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Seit es alt genug war, die Höhle zu verlassen, hatte die alte Bärin ihr Junges stets landeinwärts geführt, durch die verstreuten Felsstücke, das Gewirr von Tannen und Fichten, und hatte es gelehrt, nach zarten Wurzeln zu graben und Larven und Käfer in verfaulten Baumstümpfen ausfindig zu machen. Heute aber hatte sich bei der Bärin das Bedürfnis nach salzigerer Kost geregt, und sie gedachte ihr Junges nach der entgegengesetzten Richtung zu führen, durch eine Klippenschlucht hinab und über die große, rote, glänzende Schlammfläche, die die Ebbe der gewaltigen Fundyfluten freigelegt hatte. Wenn die Flut ihre Höhe erreichte und die Winde schwer vom Meere landeinwärts tobten, konnte das Junge bis in die sichere Wärme seiner Höhle hinein das Donnern der Wogen gegen die Klippen hören. Zwar regte sich heute kein Lüftchen und seidig schillernd dehnte sich das beruhigte Meer, nur leise träumerisch rauschend – trotzdem aber hatte das Bärenjunge sich ängstlich wie ein Kind in den dunkelsten Winkel der Höhle gehockt, bis es die Mutter mit einem sanften ermunternden Puff aufscheuchte.
Mit einem quäkenden Laut gekränkter Ueberraschung raffte es sich auf, schüttelte seinen Kopf, als wolle es eine Biene verjagen und beeilte sich, der Alten zu folgen, dicht an ihre großen schwarzen Hinterbranten gedrängt.
Von der Klippenschlucht aus führte ein steiniger Pfad langsam abfallend über die Schlammfläche nach dem Rande des Wassers. Noch herrschte Ebbe, aber bald mußte die Stunde der Flut eintreten. Da das Ufer langsam abfiel und der Unterschied zwischen Hoch- und Tiefwasser in diesen steilen Kanälen etwa vierzehn bis fünfzehn Fuß betrug, waren die gelbbraunen Ränder des verebbten Meeres noch reichlich dreiviertel Meile vom Fuße der Klippen entfernt. Der kupferrote, ölige, weiche Schlamm der freigelegten Fläche schillerte trügerisch in der Sonne. Durch den Schlamm hindurch aber zog sich im rechten Winkel die schwarze Linie des Gesteinpfades und lief eine kurze Strecke parallel zur Uferlinie, ehe sie das Wasser erreichte.
Auf ihm entlang nahm die alte Bärin ihren Weg; hin und wieder stand sie still, um an einem Büschel Seetang zu schnüffeln oder einen prüfenden Blick auf die gelben Lachen zwischen den Felsstücken zu werfen. Das Junge tat ihr alles gehorsam nach, obwohl es zweifellos nicht ahnte, was zu finden es erhoffen konnte. Doch der obere Teil des Pfades bis zu dem Schlammstreifen, den die Hochflut hinterlassen hatte, bot nichts, was weiteres Suchen hätte lohnen können. Seit mehreren Stunden lag er nun schon trocken und war längst gründlich abgesucht worden. So trabten sie weiter nach den tiefer gelegenen Strichen, wo die mit dunkelgrünen Tangbüscheln behangenen Felsenriffe noch vor Nässe troffen und die einzelragenden Felsnadeln, von Tellermuscheln übersät, feucht funkelten. Die alte Bärin kratzte mit ihren gleichsam eisenbeschlagenen Tatzen einige Muscheln los und zermalmte sie behaglich zwischen den Kinnladen, den würzigen Saft einschlürfend. Ungeschickt versuchte das Kleine es ihr nachzutun, aber die Muscheln trotzten seinen noch zu zarten Tatzen, so daß es zur Mutter rannte, deren großen Kopf zur Seite schob und gierig einen Teil der abgekratzten Muscheln aufleckte. Aber sie waren zu hart und stachen in das Zahnfleisch, so daß es sie bald empört wieder ausspuckte. Brummelnd folgte es der Alten, die am Rande des Wassers nach weiteren Leckerbissen suchte. Da erschien auf der Höhe der Klippen eine hagere, in graue Leinwand gekleidete Gestalt, mit einem Gewehr über der Schulter. Als sie der Bären ansichtig wurde, trat sie schnell hinter eine überhängende Fichte zurück.
In der ersten Eingebung wollte der junge Jäger einen Fernschuß auf die plumpe, gegen die helle Wasserfläche sich scharf abhebende schwarze Form abgeben, denn er konnte gerade eine Bärenhaut gebrauchen, auch wenn der Pelz nicht ganz tadellos war. Das Junge aber wollte er lebend fangen, und wenn es sich als gelehrig erwies, für eine gute Summe an eine herumziehende Truppe verkaufen. So beschloß er nach reiflicher Ueberlegung, doch lieber zu warten, bis die steigende Flut die Bären zu ihm auf das Hochland hinauftreiben würde. Er wechselte die verstählte spitze Patrone gegen eine tödlichere abgestumpfte aus, zündete sich eine Pfeife an und lehnte sich bequem an den Fichtenstamm zurück, um durch das lichte Grün seine sichere Beute zu beobachten.
