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So weit war Alles wieder in Ordnung, aber als Heinz sich nun auf den Weg zu Lelia machte, wollte ihn der Muth verlassen. Er mochte noch so sehr sich einzureden versuchen, daß Lelia eigentlich gar nicht das Recht habe, ihm ernstlich zu zürnen, daß er ja, wenn er sie um Verzeihung bitte, überreichlich Alles gethan, um den dummen Streich gut zu machen; er mochte sich noch so große Mühe geben, sich schon im Voraus in Zorn über sie zu bringen – sein Gewissen zerriß alle diese Sophismen wie Spinnengewebe. Als er vor dem Rechberg'schen Hause stand, konnte er sich lange nicht entschließen hineinzugehen, und während er die Straße auf und ab ging, bemühte er sich, sich ein Bild von dem Empfange zu machen, den er finden würde. Wird sie weinen? Das wäre das Beste, dann war er sicher, darüber in Zorn zu gerathen und sein Selbstvertrauen wieder zu erhalten. Wird sie ihn tüchtig schelten? Das wäre das Allerbeste, aber sie müßte nicht Lelia sein, wenn sie das thäte. Er hatte sie noch nie schelten gehört, der bloße Gedanke daran war komisch, unsinnig. Nein, sie wird ihn in ihrer sanften Weise freundlich empfangen, sie wird sagen: »Du hast mir sehr wehe gethan,« und das ist schlimm, das ist vernichtend, denn darüber kann man sich weder ärgern, noch kann man darüber lachen. So ein leidiges »Du hast mir sehr wehe gethan,« vergißt sich nicht wieder, weder für den, dem wehe gethan worden ist, noch für den, der wehe gethan hat.
Endlich ging Heinz doch in's Haus und zog die Glocke. Lelia öffnete ihm die Thür. Als sie ihn sah, wandte sie sich, ohne ein Wort zu sagen und ohne seinen Gruß zu erwidern, um und ging fort. Was war das? War das Lelia? Heinz folgte ihr in das erste Zimmer, aber sie hatte es bereits verlassen und er fand nur den alten Großvater. Heinz blieb verlegen stehen, der alte Mann kam auf ihn zu, reichte ihm die Hand und drückte sie nach alter herzlicher Weise.
»Du hast sehr Unrecht gethan, Heinz,« sagte er.
»Ja,« preßte Heinz mechanisch zwischen den Zähnen hervor. Er dachte daran, daß er Lelia gar nicht für fähig gehalten hatte, so energisch gegen ihn aufzutreten, und konnte sich gar nicht in seine Lage hineinfinden.
»Komm, lieber Heinz,« sagte der Großvater, »setze Dich her zu mir,« und als sie am Fenster Platz genommen hatten, fuhr er fort:
»Nochmals, Du hast sehr Unrecht gethan, Heinz, aber nicht davon will ich zu Dir sprechen. Auch der sicherste Locker verfliegt sich einmal, das weiß ich; aber es will mir überhaupt scheinen, als ob Du nicht in der richtigen Flugbahn bist, denn Du bist ein Werfer und keine Spucht, ein Weißschwanz und keine Jacke. Nicht daß Du im Schwarme fliegst, werfe ich Dir vor, gewiß nicht; aber es fragt sich, ob Du im rechten bist, unter Deinesgleichen. Ich bin ein alter, schlichter Mann, Heinz, und verstehe von den Menschen und ihrem Gebahren nicht allzuviel, aber das weiß ich, daß Moskowiter und Mövchen, oder gar Spuchte, kein Schwarm sind für einen Tummler. Ich weiß die Mövchen zu schätzen, sie fliegen leicht, schnell und hoch, aber wenn ein rechter Tummler mit ihnen fliegt, so ist es ein gefährlich Ding, Heinz. Ich hatte, während Du auf dem Lande warst, einen zöpficht-rauchfußichten Mohrenkopf, der war der beste Werfer im Schlage. Einst hatte er sich verflogen und stieß zum Schwarme, als die Mövchen draußen waren und stiegen. Mir war schon nicht ganz wohl dabei, da kommt er plötzlich in's Werfen, schlägt ein Dutzend Mal um, verliert die Balance und liegt mit zerschmettertem Kopf in der Dachrinne. Verstehst Du, wo das Alles hinaus will, Heinz?«
