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Zwei hochmütige Herzen.

Ein rechter Lehrer, ein Lehrer, an dem der Herrgott, die Schulobrigkeit und die Schüler ihre wahre Freude haben sollen, muß drei Dinge besitzen, nämlich gründliche Kenntnisse in seinem Fache, ein heiteres, fröhliches Herz und einen unbeugsamen Willen. Drei andere Dinge aber darf er nicht haben, nämlich; er darf kein Pedant sein, er darf keine Anlage zum Spaßmacher haben und er darf nicht jähzornig sein.

Von diesen Dingen besaß Herr Schreimeier, der am Gymnasium Oberlehrer der deutschen Sprache war, vier, nämlich: Gründliche Kenntnisse, unleidliche Pedanterie, große Anlage zum Spaßmachen und einen unbändigen Jähzorn. Kein Wunder, daß Herr Schreimeier, obgleich er sich alle Mühe gab, seinen Schülern gediegene Kenntnisse beizubringen und sich bei ihnen beliebt zu machen, doch nichts erreichte, als daß die Knaben seinen guten Willen nicht erkannten und seine Schwächen so ausnutzten, daß nicht zu begreifen war, wie Herr Schreimeier nicht schon längst vor Aerger und Verdruß vom Schlage gerührt worden war. Was Schülerbosheit irgend ersinnen konnte, dem kleinen, spindeldürren Männlein das Leben sauer zu machen, das geschah. Wenn die Schüler der unteren Klassen mit Taschen voll Maikäfern zum Gymnasium kamen und ihre Freude daran hatten, wenn bald nach Beginn der Stunde eine Wolke von diesen Thierchen über den Tischen schwebte, oder wenn sie in einem Handschuh eine lebende Maus in die Klasse brachten, sie daselbst losließen und dann unter entsetzlichem Geschrei todtschlugen, so war das doch lange nicht so schlimm, als die Scherze der oberen Klassen. In der Tertia wurde Herr Schreimeier wohl einmal, gleich wenn er in die Klasse trat, mit donnerndem Spektakel empfangen. Dann fuhr er wie rasend auf den Primus los, der sollte ihm sagen, wer getrampelt habe, und wenn dieser dann versicherte, er wisse es nicht, dann streifte Herr Schreimeier die Aermel seines Rockes auf, ballte die Händchen und schrie: »Hört auf, oder ich strecke Euch nieder, ich schlage Euch todt!« Natürlich wurde nun erst recht getrampelt und gelärmt. Dann lief das Männlein hinaus und klagte beim Inspector. Der kam und stellte die Ruhe für kurze Zeit wieder her. Wenn es aber auch Herrn Schreimeier gelang, einen Uebelthäter in flagranti zu erwischen, so half ihm das nicht viel, denn er war viel zu weichmüthig, den Burschen, der jetzt natürlich eben so laut weinte, wie er vorher übermüthig gelacht hatte, nun auch ernstlich zu strafen.

In der Secunda benahm man sich zwar etwas manierlicher, aber man benutzte auch hier die Stunden mitunter zu Uebungen im vierstimmigen Gesange, während die Primaner sich dadurch als gesetzte junge Leute erwiesen, daß sie in der Stunde Romane lasen, Karrikaturen zeichneten, ihre Namen in die Tische schnitten, oder sonst einer geräuschlosen Thätigkeit sich hingaben. Verlangte aber einmal der Geist auch dieser Jünglinge darnach, ihren Lehrer zum Gegenstande des Zeitvertreibes zu machen, so ließ man sich daran genügen, entsetzlich einfältige Fragen an ihn zu richten, etwa: »Ob er nicht wisse, wer die lettische Bibel in's Deutsche übersetzt habe,« oder dergleichen. Nun war der Herr Oberlehrer bei aller seiner Heftigkeit doch eigentlich ein sehr schüchternes Gemüth, und so geschah es denn, daß er in solchen Fällen meist nicht auf den Schuldigen, der in der Regel ein mehr oder weniger verwegener Geselle war, losfuhr, sondern auf den ersten, besten, gutmüthigen Jungen, der über den albernen Einfall gelacht hatte.