Je weiter die Bären den Pfad hinunterkamen, um so interessanter wurde der Befund. Hier hatten die Krähen und Möwen noch nicht Zeit genug gehabt, alle Beute wegzuschnappen. Da klebten unter den Felsvorsprüngen saftige blaue Miesmuscheln und zwischen dem schlammigen Seetanggeflecht dicke Trompetenschnecken. In den seichten Lachen fanden sich orangefarbene Seesterne und borstige Seeigel, alles Leckerbissen, deren Schalen auch die kleinen Zähne des Jungen leicht zermalmen konnten. Außerdem hatte der Salzgeschmack dieser Seetiere eine ausgezeichnete Wirkung auf den Appetit. Von immer reicherer Beute gelockt, schritt die alte Bärin von Lache zu Lache, und das Junge, dem der gefüllte kleine Bauch wie ein schwarzer Pelzball herabhing, sprang nicht mehr, sondern watschelte schwerfällig aber mit immer noch vor Erwartung glänzenden Sehern neben ihr her. Solange es noch laufen konnte, war es auch immer noch fähig, von diesen herrlichen Leckerbissen zu genießen. Die faszinierende Jagd führte die beiden weiter und weiter, bis sie schließlich an den Rand des Wassers gelangten.
Die Klippenschlucht, durch die sie vom Hochland herabgewandert waren, lag weit hinter ihnen. Eine gute halbe Meile glänzenden Schlammes trennte sie in direkter Linie vom Fuße der Klippen.
»Wenn sie sich nicht eilen, wird sie die Flut holen!« dachte der junge Jäger auf seiner Höhe, und ein leises Bedauern, die Bärin nicht zeitig geschossen zu haben, wandelte ihn an.
Während die Alte und ihr Junges mit Nasen und Tatzen in einer algigen Lache herumwühlten, war plötzlich eine lange flache, schlammumränderte Welle über ihre Tatzen hinweggespült und hatte die Mulde bis zum Rande mit gelblichem Wasser angefüllt. Hastig zog die Bärin ihren Kopf zurück und blickte nach den entfernten Klippen und der steigenden Flut. Sofort war sie sich der drohenden Gefahr bewußt und setzte sich schwerfällig trottend in Gang, den langen Weg zurück, den sie gekommen waren. Das Junge wackelte tapfer hinterdrein, d. h. diesmal hielt es sich dicht an die Seite der Alten. Die gelben Wellen hatten es erschreckt, und es glaubte, vor dem kalten, schrecklichen Ungeheuer hinter der schützenden Flanke der Mutter sicher zu sein.
Da aber der Weg zunächst noch parallel zur Wasserfläche lief, so spülten die anschwellenden Wellen den beiden Bären beständig um die Branten. Nach etwa zwei Minuten schnellen Rückzugs ging dem Jungen die Luft aus. Vor Angst schnaubend fiel es – zu vollgefuttert wie es war – auf seine Hinterkeulen und wartete, daß es die Alte holen würde.
Die Bärin wandte sich um, stürzte zurück und brachte es mit einem ermunternden Brantenschlag in Bewegung. Aber nach wenigen Metern gab das Junge es wieder auf, fiel hin und brummte jämmerlich.
Diesmal schien die Mutter einzusehen, daß der Fall ernst war. Unverdrossen beleckte sie ihr Junges und brummte beruhigend, bis es, wenn auch zitternd, endlich wieder auf die Beine kam. Mit Nase und Tatzen nachhelfend gelang es ihr, das Junge mühsam nach einem etwa fünfzehn bis zwanzig Fuß entfernten Felsblock zu bugsieren, in dessen nächste Nähe die gelblichen Wogen auch bereits herangekommen waren. Verwirrt und erschreckt ließ sie sich auf die Keulen nieder und blickte, verzweifelt nach einem Ausweg suchend, um sich. Das Junge lag flach, alle Viere von sich gestreckt, auf dem Boden und keuchte aus vollem Halse.
Inzwischen stieg und stieg die Flut, in wenigen Minuten war der Felsblock zur Insel geworden. Der einzige Weg führte über die gleißende Schlammfläche. Die alte Bärin warf einen Blick hinüber und brummte; sie kannte die Gefahren dieses trügerischen Weges, aber es gab keinen anderen.
