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Sechszehn Jahre zählte Heinz, als der Aufenthalt im Pastorate sein lange und heiß ersehntes Ende erreichte und er nun nach Hause sollte, um dort in die Secunda des Gymnasiums einzutreten. Er war mittlerweile ein großer, breitschultriger Bursche geworden und das Auge eines Malers oder Bildhauers hätte mit Wohlgefallen auf ihm geruht, denn nicht nur die Eichenstamm'sche Stirn und Nase, sowie der Mund mit den festgeschlossenen Lippen, sondern auch die dichten, hellbraunen Locken, schöne, tiefe Augen und ein kühn und scharf geschnittenes Profil machten ihn zu einer ungemein anziehenden Erscheinung.
An einem schönen Augustabende, dem letzten, den er im Pastorate verbrachte, ging Heinz mit den Vettern, die ja nun auch in die Stadt sollten, noch einmal durch die Felder, nahm Abschied von den Knechten, die eben die letzten Wagen beluden, glättete noch einmal die großen, bunten Kühe, und wechselte herzliche Scheideworte mit der Hofmutter und ihrem Manne, einem alten, verwachsenen Taugenichts, der aber nach Art der Taugenichtse im persönlichen Verkehre sehr liebenswürdig war, und eine ungewöhnliche Geschicklichkeit im Anfertigen von Vogelschlingen und Aufstellen von Iltisfallen besaß. Dann ging es noch einmal hinab an den Fluß. Ein Abschiedsbad wurde genommen und erst mit sinkender Sonne in's Haus zurückgekehrt. Den jungen Herzen war doch ganz eigenthümlich weich zu Muthe, und die Thränen waren ihnen näher, als sie selbst glauben mochten. Sie hatten eigentlich wenig Liebes in diesem Hause erfahren und hingen auch, wenigstens Heinz, durchaus nicht an seinen Bewohnern, und doch wurde ihnen der Abschied gewaltig schwer. Der Abschied von Garten und Wiese, von Feld und Wald, vor allem vom Flusse. Sie ahnten, daß es vielleicht lange währen würde, bis sie wieder ganz auf dem Lande würden leben können, ganz in und mit der Natur, und sie ahnten, wie sehr sie das vermissen würden. Auf der andern Seite freuten sie sich trotzdem auf die Schulzeit. Heinz schlich sich noch spät Abends allein hinab in den dunklen Garten, setzte sich dort auf eine Bank und überließ sich dann ganz jenen unbestimmten, wunderbaren, halb schmerzlichen, halb freudigen Gefühlen, die begabten Naturen in diesem Alter eigenthümlich sind. Er dachte an das Vaterhaus, das ihn nun wieder in seinen Mauern aufnehmen sollte, und in dem, wie er wußte, alles unverändert geblieben war; er dachte mit warmer Liebe an Weinthal, und freute sich auf sein künftiges Zusammenleben mit ihm, er dachte an seine todte Mutter. Er nahm sich vor, sehr gut und sehr berühmt zu werden. Er wollte einmal der Stolz seines Heimathlandes sein. Er betrachtete das wie eine Art Monument, das er seiner Mutter errichten wollte. Wenn er berühmt geworden und die Leute ihn mit Staunen und Ehrfurcht betrachteten, dann wollte er ihnen mit Stolz sagen: »Ich wurde so, weil ich eine solche Mutter hatte!« Er dachte auch an Lelia. Die mußte ein großes Mädchen geworden sein in der langen Zeit, in der er sie nicht gesehen. Er wollte auch um Lelia's willen sehr gut und sehr berühmt werden. Auch sie sollte auf ihn stolz sein dürfen, sein müssen. Die Beiden gehörten einmal unzertrennlich zusammen, seine Mutter und Lelia. Die Beiden und die Dienstboten im väterlichen Hause waren bisher die einzigen Menschen gewesen, die er wirklich lieb hatte, an denen sein Herz hing.