Heinz, der sich durch gute Aufsätze auszeichnete und die Mühe, die sich der Lehrer gab, anerkannte, außerdem aber durch seine allbekannte Heftigkeit und seinen Jähzorn vor ungerechtem Tadel hinreichend geschützt war, stand sich mit ihm vortrefflich, und das umsomehr, als Schreimeier ihn entschieden bevorzugte und seiner Eitelkeit bei jeder Gelegenheit schmeichelte. Trotzdem hatte Heinz in der letzten Zeit mit dem größten Mißfallen wahrgenommen, daß Herr Schreimeier sich Horace zum Sündenbock ausersehen hatte und bei jeder Gelegenheit auf ihn losfuhr. Da Heinz Schreimeier häufig gegen die Kameraden in Schutz genommen hatte und dieser selbst gelegentlich zu ihm sprach, wie zu seiner Stütze, so empfand Heinz ihm gegenüber das Gefühl eines Patrons gegen den Klienten, und sah mit Erstaunen und Unwillen, daß Schreimeier auf seine Freundschaft zu Horace keine Rücksicht zu nehmen schien.

Am Tage nach Heinzens Unterhaltung mit der Tante saß er, noch immer sehr aufgeregt, in der Klasse, in der Schreimeier gerade Schillers »Wallenstein« besprach. Schreimeier benutzte diese Gelegenheit dazu, seiner Neigung zu Späßen sich hinzugeben und Alles aufzubieten, seinen Schülern ein Lachen abzuzwingen. Er erzählte daher nicht nur, daß Wallenstein steif wie eine Elle gewesen sei, daß er einen Zickelbart getragen habe und den Hahnenschrei nicht habe leiden können, sondern er suchte auch den Geschilderten nachzuahmen, hielt die Nase so hoch er konnte, drehte mit seinen Fingern an seinem spärlichen Barte und krähte wie ein Hahn. Der Effect dieser Bemühungen war, daß die Leser ihre Romane weglegten, die Zeichner ihre Karrikaturen bei Seite schoben und die Holzschneider ihre Messer zuklappten. Die ganze Klasse sann darüber nach, wie sich der Spaß wohl noch vermehren ließe. Ein junger Edelmann mit einem Paar Schultern, wie sie Simson gehabt haben mag, und apfelrothen Wangen war zuerst damit fertig und fragte, indem er die Beine weit von sich streckte, ob es denn wahr sei, daß Wallenstein keinen Vater gehabt habe. Seine Tante Amalie habe es ihm als ganz gewiß erzählt.

Ein lautes Gelächter belohnte den frechen Spaß und es steigerte sich noch, als der Jüngling auf einige empörte Worte Schreimeiers kaltblütig bemerkte, daß er selbst zwar damals noch nicht gelebt habe und daher darüber nichts Gewisses aussagen könne, daß aber seine Tante Amalie eine sehr glaubwürdige Person sei, der man volles Vertrauen schenke dürfe.

Schreimeier, der mit dem robusten Jungen nichts anzufangen wußte, sah sich nach einem Blitzableiter für seinen Zorn um und fuhr endlich mit den Worten: »Worüber lachen Sie?« auf den lachenden Horace zu.

Horace machte sogleich ein ernstes Gesicht und schaute verlegen drein, was Herrn Schreimeiers Zorn noch steigerte.

»Ich frage Sie, wie Sie sich unterstehen können zu lachen?« schrie Schreimeier, feuerroth im Gesicht. »Antworten Sie auf der Stelle, worüber wagen Sie zu lachen? Ich, Ihr Lehrer, frage Sie, wie Sie sich erfrechen dürfen zu lachen, in meiner Stunde zu lachen?«

Horace, der überaus leicht eingeschüchtert war, schwieg auch jetzt noch, aber Heinz wallte bei dem Anblicke dieses ungerechten Angriffes das Blut hoch auf und er rief mit lauter Stimme:

»Ich habe auch gelacht!«

»Wir auch, wir auch,« tönte es, vermischt mit Gelächter, von allen Seiten.

»Schweigen Sie, Eichenstamm, ich spreche nicht mit Ihnen,« rief Schreimeier und wandte sich wieder an Horace.

»Wie unterstehen Sie sich zu lachen, Balteville? Wissen Sie, was Sie sind? Ein Knirps sind Sie! Wissen Sie, was für ein Knirps Sie sind? Sie sind ein unverschämter Knirps!«

Heinz sprang zornig auf. Daß Schreimeier ihn so kurz abfertigte, erschien ihm wie eine unerhörte Feigheit, die auf der Stelle gerügt werden mußte.