Nachdem sie ihr Junges wieder beleckt und beschnüffelt hatte, bis es aufgestanden war, stapfte sie kühn den Felsen hinab der kupferroten Fläche zu. Das Junge, inzwischen wieder zu Atem gekommen, folgte lebhaft. Es schien durch den Umstand sehr ermutigt, daß sie jetzt eine den Wellen entgegengesetzte Richtung einschlugen.
Höchste Eile war erforderlich. Als sie den Felsen verließen, waren schon die angrenzenden Schlammflächen von Wellen überspült. Die alte Bärin schritt umsichtig voran. Sie konnte das Junge nicht antreiben, denn sie mußte den Weg suchen. Ihr Instinkt, ihre feine Beobachtungskraft ließen sie stets die sogenannten »Honigtöpfe«, jene tiefen Schlammtaschen unter der einförmig schimmernden Oberfläche, entdecken und vermeiden. Um die »Honigtöpfe« war der Schlamm weich und zäh, etwa zwei Zoll bis zwei Fuß tief über festem Lehmboden. Die alte Bärin mit ihren riesigen Kräften schritt durch diese haftende rote Schlammaffe ohne große Schwierigkeiten. Das Junge dagegen befand sich nach wenigen Minuten schrecklich behindert. Der Pelz nahm den Schlamm an, die kleinen Tatzen sanken leicht ein und mit jedem Schritt wurde es schwerer, sie wieder herauszuziehen. Schließlich war es noch von der geräumigen Spur der Mutter abgekommen und sank bis an den Bauch über den Rand eines »Honigtopfes«.
Von Panik erfaßt, zappelte es vergeblich umher, die Nase hoch in die Lust gereckt, die Augen krampfhaft geschlossen. Die Alte pflügte sich inzwischen nichtsahnend immer weiter vorwärts. Plötzlich riß das Junge die Augen auf und sah, daß die Mutter schon zehn bis zwölf Fuß entfernt war. Direkt hinter ihm, beinahe schon ihm am Schwanze, leckten die heranschleichenden Wellen. Entsetzt brach es in ein herzbrechendes Gebrüll aus.
Da stürzte die alte Bärin auch schon zurück, bis zu halber Höhe ihrer Weichen mit rotem Schlamm bedeckt und die zottige Brust mit Kot bepanzert. Sie packte das Junge mit ihrem Fang im Genick und versuchte, es herauszuziehen, aber sie sah bald, daß eher das Fell als der Schlamm nachgeben würde. Die Flut drohte in nächster Nähe und so schob sie kurz entschlossen ihre Tatzen unter die Hinterkeulen des Jungen und hob es mit einem mächtigen Ruck und unter lautem Luftknall der zähen Masse heraus. Der Ruck beförderte das Junge gleich zehn Fuß weit Hals über Kopf der Sicherheit näher. Ehe es sich wieder aufgerafft und ärgerlich mit den kleinen Tatzen den Schlamm fortgewischt hatte, der sein Gesicht verschmierte und es halb blind machte, war ihm die Mutter wieder zur Seite, stupfte es mit der Nase vorwärts und half geschickt mit den Vordertatzen nach.
Ganz allmählich nur, kaum merklich, stieg jetzt die Fläche nach dem Ufer an, so daß die Flut mit immer wilderer Eile anzuschwellen schien. Die Bärin war jetzt von ihren Anstrengungen, das Junge voranzubringen, derart in Anspruch genommen, daß sie die »feine Nase« für die »Honigtöpfe« zu verlieren schien. Sie stupste das Junge direkt in einen hinein, zog es aber unzeremoniell schnell wieder heraus, ehe es in den Schlamm einsinken konnte. Jetzt hielt sie einen Moment inne, um die Fläche nach einem neuen Ausweg abzuspähen, ehe sie den aber finden konnte, hatte die Flut sie schon erreicht und ihre Branten planschten in dem gelben Wellengekräusel.
»Jetzt gilt es schwimmen, alte Dame!«, dachte der erregt Beobachtende hinter seiner Fichte oben auf der Klippe. Als die immer mehr um sich greifenden Fluten jetzt schon ein paar Meter vor den Bären die Schlammfläche überfluteten, konnte die Alte den Weg nicht länger untersuchen und es blieb ihr nichts übrig, als blind voranzustürzen. Sie faßte das laut aufquietschende Junge im Nacken und eilte dem Ufer zu. Das Glück war ihr günstig. Sie überholte die Flut fast um Körperlänge, dann hielt sie inne und ließ das Junge fallen. Doch der Stillstand war verhängnisvoll. Der Boden gab unter ihr nach. Sie war in einen »Honigtopf« geraten, dessen eingetrocknete Decke sie wohl während ihrer schnellen Bewegung getragen hatte, sie nun aber mit um so unerbittlicherem Griff erfaßte. Mit all ihrer riesigen Kraft versuchte sie freizukommen. Vergeblich! Ihre Branten vermochten nirgends festen Grund zu fassen.