Am andern Tage fuhr der große Stuhlwagen vor, und die ganze Familie begab sich in die Stadt. Der Morgen war hell und klar, die Pferde griffen scharf aus, man fuhr in die weite, weite Welt hinein und war voll Waglust und Uebermuth, und Onkel und Tante drückten die Augen zu bei allerlei ausgelassenen Streichen und Reden. Man sang Studentenlieder, band mit den Bauern an, die auf den Feldern am Wege die Ernte besorgten, sprang aus dem Wagen, lief eine Strecke neben ihm her, wie um die rasende eigene Lebhaftigkeit los zu werden, und kletterte dann wieder hinein. Dann rasselte der Wagen über das schlechte Pflaster der Stadt und hielt endlich vor dem Hause des Doctors, wo Heinz abgesetzt wurde, während die Uebrigen zu Conrad Eichenstamm fuhren, in dessen Hause die Vettern bleiben sollten.
»Jungherrchen, mein Jungherrchen!« rief Weinthal und umarmte Heinz aber und abermals: »Jungherrchen, unser Jungherrchen!« jubelte auch Annettchen und Emma, welche letztere übrigens, obgleich sie mittlerweile nicht jünger geworden war, über den Kuß, den ihr Heinz gab, sehr verschämt that.
Selbst der Kutscher, obgleich er sonst kein Freund von Scenen war, kam eilig herbei, küßte Heinz die Hand und brummte dazu verhältnißmäßig laut. Er war eine verschlossene Natur und gestattete eigentlich nur seinen Pferden einen Einblick in sein Gemüthsleben, daher begab er sich denn auch jetzt gleich wieder in den Stall. Dort aber faßte er die große Fuchsstute mit beiden Händen um's Maul, küßte sie und sagte zärtlich: »Fuchschen, mein Luderchen, weißt Du auch, daß der Jungherrchen wieder zurück ist?«
»Wie der Jungherr groß geworden ist!« sagte Emma dort im Thorwege, wo die drei Heinz umstanden und ihn mit leuchtenden Augen musterten.
»I, wo wird denn mein Jungherrchen nicht groß geworden sein!« meinte Weinthal und betrachtete ihn mit Stolz.
»Und hübsch!« rief Annettchen und brach in ein überlautes Gelächter aus, in das die zwei Andern mit einstimmten.
»I, wie wird denn mein Jungherrchen nicht hübsch geworden sein!« – keuchte endlich Weinthal.
»Jungherrchen kann schon heirathen!« meinte Annettchen.
»Nein, Annettchen,« ruft Heinz. »Sie und Emma sind älter als ich, Sie müssen mir mit gutem Beispiele vorangehen.«
Neues, schallendes Gelächter. Jungherrchen ist offenbar als ein sehr witziger Mensch in's Vaterhaus zurückgekehrt. Die Küche ist mit Jungherrchen sehr zufrieden und bekräftigt nur noch den ohnehin längst gefaßten Entschluß, für Jungherrchen durch Feuer und Wasser zu gehen.
Nun kam auch der Doctor in den Thorweg, um den Sohn zu begrüßen. Er hatte sich vorgenommen, es in recht herzlicher Weise zu thun, aber er hatte Herzlichkeit so lange nicht geübt, daß er sie nicht mehr zeigen konnte, und so fiel denn wider seinen Willen der Empfang frostig genug aus. Dazu verstimmte der Umstand, daß mit des Doctors Erscheinen die Leute sich sogleich scheu zurückzogen, Vater und Sohn.
»Komm herein, Heinz!« sagte der Doctor. Er wollte das wieder recht freundlich sagen, aber diese Absicht war vielleicht der Grund, daß seine Worte so herrisch klangen wie sonst, wenn er Heinz in sein Zimmer rief, um ihn hart zu züchtigen.
Heinz folgte dem Vater schweigend in dessen Schreibzimmer. »Setze Dich, mein Sohn,« sagte der Doctor und nahm selbst Platz. Heinz setzte sich dem Vater gegenüber und sah ihm schweigend in das kalte, finstere Gesicht. Beiden war dieses vis-à-vis gleich peinlich.