»Ich glaube wohl. Wenn ich Dich recht verstehe, so meinst Du, ich sei zu schwerfällig, um den leichten Flug lockerer Gesellen mitzumachen.«
»Nicht zu schwerfällig, Heinz, Du bist nur zu verschieden von ihnen. Glaube ja nicht, daß ich Dich für eine Schleier- oder eine Pfauentaube halte, die nur zum Schmucke da ist, im Gegentheil, die Tummler sind in meinen Augen die Blüthe des Taubenhauses.«
»Nun gut, Du meinst also, daß ich in Gesellschaft gerathen bin, die nicht für mich paßt?«
»Ganz richtig, Heinz, die nicht für Dich paßt. Es würden auch nicht alle Tummler für Dich passen. Es muß Einem den Kopf verdrehen, wenn man der einzige zöpfichte Rauchfuß unter lauter glattfüßigen Rundköpfen ist. Meinst Du nicht, Heinz?«
»Du willst damit sagen, daß ich meinen Gesellen geistig überlegen bin, und fürchtest, das könnte mich anmaßend machen!«
»Gewiß, Heinz, das meine ich gerade. Ich dachte mir schon, daß Du mich verstehen würdest. Ja, ja, Du weißt einen Spiegelschwanz von einem Weißschwanz zu unterscheiden, auch wenn er zugestutzt ist. Du verstehst Dich darauf, Du zählst die Federn und weißt, woran Du bist. Du verstehst was von der Taubenzucht.«
»Du magst Recht haben, Großvater, aber wie soll ich das ändern? Man kann sich seinen Umgang nicht so bestellen.«
»Hm, nein, bestellen kann man ihn sich vielleicht nicht, aber doch ihn sich wählen. Ich finde die Worte nicht für das, was ich sagen will, aber ich meine, Du hast mich doch recht verstanden. Es taugt zu nichts, Heinz, es so zu machen, es muß Einem den Kopf verdrehen. Kein Vogelfreund wird doch den jungen Fink, der etwas Rechtes lernen soll, neben einen alten hängen, der das ›Eupia‹ nicht ausschlägt oder sonst einen groben Fehler hat. Man wird ihn doch gern nur die besten Sänger hören lassen! Nun, ich meine, der Mensch soll, so lange er jung ist, es mit sich selbst machen, wie er es mit dem jungen Fink machen würde.«
»Großvater, ist Lelia sehr böse auf mich?«
»Ja, ich weiß nicht, was Du Alles gethan haben magst; ich mochte sie nicht darnach fragen, es schien ihr wehe zu thun, aber Du hast sie bis in's innerste Herz gekränkt. Ich hörte sie die ganze Nacht weinen. Als ich es gegen Morgen nicht länger im Bett aushielt und zu ihr ging, sagte sie mir unter Schluchzen:
»Ach, Großvater, hättest Du nur gesehen, wie schrecklich er aussah! Ganz wie damals als Kind, als er mir den kleinen Hahn umbrachte, nur noch schrecklicher!«
»Großvater,« sagte Heinz, »ich kam her, um sie um Verzeihung zu bitten, aber ich fürchte, ich kam umsonst.«
»Wir wollen sehen, Heinz, wir wollen sehen; Lelia ist ja sonst nicht nachtragend. Komm, wir wollen sie aufsuchen.«
Sie gingen durch das ganze Haus und suchten im Hof und im Garten, aber Lelia war nirgends zu finden. Sie sahen im Vorhause nach ihrem Pelze – er war nicht da; sie war in aller Stille ausgegangen.