»Sie sind selbst ein unverschämter Knirps!« schrie er wüthend Schreimeiern zu.

Kaum war das heftige Wort ausgestoßen, so wurde es im Zimmer lautlos still. Alle blickten erst auf Heinz, dann auf Schreimeier. Ein paar Sekunden standen die Beiden sich so gegenüber, Heinz hoch aufgerichtet, mit purpurrothen Wangen, Schreimeier kreidebleich, dann stürzte Letzterer aus dem Zimmer. Nun wurde Alles wieder lebendig.

»Bravo, Eichenstamm, bravo!« Das war recht, Eichenstamm, recht so, Heinz!« tönte es von allen Seiten. »Du bist ein fixer Kerl! So etwas dürfen wir uns nicht gefallen lassen! Sei nur ruhig, wir stehen Einer für Alle und Alle für Einen!« so riefen die Stimmen durcheinander.

Heinz genoß einen vollen Triumph, der dadurch nicht vermindert wurde, daß Horace ängstlich flüsterte: »Um Gotteswillen, Heinz, was hast Du gethan!«

Da kam der Inspector. »Verlassen Sie sofort die Schule, Eichenstamm,« sagte er ernst.

Die Kameraden erhoben Einwendungen. »Seid jetzt ruhig,« sagte der Inspector, »die Sache soll sorgfältig untersucht werden, Eichenstamm aber muß sofort die Schule verlassen.«

Der Inspektor war ein verständiger, von den Schülern allgemein geachteter Mann; Alles schwieg. Heinz ergriff seine Bücher, verneigte sich vor dem Inspektor und verließ stolzen Schrittes das Zimmer. Horace wollte ihm folgen; er sagte sich, daß er ihm durchaus folgen müsse, aber er hatte nicht den Muth dazu und blieb sitzen. Er sah, daß Heinz sich in der Thür nach ihm umwandte, er wollte wieder aufspringen, ihm folgen, wie es ihm sein Herz gebot und wozu ihn die Blicke der Kameraden aufzufordern schienen, aber – er blieb doch sitzen.

Heinz trat sehr zufrieden mit sich aus der Schule. Daß beleidigter Hochmuth die Triebfeder seiner Handlungsweise gewesen, kam ihm nicht zum Bewußtsein; er genoß ganz und voll das schöne Gefühl, für einen Schwächeren eingetreten zu sein und dafür leiden zu müssen. Heinz Eichenstamm ist nicht der Mann dazu, ruhig anzusehen, daß Jemand Unrecht geschieht. Wo es sich um Recht oder Unrecht handelt, kennt Heinz Eichenstamm keine Rücksicht! Es freute ihn jetzt, daß Horace ihm nicht gefolgt war, wenn es ihn auch anfangs befremdet hatte. »Es ist schön, daß der Junge dablieb,« dachte er, »er ist solchen Auftritten nicht gewachsen, dazu muß man kräftigere Schultern haben als er, dazu muß man ein Mann sein, wie Heinz Eichenstamm.«

Das wirkliche Leben packte ihn kräftig an, das Träumen war fort, gehoben schritt er dahin. So lohnt es sich noch zu leben, im Kampf.

Er freute sich fast auf die Scene, die es mit dem Vater geben mußte.

Als er den Vater nicht zu Hause fand, setzte er sich an's Fenster und las kaltblütig in einem Buche, bis nach dem Schlusse der Schule die Freunde kamen und sich in Versprechungen erschöpften.

»Dir soll kein Haar gekrümmt werden, wir stehen Alle für Dich ein,« war der stete Refrain ihrer Reden, unbegrenzte Bewunderung ihr Inhalt. Horace war außer sich. Er geberdete sich verzweifelt, und Heinz hatte genug damit zu thun, ihn zu beruhigen. Horace schlug Heinz vor, mit ihm zu Schreimeier zu gehen und ihn um Verzeihung zu bitten. Er sei ja im Grunde gutmüthig, er würde gewiß verzeihen. Heinz schlug ihm die Bitte rundweg ab. »Zwischen ihm und mir giebt es keine Versöhnung,« rief er, »Einer von uns Beiden muß aus dem Gymnasium, er oder ich!« Die Kameraden stimmten ihm Alle bei. »Schreimeier muß fort,« schrieen sie, »wir lassen uns nicht ungestraft beleidigen.« Willi Schulze bedrohte Schreimeier mit dem Gouverneur, Karlchen Maier wies auf den Generalgouverneur hin. An Ausbrüchen des Hasses gegen Schreimeier überbot Einer den Andern.