»Du bist nun ein großer Mensch geworden, Heinz!« unterbrach der Doctor das Schweigen.
Heinz hörte die Worte wohl, aber ohne ihren Sinn zu verstehen. Er dachte daran, wie unendlich hochmüthig der Mann da aussah.
»Ich erlaube mir, mit Dir zu sprechen,« sagte der Doctor laut und verneigte sich mit höhnischem Gesicht.
»Ich höre!« war die Antwort.
Der Doctor merkte, daß sie gleich im ersten Augenblicke ihres Zusammenlebens im Begriffe standen, sich dasselbe gründlich und für lange Zeit zu verderben und brach daher ab.
»Ich will Dir nur,« sagte er in ganz geschäftsmäßigem Tone, »sagen, was Du künftig von mir zu erwarten hast, und was ich meinerseits von Dir zu erwarten mich für berechtigt halte. Du wirst zur Bestreitung Deiner Ausgaben, für Kleidung, Vergnügungen u. s. w. jährlich von mir 150 Rubel erhalten. Wie Du damit auskommst, wie Du Deine Ausgaben eintheilst, ist Deine Sache, darüber hinaus erhältst Du keinen Kopeken von mir. Du wirst ferner in Bezug auf Dein Kommen und Gehen völlig ungehindert sein, denn ich wünsche Dich früh selbstständig zu sehen. Ich stelle nur zwei Bedingungen: Erstens, daß Du keine Schulden machst, und zweitens, daß Du von 11 Uhr Abends an zu Hause bist. Hast Du vielleicht noch irgend einen Wunsch?«
»Nein!«
»Nun gut, dann wissen wir also vorläufig, was wir von einander zu erwarten haben und können unsern Geschäften nachgehen. Du wirst es einmal leichter haben als ich, denn Du wirst auf meinen Schultern stehen, Du wirst dort fortfahren, wo ich aufhörte. Wenn Du nur die Augen stets offen und auf den Weg gerichtet hältst, so wirst Du einmal viel können und ein wichtiger Mann werden. Nimm nun noch zu guter Letzt ein paar Rathschläge mit in's Leben, die der ältere Mann Dir ertheilt: Vergiß nie, daß Du ein Eichenstamm bist, und Du wirst stets muthig, zurückhaltend und nobel sein; vergiß nie, daß es nur einen Weg zum Herrschen giebt, und daß der nur, wenn man einen Geldbeutel in jeder Hand trägt, durchmessen werden kann, und Du wirst lernen sparsam sein; vergiß ferner nie, daß neben dem Gelde nur noch das Wissen uns zu Macht gelangen lassen kann, und Du wirst fleißig sein. Verlaß Dich nie auf der Menschen Liebe, denn sie ist ein zerbrechlich Rohr, gieb nichts auf ihre Achtung, denn sie kommt und sie geht wie ein Wechselfieber. Bist Du einmal reich, – wird man Dich achten und lieben, bist Du arm, – so werden Dich selbst die Hunde vor den Thüren beißen und die zweibeinigen Gesellen werden es ihnen nachthun nach Kräften. Beachte die Menschen nicht und zeige ihnen das bei jeder Gelegenheit, das ist der beste Weg, ihre sogenannte Achtung zu erlangen. Behalte stets im Auge, daß jeder Mensch nur einen wahren Freund hat: sich selbst. Verlasse Dich nie auf einen Andern, baue stets nur auf die eigene Kraft. Bändige Deinen Jähzorn, denn er ist ein schlimmer Feind unserer Familie. Nur wer mit kaltem Blute spielt, gewinnt, nur wessen Auge ungetrübt ist, thut keinen Fehltritt! – So, und nun auf Wiedersehen bei Tische. Ich hoffe, Du bist dann Secundaner!«