In verzweifelter Stimmung verließ Heinz das Haus. Also so roh war sein Betragen gewesen, so verletzend, daß selbst dieses sanfte Mädchen sich seiner durch Kälte erwehren zu müssen glaubte, ihn floh wie ein wildes Thier! Bis in's Innerste zerknirscht und niedergeschlagen ging er seines Weges, da begegnete er, als er um eine Straßenecke bog, plötzlich Lelia. Seiner ersten Empfindung folgend, vertrat er ihr den Weg; sie schrak zurück und bog ihm aus. Seine Reue, seine Zerknirschtheit wich sogleich heftiger Wuth. Er faßte sie so fest am Arm, daß sie zusammenfuhr, sah sie mit zornfunkelnden Augen an und fragte mit bebender Stimme:
»Warum grüßest Du mich nicht wieder? Wie wagst Du es, mich nicht wieder zu grüßen? Soll ich Dich Höflichkeit lehren?«
Heinz fühlte selbst, wie toll und unsinnig das war, was er sagte und that, aber wilde Leidenschaft hatte ihm alle Besinnung geraubt. Lelia ließ sich widerstandslos festhalten, ihr ganzes Sein war aufgegangen in tödtliche Angst vor dem Jugendgespielen. Sie erwartete in jedem Augenblicke, von ihm zu Boden geschlagen zu werden. Vielleicht wäre das auch geschehen, wenn sie ihm widersprochen oder wenn sie versucht hätte, sich loszumachen. So aber starrte er die Wehrlose eine Weile an, ließ dann ihren Arm los, schlug sich mit der Hand vor die Stirn und stürzte wie benommen seiner Wohnung zu, während vor seinen Augen tausend Funken stoben und grüne, rothe und gelbe Lichter spielten.
Erst als er zu Hause angekommen, in ein wildes, krampfhaftes Schluchzen ausgebrochen war, kam er wieder zur Besinnung. Dazu kam Weinthal und meldete, daß der Vater zurückgekehrt sei und Heinz rufen lasse; da galt es, ihm das gewohnte Gesicht zu zeigen.
Der Vater beauftragte den Sohn, zu Frau Irene zu gehen und sie um Auskunft über eine arme Frau zu bitten, die vom Frauenverein aus unterstützt wurde. Als Heinz in der Tante Haus trat, öffnete ihm Adelheid die Thür. Sie zog ihn sogleich, leise lachend, in eine Ecke des Vorhauses und sagte flüsternd:
»Das war ein köstlicher Abend, Heinz! Ich versichere Dich, daß ich seit langer Zeit nicht so herzlich gelacht habe. Ich werde nach einiger Zeit Schlittschuhe laufen, dann schließe Dich mir an. Wir können dann freier mit einander sprechen als in Tantens Gegenwart. Noch Eins, Heinz! Du bist ein Prachtbursche!«
Die ist von anderem Schlage als Lelia, dachte Heinz, als Adelheid davonhuschte. Er unterhielt sich eine Weile mit der Tante und ging dann. Draußen erwartete ihn Adelheid.
»Ich muß erst noch nach Hause,« sagte er.
»Natürlich,« meinte sie, »Du wirst Deine Schlittschuhe holen. Ich werde Dich begleiten.«
Sie gingen nun Beide.