Von Schreck und Verzweiflung erfaßt, brüllte sie laut auf mit hoch in die Luft gereckter Schnauze, als flehe sie den klaren, blauen Himmel um Rettung an, während das Junge voller Entsetzen ihr auf den Rücken zu klettern versuchte.
Der rauhe Schrei war jedoch nur die Aeußerung einer schnell überwundenen Schwäche gewesen. Im nächsten Augenblick schon versuchte die unbezähmbare Alte wieder, still und systematisch, sich frei zu machen. Mit beiden Vorderbranten tastete sie abwechselnd nach festem Boden unter dem Schlamm. Aber sie fanden keinen Halt. Schließlich streckte sie ihren Körper flach aus, um ihr Gewicht auf eine möglichst breite Tragfläche zu verteilen. In dieser Stellung vermochte sie sich auf dem Schlamm, der gerade an dieser Stelle zäher als sonst in »Honigtöpfen« war, ganz gut zu behaupten. Inzwischen hatte die Flut sie jedoch wieder eingeholt, aber die Bärin war weit davon entfernt, den ungleichen Kampf aufzugeben. Trotz ihren gewaltigen Kräften, die sie in aufopferndstem Kampfe anspannte, war das Ende doch vorauszusehen: In wenigen Minuten mußten die unheimlich heranzischenden Fluten Mutter und Junges verschlingen. Doch das wunderliche Spiel der Vorsehung – oder des Zufalls – der Wildnis kam ihnen zu Hilfe. Unter dem Strandgut der rastlosen Fundy-Fluten kann man alles finden, was das Wasser zu tragen vermag, von der Streichholzschachtel bis zur großen Feldscheuer. Und gerade jetzt tauchte ein großer Pechföhrenstamm auf. Langsam, sanft sich heranwiegend, von kleinen Wellen beleckt, trieb er dicht vor der Nase der Bärin vorüber, als sie mit den Wogen kämpfte, die ihr schon über die Schultern spülten.
Wie der Blitz fuhr ihre Tatze empor, erfaßte ihn an einem Ende und schob es unter die Brust. Nun konnte sie auch die andere Tatze befreien, und in wenig Sekunden ruhte ihr ganzes Vordergewicht auf dem Stamm. In dieser Stellung gelang es der äußersten Anspannung ihrer Muskeln, auch die Hinterpranken dem tödlichen Griff des Schlammes zu entziehen. Dann faßte sie ihr Junges, das keuchend neben ihr schwamm, mit dem Fang, glitt vorsichtig auf dem in dem Schlamm fest eingebetteten Stamm weiter nach vorn und setzte sich auf ihn nieder, um auszuruhen, indem sie das Junge mit einer ihrer großen Vorderbranten an sich gepreßt hielt.
Sie sammelte Kräfte. Durch die Gefahren der »Honigtöpfe« gründlich erschreckt, wollte sie sich nun lieber der Flut anvertrauen. So faßte sie schließlich das Junge wieder mit dem Fang im Genick und schwamm dem Ufer zu. Kräftiger Wellengang half ihr, sie schwamm sicher, wenn auch, von dem Gewicht des Jungen belastet, etwas mühsam.
Bald faßten ihre Hinterpranken Fuß auf festem Boden, doch sie traute noch nicht recht und zog sie nervös in die Höhe. Wenige Sekunden später fühlte sie aber unzweifelhaft festen Halt und planschte eilig voran, ohne anzuhalten, das zappelnde Junge im Fang, bis sie endlich über den Wasserrand der Hochflut hinaus war.
Dann erst setzte sie es ab. Doch in ängstlicher Hast, den Strand zu verlassen und in die sichere Tiefe der grünen Wälder zurückzukehren, ließ sie das Junge nicht hinter sich her trotten, sondern stieß es vor sich her, so schnell es nur irgend laufen konnte, immer der Klippenschlucht entgegen. Erst im Schutz der zerklüfteten Hänge ließ ihre Eile nach und sie schritt langsamer, aber immer noch das Junge vor sich hertreibend.
Als das schlammige, müde, rührend aussehende Paar in verführerischer Nähe der Fichte vorüber kam, riß der Weidmann unwillkürlich seine Büchse hoch, errötend ließ er sie im nächsten Augenblick aber schon wieder sinken und spähte schnell um sich, ob auch niemand seine Bewegung bemerkt habe.
»Du hast dein Leben verdient« murmelte er und blickte lächelnd der tapferen Bärin und ihrem Jungen nach, bis sie an einer Biegung des Pfades hinter Felsgestein verschwunden waren.