Der Doctor stand auf und Heinz verließ das Zimmer. Das war ein Empfang gewesen, wie er ihn eigentlich immer erwartet hatte, und doch fühlte er sich durch ihn in tiefster Seele verletzt. Er war von Natur edler geartet, als der Vater, und er war jung, – kein Wunder, daß die erhaltenen Rathschläge keinen Anklang bei ihm fanden. Herrschen wollte auch er, aber er hatte dabei ein anderes Gebiet im Sinne, als sein Vater. »Was kannst Du mir bieten,« dachte er und lächelte verächtlich. »Wollte ich Deine Wege wandeln, ich brächte es vielleicht zum Geheimrath, vielleicht zum Minister. Pah! Was will das sagen! Ich käme dann einmal durch alle Arbeit so weit, wie mancher Hans Narr von vornehmer Geburt ohne alle Anstrengung, und nach einer Reihe von Jahren wäre ich vergessen. – Ich strebe nach höherem Ziele. Ich will ein Leben, meinetwegen in einer Dachstube verbracht, eintauschen gegen unsterblichen Ruhm. Der Name Eichenstamm soll leben, so lange es Menschen giebt, die das Gute und Edle lieben, dankbar soll er einst genannt werden durch Hunderte von Generationen. Was gälte mir alle Macht, aller Reichthum, wenn ich mir sagen müßte, daß mein Name einst erlöschen werde im Gedächtniß der Menschen! Wie dürfte ich sterben, ohne daß man wüßte von meiner Mutter, von Lelia, von mir!« – Diese Gedanken, die Heinz bewegten, während er dem Gymnasium zuschritt, waren ein zweischneidig Ding; es waren Gedanken, wie sie aufsteigen in dem Kopfe großer Menschen, aber erst das Leben zeigt, ob sie zum Guten führen, oder zum Bösen, ob aus dem ehrgeizigen Knaben ein großer Mann wird, oder ein Bösewicht!
In der Vorhalle des Gymnasiums wurde er sogleich aus der fernen Zukunft in die Gegenwart zurückgerufen, denn kaum hatte er sie betreten, als er sich auch schon von einem Gymnasiasten auf's Heftigste umarmt und vielmals geküßt fühlte.
»Wahrhaftig, da bist Du, Heinz!« rief der Jüngling, ein untersetzter, stämmiger Bursche, mit einem so gutmüthigen, breiten Gesichte, einer so regelrechten Stutznase und so rasch blinzelnden Aeuglein, wie sie eben nur Karlchen Maier haben konnte. »O, Heinz, in der That, ich bin überaus erfreut, Dich zu sehen! In der That, sehr, sehr erfreut! O ja! O! Mein lieber Heinz! Dein Vater sagte mir, Du wärest nun wieder in der Stadt und kämest zu uns. O ja, in der That, das ist herrlich! Natürlich!«
Heinz freute sich auch, den treuen, braven Burschen wieder zu sehen, er freute sich auch, als bald darauf Willi Schulz, Robert Steinheil und mehrere Andere auf ihn zukamen und ihn herzlich begrüßten. Er hatte sie so lange nicht gesehen; trotzdem erkannte er die Meisten von ihnen!
»Wie Du groß geworden bist!« sagte Robert Steinheil. »O, das ist herrlich,« erwiderte Karlchen Maier, »das ist sehr gut, in der That! Als ob Heinz nicht immer der Größte von uns gewesen wäre! O, ich entsinne mich ganz genau. O ja, ich habe ein sehr gutes Gedächtniß!«
»Wie Du neulich bewiesen hast, da Du glaubtest, Eumäios sei der Vater des Odysseus gewesen,« warf Willi Schulz sarkastisch ein.