Adelheid lachte plötzlich laut auf. »Verzeiht,« rief sie, »aber wenn ich an das Gesicht denke, das die alte Maier machte, als Du ihr Karlchen einen Affensohn nanntest und den dicken Jungen würgtest, daß ihm der Kopf roth anlief, wie einem zornigen Puter, so muß ich lachen. In meinem letzten Stündchen, wenn mir der Tod schon auf der Brust kniete, müßte ich lachen, wenn ich an die Scene denke. Ich habe mich recht darüber gefreut, wie kräftig Du bist. Ich sage Dir, Heinz, die Flasche flog durch die Scheiben wie eine Kanonenkugel. Du mußt durchaus Soldat werden, Heinz, Kürassier! Du hättest nur die erschrockenen Gesichter der Leute sehen sollen. Sie sind doch ein wenig knotig, nicht wahr, Heinz?«
Heinz lachte. Ihre Darstellung der Ereignisse that seiner Eitelkeit ungemein wohl. Er sah ihr in's Gesicht, sie war doch ein sehr schönes Mädchen, und auch ihre Augen erschienen ihm heute weniger unstät; sie hingen mit einem forschenden Ausdruck an den seinen.
Adelheid fuhr fort: »Seid ihr wirklich verlobt, Heinz?«
Heinz glaubte zu fühlen, daß ihr Arm in dem seinen zitterte, als sie so fragte, vielleicht irrte er sich aber auch.
»Nein, gewiß nicht.«
»Auf's Wort, Heinz?«
»Auf's Wort, es war nur ein toller Einfall von mir.«
»Aber warum weinte denn die Närrin, die Lelia, so bitterlich?«
»Nun, Adelheid, Freude konnte ihr ein so roher Scherz doch nicht machen.«
»Ach was, was lag denn daran. Scherz ist Scherz und Lelia nicht von Marzipan. Sage, findest Du sie nicht entsetzlich weichlich? Kommen Dir die Rechbergs nicht überhaupt etwas knotig vor?«
»Lelia ist unsere Cousine, Adelheid.«
»Ja, ja, aber findest Du, daß sie eine ganze, echte Eichenstamm ist?«
»Nein, das nicht; aber es ist doch nicht Jedermann, der kein Eichenstamm ist, ein Knot?«
»Nun, natürlich, nur mehr oder weniger; aber mir kommen diese Rechbergs so saft- und kraftlos vor, so ohne alles Mark.«
Im Sprachgebrauche der Familie Eichenstamm hatte das Wort »Knot« eine ungemein mannigfache Bedeutung. Die Handwerker sind Knoten, gesellschaftlich ungebildete Menschen sind Knoten, schlechte Menschen sind Knoten. Knoten heißen Leute von dunkler Herkunft, sehr gutmüthige oder sehr vergnügungslustige Leute. Kaufleute sind immer Knoten, ebenso Ausländer; in den Augen der meisten Eichenstamms auch Officiere.
Heinz nahm Lelia in Schutz, Adelheid griff sie heftig an. Güte, sagte sie, habe doch nur dann einen Werth, wenn sie mehr als Instinkt sei; Liebe könne doch nur geschätzt werden, wenn sie fest und unerschütterlich an einem Gegenstande hafte.
Heinz ging nun zum Vater, entledigte sich seines Auftrages, holte seine Schlittschuhe und ging dann mit Adelheid der Schlittschuhbahn zu.
Das Wetter war herrlich geworden, die Sonne blitzte und funkelte im Eise, es fror stark und die Bahn war gedrängt voll von geputzten, fröhlichen Menschen. Als Heinz nun mit Adelheid Arm in Arm über das glatte Eis dahinflog, gaben sie ein schönes Paar ab. Sie liefen Beide gleich gewandt und waren Beide schöne Menschen, von schlankem, hohem Wüchse. Die Leute auf der Bahn bogen ihnen aus, hielten im Laufen inne und schauten ihnen nach; die Zuschauer folgten ihnen mit den Augen. Die Beiden bemerkten das wohl. Zum ersten Male empfand Heinz eine Art Wohlwollen gegen Adelheid; seine Eitelkeit war ihr dankbar für den bereiteten Triumph.
»Wir passen gut zu einander,« sagte er.
»Das will ich meinen,« rief sie fröhlich und drückte seinen Arm.