Der Wagen des Doctors rollte endlich in den Thorweg und Heinz verabschiedete die Freunde. Er müsse doch mit dem Vater sprechen, sagte er.

Die Freunde sahen ihn prüfend an, keine Spur von Sorge zeigte sich in seinem Gesicht. Es war ein ganzer Kerl, dem sie beim Abschiede herzlich die Hand schüttelten.

Heinz ging festen Schrittes zum Vater. Dieser sah ihn verwundert eintreten. »Was giebt es?« fragte er.

»Ich bin aus dem Gymnasium ausgeschlossen worden,« sagte Heinz.

Er hätte eine mildere Form für seine Mittheilung wählen können, eigentlich war er auch noch gar nicht ausgeschlossen; aber so war es ihm gerade recht. Mit einem Sprunge muß man in die Gefahr!

Der Vater blickte ihn sprachlos an. »Wie? Ausgeschlossen?« fragte er stammelnd.

»Ja, ausgeschlossen!« war die kalte Antwort.

Der Doctor sprang wie ein Pfeil in die Höhe und faßte Heinz an die Brust. Er schlug aber nicht zu, der Sohn blickte ihn so eigenthümlich kalt an.

»Schlag' zu,« sagte Heinz kühl, »dazu gehört kein Muth, ich bin Dir gegenüber wehrlos.«

Die Worte, mehr noch der Ton, in dem sie gesprochen wurden, schnitten dem Doctor in's Herz. So weit war es gekommen, so sprach seiner Agnes Sohn zu ihm! Der Doctor ließ Heinz los und setzte sich auf den Stuhl an seinem Tische; er mußte erst mit dem Schmerze in seiner Brust fertig werden, ehe er wieder sprechen konnte. Hätte Heinz in das zuckende Herz seines Vaters blicken können, er hätte darin viel Liebe zum Sohne gesehen und er wäre auf ihn zugeeilt, hätte ihn umschlungen und ihn um Verzeihung gebeten; aber er sah nur sein wildbewegtes Gesicht und las daraus nur, daß der erwartete Schlag nun gleich erfolgen werde.

Hätte der Doctor in Heinzens Seele schauen können, so hätte auch er darin die Liebe zu dem ähnlich gearteten Vater gelesen, die trotz alledem nicht erloschen war; aber er sah nur das spöttische Gesicht des Sohnes und darum kämpfte er den Schmerz in sich mit gewohnter Kraft nieder. »Der Bube ist herzlos und kalt,« dachte er, »soll ich ihm zeigen, wie weh er mir gethan hat, damit er mich verspotte? Nur keine Scene!«

»Was denkst Du nun zu unternehmen?« fragte der Doctor in eisigem Tone.

»Ich werde, wenn Du erlaubst, zu Hause arbeiten und mich auf das Abgangsexamen vorbereiten,« war die Antwort. »Ich kann dabei, im Grunde genommen, nur gewinnen.«

»Ja wohl, ein Herzogthum in Pilten! Befiehlst Du auch Privatstunden?« fragte der Doctor höhnisch. Unterdrückter Zorn äußerte sich bei ihm immer durch Hohn.

»Wenn Du mir keine ertheilen lassen wirst, werde ich keine erhalten!«

»Sehr wahr, sehr logisch!«

»Ja, sehr wahr!«

Jetzt war der Sohn voll Zorn, der Vater scheinbar kalt. Dem Doctor war es so recht, so war es in der Ordnung. »Sei so klug wie Du willst, mein Junge, ich bin Dir doch um ein gut Stück überlegen,« dachte er mit Genugthuung.

