ihm auf die Veranda entgegen eilte, fiel sie ihm um den Hals und weinte bitterlich. Er stieß sie nicht gerade zurück, aber er schloß sie auch nicht an sich, sondern stand da wie ein Steingötze und sagte trocken: »Worüber weinst Du denn, liebes Kind?« »Nimm mir's nicht übel,« schluchzte sie, »ich fürchtete, Du wärest krank.« »Du mußt nicht so thöricht sein,« erwiderte er und nahm ihren Arm von seiner Schulter. »Du weißt, daß ich viel zu thun habe. Du mußt nicht gleich weinen, Anna. Es ist wirklich nicht angenehm, immer mit Thränen empfangen zu werden.«

Ich war so wüthend, daß ich kaum noch hinhören mochte, aber nun sollte ich noch viel Tolleres sehen. Anna nahm seine Hand und küßte sie. »Verzeih' mir,« bat sie. War das zu ertragend Ich räusperte mich also kräftigst, damit sie doch gewahr würden, daß es noch verständige Leute in ihrer Nähe gebe und damit sie sich schämten. Da fragt er ganz laut: »Wie geht es denn Frau Hanning?« Da hielt ich es nicht länger aus, lief hinaus und sagte ihm tüchtig die Wahrheit. Aber tüchtig! Ich hatte eigentlich Angst vor ihm, denn er hat böse Augen; ich dachte auch, er würde auffahren wie ein angeschossener Eber, aber der abscheuliche Mensch blieb ganz ruhig, that noch so, als ob er gähnte, und sagte: »Nicht übel, Miß Mary, gar nicht übel. Sie können noch einmal ein regelrechter Hausdrache werden.«

Ich wandte mich um und lief davon. Sollte ich die Geschichte Vater erzählen? Was kann der am Ende auch thun, so lange Anna nicht von ihm läßt? Und doch wird er immer frecher.

Den 26. April.

Heute war er hier. Er wünscht nicht, daß ich Eichenstamm den »Abscheulichen« nenne, da will ich es denn lassen. Wie er gut ist! Er liebt ihn noch immer. »Fräulein Marie,« sagte er, »Sie dürfen ihn nicht darnach beurtheilen, wie er jetzt ist. Wie soll ein so thatkräftiger, heißblütiger Mensch wie Eichenstamm nicht auf Abwege gerathen, wenn er so einsam lebt. Ich treibe mich doch viel in der Stadt umher, das Nest ist doch auch nicht groß, aber ich begegne ihm nie. Er hat sich von Allen zurückgezogen, auch von denen, die mit ihm austraten, und sitzt jetzt den ganzen Tag über allein auf seinem Zimmer. Ich kenne ihn wie meine Tasche. Er muß immer unter Menschen sein; je mehr er in Gesellschaft ist, um so liebenswürdiger ist er.«

Den 3. Mai.

Nun ist er doch hiergeblieben. Ich erzählte Vater, was er mir. gesagt, und bat ihn, ihm doch zuzureden, nach Berlin zu gehen; aber Vater meinte, er dürfe das nicht thun, damit Eichenstamm nicht etwa glaube, daß er Vater lästig sei. Vater ist übrigens auch der Meinung, daß es für Eichenstamm und uns Alle besser wäre, wenn er ginge, er selbst will ihm nur nicht zureden. Ja, wer soll es denn aber thun?

Er ist ein Schelm und das »Treibhaus deutscher Lyrik« ist ein Schelmenbuch. Fatal, daß ich es jetzt erst gelesen habe. Ich glaube, ich habe mich ihm gegenüber einige Male scharf blamirt.

Den 5. Mai.

Heute hatten alle Burschenschafter zusammen eine Ausfahrt nach Eichenreuth gemacht und fuhren durch unser Dorf. Wie hübsch das aussah! Voran fuhren die Musici, dann kamen ein paar Kaleschen, in denen, glaube ich, Professoren saßen, dann ein Wagen voll Fässer und endlich eine lange Reihe Leiterwagen, in denen immer je vier Studenten Platz genommen hatten. Die Germanen schienen in diesem Jahre stärker zu sein als die Arminen; aber die letzteren sind doch viel stattlicher.