Sie liefen eine Weile auf der Bahn hin und her, dann sagte Heinz:
»Komm, wir wollen die Bahn verlassen und stromab laufen.«
Er ließ ihren Arm fahren und ergriff ihre Hand; pfeilschnell, wie auf Adlers Flügeln, flogen sie nun dahin über das Eis in weiten Schleifen und Bogen, vom linken Ufer zum rechten, vom rechten zum linken, die weite Fläche durchschneidend. Es kam eine tolle Lust über die Beiden. Bald hatten sie alle die andern Läufer weit hinter sich gelassen, flogen allein den Fluß hinab über das schwarze Eis. Adelheid riß sich los und floh vor Heinz, er folgte ihr behend; er hatte seine Lust an ihrem Laufen. Pfeilschnell flog sie auf die offenen Stellen zu, um dann lachend an ihnen vorüberzugleiten.
»Adelheid, Du bist zu kühn,« rief ihr Heinz zu.
»Fall' ich hinein, so wirst Du mich schon herausziehen,« tönte es zurück.
Jetzt hat er sie eingeholt, faßt sie mit kräftigem Arm, während sie, vom heftigen Anlauf getrieben, noch neben einander dahinfliegen; sie sträubt sich und will entkommen, er preßt sie an sich und küßt sie. Sie läßt es geschehen und küßt ihn wieder.
»Du bist ein Teufelsmädchen,« sagte Heinz.
»Ich bin eine Eichenstamm,« erwiderte Adelheid, »eine echte, rechte Eichenstamm, so wie Du ein echter, rechter, grober, abscheulicher, zarter, herziger Eichenstamm bist.«
Sie laufen nun langsam zurück, Arm in Arm.
Adelheid gleitet öfters aus, denn sie sieht nicht auf den Weg, sondern sieht Heinz in's Gesicht. »Sieh doch auf das Eis,« herrscht er ihr zu und sie ist glücklich darüber. So will sie es haben: rauh, schroff muß er sein, der Jüngling, den sie liebt, kein süßlicher Geck, kein gutmüthiger, sich plebejisch in seiner Haut wohl fühlender Alltagsmensch.
Vor Heinz und Adelheid läuft bald auch ein anderes Paar. Als sie ihm näher kommen, erkennen sie Horace und seinen Lehrer. Die Beiden laufen schlecht, häßlich und Heinz und Adelheid machen ihre Glossen über sie. Heinz erzählt, daß er in voriger Nacht ohne sein Wissen und Wollen Monsieur Bertrand den Hut vom Kopfe geschlagen habe, und sie ist darüber entzückt. Da sehen sie, daß die Beiden gerade auf eine offene Stelle zulaufen. Sie laufen zu schlecht, als daß man voraussetzen könnte, es handle sich um ein Stück jugendlicher Wagelust; sie sehen offenbar das schwärzliche Wasser nicht vor dem schwärzlichen Eise. Heinz und Adelheid verdoppeln die Geschwindigkeit ihres Laufes, pfeilschnell fliegen sie dahin. »Achtung! Wasser!« schreit Heinz so laut er kann. Die Beiden verstehen die Worte nicht, aber der Knabe wendet sich nach dem Rufer um, fällt und gleitet nur noch auf dem Eise hin, der Lehrer stürzt in vollem Schwunge in's Wasser, das hoch aufspritzt und gegen den Rand des Eises wallt. Noch einmal spritzt es auf, einen gellenden Angstschrei ausstoßend ist auch Horace hineingeglitten. Aber er geht nicht unter das Eis wie der Franzose, er taucht wieder auf, dicht am Rande des Eises, und Heinz, der tief nach vorn gebeugt in pfeilschnellem Anlauf an ihm vorüberschießt, hat ihn gefaßt und reißt ihn mit so gewaltigem Schwunge mit sich auf's Eis, daß sie Beide niederstürzen.
Heinz sprang rasch wieder auf, Horace blieb ohnmächtig liegen.