»O, ich bitte Dich! Man kann sich doch versprechen! Nicht wahr, Heinz, man kann es? Laßt Heinz sagen, ob man sich versprechen kann! Bitte, Heinz, sag' es ihnen!«
»Gewiß kann man sich versprechen,« meinte Heinz; »wenn Ihr Euch davon überzeugen wollt, braucht Ihr ja nur in die Kirche zu gehen und die Aufgebote anzuhören.«
Seine Zuhörer brachen in ein schallendes Gelächter aus, und Karlchen Maier speciell krümmte sich vor Lachen wie ein Regenwurm im Sommerregen. »O, das ist herrlich! Charmant! Ganz der alte Witz! Ein Calembourg in der That, ein richtiger Calembourg. O, Ihr werdet sehen, Ihr werdet noch Wunder an ihm erleben! Ich kenne ihn! Er ist eine galvanische Batterie! O ja!«
»Komm Heinz,« sagte endlich Robert Steinheil, »Du mußt in die Klasse gehen, die Examina werden gleich beginnen. Wie ist Dir zu Muthe? Ist Dir nicht etwas eklig zu Muthe?«
»O, Du kennst ihn nicht so wie ich,« antwortete Karlchen Maier für Heinz. »Wie soll ihm eklig zu Muthe sein? Ich bin überzeugt, er könnte mit Leichtigkeit das Examen für Prima machen, wenn das erlaubt wäre. Nicht wahr, Heinz, für Prima?«
Heinz war wirklich etwas »eklig« zu Muthe, aber Karlchen Maier's Zuversicht richtete ihn nicht wenig auf. Nichts giebt mehr Muth, als wenn unsere Umgebung uns für muthig hält.
»Ich denke, es wird gehen,« sagte er zuversichtlich.
»O, das ist herrlich! Das ist köstlich!« rief Karlchen Maier. »Er kann mit Leichtigkeit für Prima das Examen machen, und sagt, erdenke, es wird für Secunda gehen!«
Karlchen Maiers Zuversicht wirkt nicht nur auf Heinz, auch Robert und Willi fangen an, Heinz für sehr gelehrt zu halten.
Heinz wurde nun in eine Klasse geführt, in welcher die Secundacandidaten des großen Augenblickes harrten, da sich ihnen die Thore des Gymnasiums öffnen und sie ihr schlichtes Gewand mit der Gymnasiastenuniform vertauschen sollten. Die Knaben aus den städtischen Privatschulen schauten keck und wagelustig drein; die, welche vom Lande kamen, sahen meist verlegen vor sich hin. Heinz bemerkte auch Horace unter den letzteren und setzte sich neben ihn.
»Wie geht es, Balteville?« fragte er.
»Ich danke,« erwiderte Horace, sich verneigend, »ich fürchte mich nur vor dem Lateinischen. Wenn Sie mir vielleicht darin behülflich sein könnten, so würden Sie mich sehr verbinden. Auch in der Geschichte ist mein Wissen nicht ohne Lücken, und in der Mathematik bin ich vielleicht nicht so ganz zu Hause, wie Monsieur Bertrand zu glauben die Güte hat. In der Geographie ist mir mein schlechtes Gedächtniß ungemein hinderlich und in der deutschen Grammatik bin ich leider nur sehr oberflächlich bewandert. Sie kennen solche Besorgnisse wohl nicht? Ich vermuthe, Sie sind sehr kenntnißreich. Man hat mich versichert, daß Sie bereits den Horaz gelesen und sich mit der sphärischen Trigonometrie beschäftigt haben. Ist dem so, wenn ich fragen darf? Aber vielleicht fallen Ihnen meine Fragen lästig! Bitte, dann beantworten Sie sie doch ja nicht!«
Heinz sah sich das zierliche, höfliche Männchen neben sich schmunzelnd an. Sein Muth wuchs immer mehr. Er fing jetzt an, sich selbst sehr kenntnißreich vorzukommen und erwiderte mit einer Protectormiene:
»Ich bin gern bereit, Ihnen, wenn es irgend geht, zu helfen. Bei wem sind Sie hier in Pension?«
»O, bei Niemand. Mama würde sich, glaube ich, nicht dazu entschließen, mich in eine Pension zu geben, und dann ginge das doch auch Monsieur Bertrand's wegen nicht an. Monsieur Bertrand liebt das Familienleben sehr und würde es, glaube ich, nicht entbehren können. Darum ist Mama jetzt ganz zur Stadt gezogen!«
»Herr Bertrand ist Ihr Lehrer?« fragte Heinz. » Oui, certainement. Ja! Ach, und wir lieben ihn so sehr, Madeleine und ich! Er ist so amüsant und gut, und so nobel!«
Horacens Augen leuchteten, als er so von Herrn Bertrand sprach. Es that ihm offenbar sehr wohl, der Bewunderung, die sein Herz erfüllte, einmal gegen einen Fremden Ausdruck verleihen zu können.