»Darf ich vielleicht so frei sein, darnach zu fragen,« fuhr er fort und strich mit der Hand über seinen langen Bart, »aus welchem Grunde Du ausgeschlossen bist, oder würde Dir die Beantwortung dieser Frage lästig fallen?«

Heinz zittert am ganzen Leibe vor Aufregung. Diesen Ton kann er auf die Dauer nicht ertragen, dieser Kampfesweise ist er nicht gewachsen. Er blickt dem Vater starr in's Auge und kann darin nichts als Schadenfreude sehen. Er fühlt, wie die Abneigung gegen ihn sich wie ein eiserner Gürtel um sein Herz legt, sich fester und fester zieht.

»Horace wurde von dem Oberlehrer Schreimeier beleidigt,« sagte er mit bebender Stimme, »da trat ich für ihn ein.«

»Pah,« rief der Doctor, indem er nach einem Buche griff, »dachte ich's mir doch, daß der Komödiantensohn dahinter steckt.«

Heinz fühlte, wie ihn die ganze Heftigkeit seines Temperaments überkam. Das Blut drängte sich ihm gegen die Hirnschale, in den Ohren sauste es und vor seinen Augen blitzten tausend Funken. Er wandte sich langsam um und schwankte zur Thür hinaus. Der Doctor sah ihn schwanken und machte eine Bewegung, als ob er aufspringen wollte; aber als er sah, daß Heinz gehen konnte, blieb er sitzen und lauschte nur gespannt auf Heinzens sich entfernende Schritte. Dann schlug er die Hände vor's Gesicht und suchte in hartem Kampfe den Sturm der Gefühle in seiner Brust niederzuhalten.

»O Heinrich Eichenstamm, Heinrich Eichenstamm,« rief es da in wildem Weh, »hast Du darum Dein Leben so einsam verbracht, so ruhelos gearbeitet, so rastlos gespart, daß Dir nun Dein einziges Kind gegenübersteht, wie Du einst Deinem Vater? Hast Du darum nach Ansehen, Geld und Macht getrachtet, damit Dein Sohn in's Leben trete, arm und bloß, wie Du einst? Hast Du deshalb gegen das eigene Herz, gegen den Willen Deiner angebeteten Agnes an Heinz die Ruthe nicht geschont, jede Zärtlichkeit unterdrückt, daß er doch so rauh und wild, so hochmüthig und ungefügig werde, wie Du einst? O Agnes,« stöhnte der einsame Mann, »o kehre zurück in dies trübe Leben. Du warst ja immer selbstlos, Dich wird das nicht schrecken! O kehre zurück zu mir, tritt wieder zwischen mich und ihn, schilt wieder uns Beide, versöhne uns Beide wieder! Du bist ja jetzt bei dem Allmächtigen, flehe ihn an, laß ihn nicht, bis er Dich erhört und das Herz des Knaben erweicht. Ich will ja ertragen, daß mich der Sohn straft für das, was ich als Sohn gesündigt; aber erspare Deinem Kinde, meine Wege zu wandeln. Bewahre ihn Gott davor, gleich mir, wohin er auch blicke in seiner Umgebung, in allen Mienen nur kalte Achtung, schlecht verdeckte Abneigung zu sehen. O Agnes, es ist ja Dein Kind, Du kannst es nicht dulden, daß es einst so einsam werde wie ich, so verlassen wie ich, so freunde-, so freudlos wie ich!«

So stöhnte Heinrich Eichenstamm und rang verzweifelnd die Hände. Er glaubte demüthig und zerschlagen zu sein – und war doch noch so hochmüthig. Noch härterer Schläge bedurfte es, ihm den harten Sinn zu brechen, und sie sollten nicht ausbleiben.

Während der Doctor so mit sich rang, lag der Sohn oben auf seinem Bette und weinte bitterlich. Er wünschte sich in seinem tiefen Schmerze den Tod. Wie der Doctor sich einsam und verlassen fühlte von aller Welt, so dünkte auch dem Sohne die Welt eine Einöde. Wie der Vater die Hände und das Herz flehend erhob zu dem einzigen Wesen, das er je geliebt und das ihm der bittere Tod genommen, so rief auch der Sohn die Mutter herbei, daß sie ihn tröste in dem trüben Leben.