»Du mußt schnell zur Stadt, Heinz,« ruft Adelheid, »rasch! Ich bleibe hier.«
»Das geht nicht, er erfriert, wenn ich ihn hier lasse. Hilf mir ihn auf die Schultern heben, vielleicht reichen meine Kräfte.«
Die Beiden greifen zu und es wird ihnen nicht schwer, den leichten Knaben auf Heinzens Schultern zu laden, der die Arme Horacens um seinen Hals schlingt. So eilen sie der Stadt zu. Heinzens Brust keucht, all' seine Pulse schlagen wie im Fieber, die Kraft der jungen, starken Glieder will ihm versagen, und doch ist er glücklich bis in's innerste Herz. Ein günstiges Geschick hat ihm die Möglichkeit gegeben, gut zu machen, was er gestern verschuldet hat; er fühlt sich glücklich, daß er durch Rettung eines Menschenlebens das Leid sühnen kann, das er Lelia zugefügt hat. Jetzt, da er nicht weiter kann, da er einhalten muß, hat er andere Schlittschuhläufer erreicht. Sie drängen sich herbei, sie nehmen ihm seine Last ab. Mitleidig tragen die Einen den nassen, ohnmächtigen Knaben auf ihren Armen, neugierig folgt der Haufe der Andern, wieder Andere laufen den Fluß hinab, der Stelle zu, wo der Franzose ertrunken ist. An der Schlittschuhbahn angelangt, hört Heinz die Musik plötzlich verstummen, fühlt, wie man ihn, der selbst einer Ohnmacht nahe ist, in einen warmen Pelz hüllt und ihn, den Schwankenden, von allen Seiten stützt.
Aber nur für einen Augenblick überkam ihn die Schwäche. Er macht sich los und eilt denen nach, die Horace an's Ufer bringen. Dort hilft er ihn in einen Schlitten setzen und nimmt neben ihm Platz. Er treibt den Kutscher an, rasch zu fahren; er will noch vor der Schreckenskunde bei Frau von Balteville eintreffen. Diese, die am Fenster sitzt, ihn vorfahren sieht und Horace todt glaubt, stürzt laut aufschreiend die Treppe hinab.
»O Gott, barmherziger Gott, erbarme Dich mein!« ruft sie in deutscher Sprache und umfaßt ihren Sohn, reißt ihn aus dem Schlitten, trägt ihn auf den Armen die Treppe hinauf, Heinz und den Dienern wehrend, die ihr die Last abnehmen wollen. Heinz versichert ihr, daß Horace lebe, daß er nur ohnmächtig sei, daß er nicht todt sein könne, da er nur einen Augenblick im Wasser gelegen habe; sie glaubt ihm nicht, sie hält seine Worte für leeren Trost, um die Mutter auf das Entsetzliche vorzubereiten. Während sie dem Sohne die nassen, eisigen Kleider vom Leibe reißt, jammert sie verzweifelt: »O Gott, o Gott! auch das noch! Auch das letzte Glück noch zerstört!« Ihr lautes Wehklagen tönt durch das ganze Haus, entsetzt umsteht das Gesinde die Herrin und ihren Sohn. Heinz ist der Einzige, der sich den Kopf frei erhält. Er schickt einen Diener zum Hausarzt, den andern nach seinem Vater; der Koch bringt warme Decken herbei, in die man Horace hüllt. Nach wenig Augenblicken ist der Doctor Eichenstamm da, Adelheid hat ihn herbeigerufen.
Des Doctors geübter Blick erkennt sogleich, daß er es mit einem Lebenden zu thun hat, und Weinen und Jammern ist ihm ein Gräuel.
»Frau Balteville,« sagt er, indem er die Dame fest an die Schulter faßt, »seien Sie keine Thörin, der Junge lebt und ist in einer Stunde so frisch wie vorher.«
Die rauhe Art des Doctors, seine zuversichtliche Sprache bringen Frau von Balteville bald wieder zur Besinnung.