Das Examen begann nun und Heinz hatte viel Glück. Auch Horace gelang es, dasselbe, wenn auch nur herzlich schlecht, schließlich doch zu bestehen. Die Vettern kamen ebenfalls durch, und der Jubel darüber war groß. Ueber dieser Prüfung hatte überhaupt ein glückliches Geschick gewaltet: die große Mehrzahl hatte das Examen bestanden.
Alles eilte nun hinaus in den Vorsaal, in dem Heinz erst von dem Pastor und dem Onkel Conrad, dann von den Schulkameraden beglückwünscht wurde.
»Jetzt mußt Du das ›Verderben‹ kennen lernen,« sagte Robert Steinheil, und faßte Heinzens Arm. »Jungen,« wandte er sich an die Andern, »ich setze fünf Flaschen Bier.«
»O, herrlich, charmant, ich setze zehn Flaschen,« rief Karlchen Maier. »Wahrhaftig, wenn es nöthig ist, auch mehr. Ich freue mich ungeheuer, daß Heinz wieder hier ist. O, in der That, ich freue mich riesig! Natürlich!«
Heinz, den es trieb, einen anderen Ort aufzusuchen, machte sich nur mit Mühe und unter dem Vorwande, das erste Mittagsessen im elterlichen Hause doch nicht gut versäumen zu können, von den Kameraden los, indem er ihnen versprach, am nächsten Tage gewiß das »Verderben« (so hatte der Schulwitz eine Kneipe, in der sich die Gymnasiasten gelegentlich einmal einzufinden pflegten, benannt) zu besuchen, und dann recht lustig zu sein.
Heinz ging zunächst zu Tante Agathe, aber wenn er sich sagte, daß er doch verpflichtet sei, sogleich die alte Freundin aufzusuchen, so verschwieg er sich, daß es ihn noch aus einem anderen Grunde zu deren Wohnung zog. Lag sie doch, wie wir gesehen haben, dicht neben dem Kanal, und der war ja für einen erwachsenen Menschen leicht zu überschreiten. Tante Agathe erkannte, obgleich sie mittlerweile sehr alt, und in vieler Beziehung schon recht kindisch geworden war, Heinz doch gleich bei seinem Eintritte und hieß ihn mit Jubel willkommen. Immer und immer wieder küßte und herzte sie ihn, streichelte ihn mit ihren feinen, in roth ausgenähten, grauen Theehandschuhen steckenden Händen und betrachtete ihn wohlgefällig vom Kopfe bis zu den Füßen. »Ja, ja!« rief sie ein über das andere Mal, »ganz der Oberrath, ganz der Oberrath! Ich habe mir immer gedacht, daß meiner Agnes Sohn einmal das Buch schreiben wird, das Sr. Durchlaucht zu seinem Rechte verhelfen muß! Und jetzt stehst Du so vor mir! Freilich! Gedacht habe ich mir das längst. Nun, jetzt gleich wirst Du natürlich das Buch nicht schreiben, das weiß ich wohl, aber Du wirst es jedenfalls einmal thun, und das ist die Hauptsache.«
Heinz mußte ihr nun vom Examen erzählen, und sie that ganz vernünftige Fragen und Bemerkungen. Unter die ersten rechnete Heinz auch die Frage, ob er schon bei Rechbergs gewesen sei, und unter die letzteren den Rath, doch gleich zu ihnen zu gehen. »Ich weiß, Dein Vater kann die Leute nicht leiden,« fügte die alte Dame hinzu, »und von seinem Standpunkte aus hat er Recht. Eichenstamms sind sie freilich nicht, aber doch sonst ganz liebe Menschen, und die Lelia ist wirklich ein herziges Kind, wenn sie auch leider mehr ihrem Vater gleicht als ihrer Mutter. Trotzdem weiß sie, was man einer alten Tante schuldig