»O Mutter,« rief er, »warum verließest Du mich? Warum ließest Du mich einsam in dieser Welt, wo Niemand mich liebt, ich Niemanden liebe? Wo mein eigener Vater nichts für mich hat als höhnische Worte und böse Schadenfreude! Habe ich je Anderes von ihm empfangen, als harte Rede, Schläge, Spott und Hohn? Was habe ich gethan, o Mutter, Du mußt es ja wissen, was habe ich gethan, daß er mich gehaßt hat seit meiner Geburt? Ich bin doch Dein Kind, Dich liebte er doch, soweit sein hartes Herz lieben kann; was ist's, das ihn gegen mich einnimmt, daß auch nicht ein Funke von Liebe zu mir in ihm lebt? O Mutter, hilf, gieb ihm, daß, wenn er mich nicht lieben kann, er doch wenigstens den Hohn läßt, den unleidlichen Hohn!«

So weinte Heinz Eichenstamm und schlug sich verzweifelnd die Brust und glaubte sehr demüthig und zerschlagen zu sein – und war doch so hochmüthig! Noch härterer Schläge bedurfte es, ihm den harten Sinn zu brechen, und sie sollten nicht ausbleiben.

Dort unten faßte sich der Vater. »Ich will meine Sache auf Gott stellen,« sagte er. »Ist es sein Wille, daß meinem Sohne nichts erspart werden soll von der Bitterkeit des Lebens, so wird es geschehen. Ich will nicht länger eingreifen in sein Geschick, mag er seinen eigenen Weg gehen.«

Weinthal rief heute seine Herren vergeblich zu Tisch, sie blieben beide in ihren Zimmern. Erst am Abend trat der Doctor beim Sohne ein. Er sah kalt und hochmüthig aus, wie gewöhnlich; auch Heinzens Augen sah man es nicht mehr an, wie geröthet vom Weinen sie gewesen waren.

»Du mußt Privatstunden nehmen, Heinz,« sagte der Doctor, indem er sich setzte, gleichgültig; »allein zu arbeiten, bringt man in Deinen Jahren noch nicht fertig.«

»Wird Dir das nicht eine große Ausgabe sein?« fragte Heinz höflich.

»Nun, daran läßt sich jedenfalls nichts ändern. Sprich also mit den Lehrern und triff Deine Dispositionen. Du bist dann wohl so gut, mich wissen zu lassen, was Du beschlossen hast.«

Der Doctor erhob sich, nickte Heinz mit dem Kopfe zu und verließ das Zimmer. Heinz hatte ihm danken wollen, aber ihm versagte die Zunge.

Bald nachdem der Doctor fortgegangen war, kam Weinthal herein. Er that so, als ob er nur käme, um die Lichte hinein zu bringen, in Wahrheit kam er aber, um sich von Heinz ein Licht darüber aufstecken zu lassen, warum der Doctor und Heinz nicht zu Mittag gegessen. Sein Zartgefühl hatte ihm verboten, sich Heinz zu nähern, so lange dieser noch aufgeregt war; aber nun, da er ihn beruhigt sah, machte er sein Recht als der alte Vertraute geltend. Außerdem empfand er mit Heinz, der seiner Meinung nach vom ärgsten Hunger geplagt werden mußte, das tiefste Mitleid.

»Werden Jungherrchen nicht ein Bißchen einbeißen?« fragte er. »Jungherrchen haben den ganzen Tag nichts gegessen.«

»Ich danke, Weinthal, ich bin nicht hungrig.«

Weinthal erschrak. Da mußte doch etwas Ernsteres zu Grunde liegen, als eine bloße Eichenstamm'sche Familienerörterung, wie er bisher geglaubt hatte.

»Was ist denn geschehen, Jungherrchen?« fragte er.

Heinz erzählte ihm nun sein Erlebniß und Weinthal schüttelte nachdenklich den Kopf. Endlich sagte er:

»Wenn Soeiner Jungherrchen seinen Freund einen ausverschämten Knirps nennen thut, so muß Jungherrchen Soeinen auch einen ausverschämten Knirps heißen thun! Das ist ganz in der Ordnung, denn dazu ist Einer ein Freund! Daß man aber den gnädigen Herrn sein Jungherrchen deshalb aus der Schule fortschicken thut, wird sich der gnädige Herr gewiß nicht gefallen lassen thun. Dazu kenne ich ihm zu gut. Er wird es die Schreirackers schon zeigen!«

Durch diesen Gedanken völlig beruhigt, verließ Weinthal seinen Liebling.


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