Als sie gefahren kamen, stand Eichenstamm am Fenster. Er machte ein so finsteres Gesicht, wie ich noch nie eins bei ihm gesehen habe. Viele von den Germanen und auch einige Arminen grüßten ihn, aber er sah starr vor sich hin und verneigte sich auch nicht ein Bißchen. Als sie vorüber waren, sah er noch eine Weile stumm auf die Straße und sagte dann verächtlich: »Große Kinder!« Nachher seufzte er aber doch.

Er will übrigens auch austreten. Er behauptet, seit Eichenstamm ausgetreten ist, wären die Duckmäuser oben aufgekommen. Vater ist dagegen und ich auch. Diese ewigen Mensuren waren doch auch übertrieben und seine Wange sieht ohnehin aus wie ein Linienblatt.

Im Herbste will er sein Examen machen. Gott gebe uns einen kalten, regnerischen Sommer, damit er arbeitet.

Ob man wohl, wenn man ein Tagebuch führt, verpflichtet ist, alles Wichtige aufzuschreiben? Ich will darüber nachdenken.

Den 7. Mai.

Heute hielt Eichenstamm uns eine lange Vorlesung darüber, daß die deutsche Geschichtsforschung nichts tauge. Anna und ich saßen am Nachmittage am Nähtische und nähten Kleider für des grünen Konrad's Waisen; er saß Anfangs neben Anna, nachher sprang er auf und lief im Zimmer auf und ab, so daß ich fürchtete, er würde Vater erwecken. Er sprach natürlich nur zu Anna, denn mich hält er für ein Kind; ich bin aber keines und ich habe Alles, was er sagte, so gut verstanden, daß ich es Wort für Wort hier aufschreiben kann.

»Je mehr ich mich in meine Studien vertiefe,« sagte er, »um so weniger kann ich mich mit ihnen befreunden. Du weißt (das ›Du‹ ging auf Anna), daß ich nun schon seit drei Jahren gearbeitet, daß ich im letzten Jahre mit der größten Anstrengung geforscht habe, Du weißt auch, daß meine Studien nicht ohne Erfolg geblieben sind (damit meinte er die goldene Medaille), und dennoch wird mir das Studium nicht lieber, sondern, je länger je mehr, zuwider. Je vertrauter ich mit dieser modernen Art Geschichtsforschung werde, um so mehr ekelt sie mich an. Du hast keine Vorstellung davon, wie klein die Welt ist, in der man sich da bewegt. Darüber, ob man in einer Handschrift a oder o zu lesen habe, streitet man in unserem Seminar tagelang, und die Frage, ob ein unbedeutendes, für den Gang der Ereignisse ganz gleichgültiges Treffen Anno eins oder Anno zwei geschlagen worden ist, ruft Bände von Erörterungen hervor. Mit dem größten Fleiße werden die alten Archive durchforscht und jede alte Urkunde wird sorgsam abgeschrieben und getreulich abgedruckt, so daß die gelehrten Bibliotheken jetzt nicht nur von geschriebenem, sondern auch von gedrucktem Schunde wimmeln. Damit bläht man sich denn unsäglich und glaubt Geschichte geschrieben zu haben, wenn man einen Haufen dürrer Thatsachen zusammengestellt hat. Fragen wir nun: ›Ja, aber wozu soll denn das?‹ so wird uns die Antwort zu Theil, das seien die nothwendigen Vorarbeiten für eine instructive und großartige Behandlung der Geschichte. Ich weiß nicht, ob Du verstehst, was sie damit meinen. Es soll also z. B. keine Geschichte Deutschlands geschrieben werden können, ohne daß der ganze Kram, der in den Bibliotheken und Archiven von den Mäusen gefressen wird, veröffentlicht oder wenigstens verzeichnet ist. Du wirst finden, daß diese Ansicht Vieles für sich habe und ganz verständig sei, sie ist aber grundfalsch. Wer einmal in der Tretmühle der neueren deutschen Geschichtsforschung gearbeitet hat, dessen Geist ist zu rascher Fahrt nimmermehr zu gebrauchen, dessen Geistesflügel sind, ein- für allemal gelähmt. Ich bin für meine Preisarbeit höchlichst belobt worden und wovon handelte sie? Von einem obscuren Bischof, von dem wir eigentlich nur wissen, daß seine Thätigkeit so ziemlich unbekannt ist. Man hat in Deutschland ganz vergessen, daß es beim Studium der Geschichte nicht auf Thatsachen, sondern auf Ideen ankommt und daß ein ideenreicher Geist weder im Stande sein wird, sich die Kenntniß von allen zu Tage geförderten Thatsachen anzueignen, noch auch ihrer bedarf, denn er schafft aus dem Vollen heraus. Es mag ja Menschen geben, denen es genügt, in der Tretmühle thätig zu sein, aber ich gehöre nicht zu ihnen. In die Tretmühle gehört der Esel, aber nicht das Roß. Zum Gelehrten bin ich nicht geboren (das glaube ich; Hufschmied hätte er werden sollen), das erkenne ich immer mehr.«