ist. Geh' hinüber, Heinz, geh' hinüber. Der da drüben ist doch immerhin Dein Onkel, und da er nun einmal zur Familie gehört, so muß er auch als Familienglied behandelt werden! Wenn Dir die Lelia zu weichlich vorkommt, so kannst Du sie ja, wenn Du sie geheirathet hast, abhärten. Das wird sich dann schon finden. Die Frauen nehmen immer viel von ihren Männern an, und da sie doch einmal schon Deine Cousine ist und Ihr gleichsam zusammen aufgewachsen seid, so werdet Ihr doch wohl ein Paar werden. Du mußt sie aber anfangs etwas weich anfassen und darfst nicht vergessen, daß sie nur eine halbe Eichenstamm ist. Vergiß das nicht, Heinz!«
Als Heinz die Tante verließ, mußte er über das seltsame Gemisch von Thorheit und Verstand in ihren Worten staunen. Er war überhaupt voll der verschiedensten Eindrücke, die alle dahin wirkten, seinem Hochmuthe neue Nahrung zuzuführen. Daß der Vater ihn so selbstständig stellte und ihn wie einen Erwachsenen behandelte; daß Karlchen Maier voraussetzte, es liege nur an Heinzens Willen, wenn er sich nicht für Prima examiniren ließe; daß Tante Agathe endlich über seine künftige Ehe mit Lelia mit ihm sprach, als sollte sie noch heute geschlossen werden, das Alles erschien ihm ganz in der Ordnung. Jemand, der eben sein Examen für die Secunda des Gymnasiums so vortrefflich bestanden hat, ist kein Knabe mehr. Er ist ein junger Mann, mit dem man verständig über seine Zukunft spricht.
Heinz ging an den Kanal. Der floß noch immer so träge zwischen den Gärten und Höfen hin, wie damals, als Heinz ihn zum letztenmale gesehen hatte, und auch in dem Garten da drüben sah noch alles aus wie vordem. Er balancirte jetzt leicht über die Querstangen und dachte freudig daran, daß er das jetzt offen und furchtlos thun dürfe. Ein »Erwachsener« darf ja eben Alles. Als Heinz auf den Hof gelangt war, fielen ihn ein Paar große Neufundländer so heftig an, daß er sich ihrer kaum erwehren konnte. Das waren offenbar Kinder der alten Korah. Er erkannte das an dem weißen Streifen, der über ihre Stirn lief. Das Gebell der Hunde rief den alten Großvater herbei. Er erkannte Heinz sogleich und umarmte ihn herzlich.
»Mein lieber Heinz,« sagte er, »wie Du groß geworden bist, und wie Du Deinem Vater gleichst! Nur die Augen hast Du von der Mutter. Sei mir herzlich willkommen. Ich hoffe, Du hast auch Deiner Mutter weiches Herz und ihre Güte geerbt!«
Dann kam auch der Notar, und endlich auch Lelia in Begleitung eines jungen, hübschen Mädchens, das man auf den ersten Blick als eine Eichenstamm erkannte, obgleich sie schwarze Augen hatte, was sonst in der Familie nicht vorkam. Heinz wollte Lelia umarmen und küssen, aber er unterließ es, einmal, weil ihn ganz plötzlich eine unangenehme Blödigkeit überkam, dann weil ihn der spöttische Ausdruck im Gesichte der Fremden verwirrt machte. Lelia legte ihre Hand in die seinige und hieß ihn unbefangen mit einigen schlichten Worten willkommen. Sie stellte ihm dann ihre Gefährtin als seine Cousine, als eine Nichte von Frau Irenens Mann, vor, die ihrer Ausbildung wegen, und um die Verwandten kennen zu lernen, in's Land gekommen sei.