»Gewiß, Doctor? Gewiß?« fragt sie angsterfüllt, und als er antwortet: »Ja, wahr und wahrhaftig,« drückt sie ihm so dankbar die Hand, als wäre er nicht jener entsetzliche Doctor Eichenstamm, dessen beißende Sarkasmen sie in der Gesellschaft noch lächerlicher hingestellt, als sie in Wirklichkeit war, als wäre er nicht der Mann, der ihr beharrlich das »von« vor ihrem Namen verweigert.
Der Doctor erläßt nun seine Anordnungen, oder besser seine Befehle, und verläßt dann, als Horace nach einigen Augenblicken die Augen aufschlägt, rasch das Zimmer. Heinz, dessen Herz voll Mitleid für die Mutter ist, folgt ihm in's Vorzimmer und fragt, ob er nicht noch etwas verschreiben wolle. Der Doctor, der sich von Heinz den Hergang der Sache erklären läßt, erwidert verächtlich lächelnd:
»Laßt ihn warme Milch trinken; besorgt ihm womöglich eine Amme. Was das für ein Lappen von Junge ist, der in eine stundenlange Ohnmacht fällt, weil ihm etwas kaltes Wasser hinter die Kleider gelaufen ist. Pfui über ihn und die ganze alberne Sippschaft!«
Als der Doctor so spricht und dann kaltblütig davongeht, da fühlt Heinz, wie sich in ihm das innerste Herz empört gegen den Vater, der in solcher Stunde so reden kann!
Drinnen ist nun lauter Jubel. Frau von Balteville, die wieder ganz Amanda ist, lacht und weint in einem Athem und erstickt den Sohn fast mit Umarmungen und Küssen, aber Horace ist außer sich.
»Wo ist Monsieur Bertrand,« ruft er verzweifelt.
Alle blicken fragend auf Heinz.
»Ich hoffe, er wird sich gerettet haben,« erwidert dieser. › O, mon Dieu, mon Dieu, il est mort! O, je le vois bien, vous ne voulez-pas me le dire, mais il est mort,‹ ruft jammernd Horace, und nur mit Mühe wird er im Bett erhalten.
Da geht die Thür auf und Madeleine stürzt herein. Sie ist nicht zu Hause gewesen, ist mit der Französin spazieren gegangen, hat auf der Straße von dem Unglücke gehört, hat auch gehört, daß Heinz den Bruder gerettet hat. Sie eilt zuerst an des Bruders Bett, dann umarmt sie Heinz und küßt ihn mehrmals auf den Mund. › Merci, merci, o, mille fois merci!‹ ruft sie. Ihr rasches Verfahren bringt die Mutter schneller zur Besinnung als alles Andere. Amanda verschwindet und Frau von Balteville tritt auf und wieder in ihr Recht. › Mais, Madeleine, que vous êtes folle!‹ ruft sie, dann tritt sie auf Heinz zu und bedankt sich in solenner, fleißig mit schlechtem Französisch durchmischter Rede, wodurch sie bewirkt, daß Heinz im Geiste seinem Vater Recht giebt und ihn innerlich um Verzeihung bittet. Frau von Balteville ersucht ihn, das auffallende Benehmen Madeleinens mit ihrer Jugend und dem gehabten Schreck, der ihr die Besinnung geraubt habe, zu entschuldigen, versichert Heinz ihrer großen Dankbarkeit und verheißt Horacens persönlichen Dank für die allernächste Zukunft. Sie drückt die Hoffnung aus, Heinz künftig öfters in ihrem Hause zu sehen und versichert ihn, daß er es dann nicht so »derangirt« finden soll. Als sie geendet, ist sie Heinz gründlich zuwider, und daran vermögen auch Madeleinens hübsche braune Augen, die voll Thränen stehen, und ihr nochmaliges: › Mille fois merci‹ nichts zu ändern. Er verabschiedet sich kurz und geht.