»Du hast ganz Recht, lieber Heinz,« erwiderte Anna, »und ich verstehe Deine Abneigung gegen die Leute sehr wohl, welche Lichtbringer zu sein wähnen, wenn sie Kohlen herbeischaffen; aber einmal ist ihre Thätigkeit doch immerhin die Voraussetzung der Gasflamme, dann bist Du ja auch nicht gezwungen, Tagelöhner im Dienste der Wissenschaft zu bleiben. Eben Du, der Du so klar erkennst, worauf es ankommt, scheinst mir dazu berufen, eine neue Aera in der Wissenschaft zu begründen und aus all' den vereinzelten Forschungen die maßgebenden und menschlich allein interessanten Resultate zu ziehen.«

Anna's Einwand schien mir sehr vernünftig zu sein und ich war neugierig zu hören, was er erwidern würde.

»Nein, Anna,« versetzte er, »dazu bin ich nicht der Mann. Mir ist das Stillsitzen, das Stubenhocken bis zum Halse zuwider. Ich sähe am liebsten kein Buch mehr an. Mich verlangt nicht nach dem Umgange mit Menschen, bei Leibe nicht, die verwünschte Brut (so sagte er wörtlich) ist mir verhaßt; aber ich will in der freien Natur leben. Ich will nicht in Büchern lesen, daß andere Leute gelebt haben, ich will selbst leben. Ich will von keinem Bischofe mehr wissen und von keinem Herzoge, ich will die Vögel singen und die Rosse wiehern hören.«

So redete er und schien ganz aus Rand und Band zu sein. Ich weiß nicht, ob ich ihn bedauern soll, denn was er vom Lesen sagte, war mir sehr sympathisch, meine Sache ist's auch nicht, oder ob ich mich ärgern soll, daß er über die deutsche Wissenschaft so hochmüthig aburtheilt.

Den 8. Mai.

Ich habe heute viel über Eichenstamms Worte nachgedacht. Mich hält er wohl für einen Kindskopf, der eben nur weiß, daß zweimal zwei vier ist. Was er wohl sagen würde, wenn er wüßte, daß ich alle seine Worte euch, meinen stillen Blättern, anvertraut habe?

Den 10. Mai.

Anna härmt sich darüber, daß Eichenstamm mit seinem Fache nicht zufrieden ist. Als ich sie zu trösten suchte, erwiderte sie: »Er ist unglücklicher als ich.« Ob das wahr ist? Unglücklich sieht er freilich aus.

Seit Anna wieder kränkelt, muß ich die Wirthschaft führen. Das Gemüse kam heute leider halb roh auf den Tisch.

Den 15. Mai.

Heute sind es schon wieder acht Tage, daß er nicht hier gewesen ist. Was mag er doch so ganz allein machen?«

Den 16. Mai.