Adelheid, so hieß die Cousine, begleitete Lelia's Worte mit lautem Lachen. »Du stellst mich ja dem Vetter so förmlich vor,« rief sie, »als wären wir wildfremde Leute. Ich werde Dir zeigen, wie man das machen muß!« Sie ließ Lelia's Arm fahren, schob ihren Arm in den Heinzens, verneigte sich gegen ihn und sagte: »Ich heiße natürlich Adelheid, und Du natürlich Heinrich. So, und nun stehe nicht so einfältig da, das läßt Dir gar nicht gut!« Damit gab sie ihm dann plötzlich einen Kuß, lief ein Paar Schritte fort und lachte, daß ihr die Thränen über die Wangen liefen.
Heinz stand anfangs ganz verdutzt da, während der Notar und der Großvater mißbilligende Gesichter machten und Lelia erröthete. Adelheid aber ließ Niemand zur Besinnung kommen, sondern umarmte nun heftig der Reihe nach den Großvater und den Onkel, schob dann ohne sich im Mindesten darum zu kümmern, daß ihre Scherze den beiden Männern keineswegs angenehm zu sein schienen, ihren Arm in den des Onkels und rief, indem sie sich mit diesem gegen das Haus hin in Bewegung setzte: »Wie Ihr verdutzt seid! Es ist köstlich, wie Ihr verdutzt seid!«
Als dann alle in's Haus gegangen waren, wandte sie sich wieder zu Heinz. »Du bist ja nun, wie ich höre, ein Tintenbube geworden,« sagte sie. »Wohin bist Du doch gekommen? Nach Quarta, nicht wahr?«
Das war zu stark. »Ich weiß nicht, ob Du noch ein Tintenmädchen bist,« sagte Heinz zornig, »wenn ich es auch glaube, aber jedenfalls muß ich Dich bitten, höflicher zu sein und mich mit Ausdrücken, wie Du sie soeben brauchtest, zu verschonen.«
Sein Zorn ergötzte die fremde Cousine auf's höchste. Sie konnte aus dem Lachen gar nicht herauskommen und rief endlich: »Allerliebst, Vetter! Höre, Vetter, das mußt Du noch einmal sagen! Du siehst wirklich gar zu possirlich aus, wenn Du böse bist. Das wird köstlich sein! Ich werde Dich, so oft wir uns sehen, böse machen.«
Heinzens Zorn verrauchte, noch ehe er recht in ihm aufstieg. Böse konnte man über Adelheids Wesen offenbar ebensowenig werden, als man einem Füllen darüber zürnen kann, daß es ausschlägt. »Wie alt bist Du, Cousine?« fragte Heinz spöttisch.
»Nun, nachgerade alt genug, um Deine Mutter sein zu können.«
Der Großvater unterbrach beinahe heftig den Zwist, und man sprach nun von Heinzens Examen, von der Einrichtung, die für ihn im Hause des Vaters getroffen worden, und von der Verwandtschaft. Darüber kam denn die Mittagsstunde und Heinz ging nach Hause. Er erzählte dort dem Vater von seinem Examen und sprach auch von Adelheid.
»Ein albernes Ding,« sagte der Doctor, »aber ein fixes Mädchen. Nicht so eine Kopfhängerin, wie die Lelia!«
In der auf diese Ereignisse folgenden Nacht träumte Heinz tausenderlei Dinge, machte im Traume irgend ein unerhörtes Examen und küßte dazwischen ein großes, schönes Mädchen mit lodernden, kecken Blicken, während ein schlankes, schwermüthiges Kind dabei stand und ihn aus sanften, ruhigen Augen traurig ansah.