Unten fand er Adelheid, welche die ganze Zeit über in der strengen Kälte auf ihn gewartet hatte. Sie zitterte am ganzen Leibe vor Frost, als sie neben ihm herschritt. »Geh' nach Hause, Adelheid, Du wirst Dich erkälten,« sagte er.
»Ach, pah, was liegt daran,« erwiderte sie; »das war ein amüsanter Tag, Heinz!«
»Ja,« sagte er zerstreut.
»Aber wie die Alte schrie! Man konnte es auf der Straße hören. Pfui, wie knotig!«
»Sie hielt ihn für todt, Adelheid.«
»Wenn auch, wie kann man schreien. Ich könnte das größte Herzeleid haben, meine Eltern könnten sterben, Du könntest sterben, ich weiß, daß ich vor den dummen Leuten auch nicht eine Thräne vergießen würde.«
»Es sind nicht alle Leute von so harter Art wie wir.«
»Leider, Heinz, leider; aber es ist prächtig, daß wir so sind. Es ist mir völlig unbegreiflich, wie man so wenig Stolz haben kann, Fremde seinen innern Schmerz sehen zu lassen. Ich lache gerade dann und zeige mich recht albern.«
Ehe die Beiden schellten, bat Adelheid Heinz noch um einen Kuß. Er gab ihn ihr und sie war so glücklich darüber, wie ein Pudel, den sein gestrenger Herr streichelt.
Heinz blieb den Abend über bei dem Onkel Friedrich, und das Benehmen der Frau von Balteville wurde von diesem und seiner Frau eben so scharf angegriffen, wie von Adelheid. Darin waren die Eichenstamms sich alle gleich, sie mochten jung oder alt sein. Sie konnten viel leisten, verlangten aber auch von Jedem dasselbe. Daß es Leute in der Welt gab, die weniger kräftig construirt und mit weniger gesunden, derben Nerven begabt waren als sie, hielten sie nicht für möglich. Frau von Balteville war ihnen nach allen Seiten hin verhaßt, wegen ihrer niedrigen Herkunft, wegen des, ihrer Meinung nach, angemaßten Adels und wegen ihrer Narrheit.
»Du darfst Dich mit dieser Familie in keiner Weise einlassen,« sagte Frau Irene in ihrer kategorischen Art. »Daß der Junge sich bei Dir bedankt, wird sich nicht ändern lassen, aber sonst laß es zu keiner Freundschaft kommen. Diese Leute sind Knoten; wer Pech angreift, besudelt sich.«
Zu Hause wurde Heinz von Weinthal mit dem ganz unmotivirten Ausruf empfangen: »Hat mein Jungherrchen wieder einmal einen Racker aus dem Wasser gezogen.« Ihm wurde überhaupt vom ganzen Dienstpersonale reiches Lob zu Theil. Sie waren Alle so stolz auf ihn, als gehörte es zu seinen täglichen Lebensgewohnheiten, Menschen zu retten.
Als Heinz vor dem Einschlafen noch einmal die Erlebnisse dieses Tages an seiner Seele vorüberziehen ließ, da gedachte er freudig des unverdienten Glückes, das ihm der Tag gebracht; da dachte er mit Liebe des bleichen, schwächlichen Knaben, dem er das Leben wiedergegeben, und beschloß, ihm ein rechter Freund zu sein. Er fühlte sich hingezogen zu dem lieblichen Mädchen, das ihm so rücksichtslos seinen Dank gezollt, und mit Genugthuung freute er sich, die hochfahrende Adelheid so gebändigt zu haben. Und doch fühlte er im innersten Herzen, daß er das Alles, Horacens Lebensrettung, Madeleinens Kuß und Adelheids Liebe, freudig hingegeben hätte um ein einziges freundliches Wort aus Lelia's Munde!