Wunderbar, daß er noch immer nicht gekommen ist. Wenn er wirklich unglücklich sein sollte, so müßte sich Anna allerdings mehr zusammen nehmen. Liebte ich ihn (ich hasse ihn aber natürlich), so würde ich ihm jetzt immer ein lustiges Gesicht zeigen.

Er war heute hier. Ach, wie liebe ich ihn!

Ob Eichenstamm wirklich so unglücklich ist, wie Anna glaubt?

Den 18. Mai.

Eichenstamm war endlich hier. Er schien mir sehr zerstreut und schweigsam. Die Beiden waren zur Eiche hinaufgegangen und kamen erst nach ein Paar Stunden zurück. Anna war wieder verweint.

Das Wetter ist jetzt köstlich, die Nächte sind wundervoll. Ich sitze immer bis tief in die Nacht hinein am offenen Fenster. Was die Sterne für einen köstlichen Glanz haben, wie die Lust mild und erquickend ist!

Eichenstamm hat wohl recht, wenn ihm davor graut, sein Leben unter Büchern zu verbringen. Die Natur, die Natur ist Alles. Was ist das schönste Gedicht gegen den einfachen Schlag der Nachtigallen?

Den 21. Mai.

Ich habe den Frühling noch nie so genossen, wie in diesem Jahre, und doch überkommt mich jetzt mitunter tiefe Traurigkeit. Was macht mich so traurig? Bin ich von Anna angesteckt?

Den 22. Mai.

Ob er seine Studien aufgeben will? Ja, aber was will er dann machen? Er ist doch nicht reich genug, um nur von seinem Vermögen zu leben.

Den 30. Mai.

Heute hatte ich zum ersten Male mit Anna ein längeres Gespräch über Eichenstamm. Ich nahm mir ein Herz und sprach frisch von der Leber weg. Ich sagte ihr, daß sie ihn viel zu sehr verwöhne und daß Vater und ich der Meinung wären, daß sie ihm damit einen schlechten Dienst erweise. Ich rieth ihr, ihm immer ein fröhliches Gesicht zu zeigen und ihm ruhig zu widersprechen, wenn er in seiner tyrannischen Weise etwas von ihr verlangt. Sie hörte mich aufmerksam an (wie sie denn überhaupt mich jetzt ganz als Erwachsene und als Freundin behandelt), aber als ich geendet hatte, sagte sie: »Ich danke Dir, Mariechen, für Deinen Rath; er ist gewiß gut gemeint und er ist vielleicht auch klug, aber befolgen kann ich und will ich ihn nicht. Ich will den Mann, den ich liebe, weder belügen, noch mit ihm kokettiren. Wie ich bin, so soll er mich kennen. Hört er dann auf, mich zu lieben, nun, ich weiß nicht, wie ich es ertragen soll; aber ich bin es ihm schuldig, daß ich mich zu nichts Unwürdigem hergebe.«

Ich war tief beschämt. »Liebe Anna,« sagte ich, »verzeih' mir meinen dummen, kindischen Rath.« Da brach sie in heftiges Weinen aus. »Warum weinst Du?« fragte ich unwillkürlich. Da schrie sie auf: »Weil Alles verloren ist,« und fing plötzlich an, laut zu lachen. Mir erstarrte das Herz. »Was ist Dir?« rief ich. »Um Gotteswillen, was ist Dir, Anna?« Ich dachte, sie wäre wahnsinnig geworden; aber das war, Gottlob, nicht der Fall. Sie hörte mit dem Lachen auf und weinte still vor sich hin. Nach einer Weile kleidete sie sich aus und legte sich zu Bett. Ich bin noch voll Schrecken.

Ich habe jetzt den Jammer gesehen!

Den 31. Mai.

Heute Morgen hatte ich den Muth, Anna zu fragen, ob sie nicht mehr verlobt seien. » Noch sind wir verlobt,« erwiderte sie. Ich fragte nicht weiter.

O, wie ich diesen Eichenstamm hasse!


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