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Tief über der weiten, farblosen, nur leicht gekräuselten Wasserfläche flog ein großer, gespenstischgrauer Vogel mit schweren Schwingen gegen das Ufer. Das lag halb entschlummert in der Junisonne, flach, endlos wie das Meer, nur auf der rechten Seite wogten offene Grasflächen goldgrün gegen den Saum bewaldeter Hügel. Zwischen dem bleichen Wasserspiegel und der stillen Glut des Grases zog sich ein kupferrotes, schmales Band hindurch – weicher, von der Ebbe freigelegter Schlammboden. Gerade da, wo das Gras anfing, ragten die gebleichten Rippen eines alten Tierskeletts nackt aus der trockenen roten Schlammkruste empor. Irgend ein wütender Wirbel von Wind und Wellen hatte es vor langer Zeit angeschwemmt, und nun schien das schmiegsame Gras es barmherzig verhüllen zu wollen. Auf eine dieser bleichen Rippen ließ sich der große, graue Vogel nieder. Er schwankte einen Augenblick unsicher, wie im letzten Stadium der Erschöpfung, dann aber saß er unbeweglich, als sei er ein Teil des Gerippes selbst.
Eine gute Stunde rührte sich der graue Besucher nicht, ob auch ein schimmerndes Pfauenauge mit leise fächelnden Flügeln vor ihm aufleuchtete oder gar eine von einem Wiesel gejagte, verzweifelte Maus dicht hinter ihm im Grase aufquiekte. Bienen und Fliegen erfüllten die Luft mit ihrem sanften einschläfernden Summen zwischen den im Grase verstreuten Kleeblüten, und der heiße Duft der wilden Pastinake schwelte über die Flächen wie unsichtbarer Weihrauch. Glasklar zitterte die stille Luft.
Da begann auf der anderen Seite des roten Bandes ein leises Schäumen und Gischten, das erste Sieden der zurückkehrenden Flut. Ein dicker, schwarzgelber Brummer schlug plötzlich mit lautem, verwunderten Gesumm blitzschnelle Kreise um das Skelett, mehr als einmal dicht an den Federn des bewegungslosen Fremdlings vorbei. Ein Schwarm Strandläufer stieß das Ufer entlang und ließ sich mit erregtem Getriller auf der Schlammkruste unterhalb des Skeletts nieder, ein grauweißes Geflimmer von auf und nieder wippenden Schwänzen.
Aber die große graue Eule bewegte nicht eine Feder. Eine ganze Stunde saß sie mit geschlossenen Augen im grellen Licht der Sonnenstrahlen, während das Leben langsam in ihre zähen, aber erschöpften Nerven zurückströmte. Ein Verirrter aus dem nordischen Polargebiet, war sie bei einem orkanartigen Sturm auf hohe See hinausgefegt worden. Auf einem kleinen Eisberg hatte sie Zuflucht gefunden und war auf ihm gen Süden getrieben, bis der Berg plötzlich in sich zusammenstürzte und sie wieder gezwungen war, den langen Flug nach Land aufzunehmen. Mit Aufwendung ihrer letzten Kräfte hatte sie gerade noch das Ufer erreicht.
Endlich schlug sie ihre großen kugelrunden Augen auf, die wie zwei gelbe Glasscheiben flammten. Die Pupillen waren in dem grellen Licht bis zu stecknadelkopfgroßen Punkten zusammengeschrumpft. Wie aufgezogen drehte sie den runden, katzenartigen Kopf zwischen ihren Schultern und betrachtete die seltsame Umgebung. Ihre Zufluchtsstätte und die Schärfe des Sonnenlichts mißfielen ihr im höchsten Grade. Sie öffnete die weiten Schwingen und hüpfte in das Innere des Skeletts hinab, das zur Hälfte mit Schlamm und abgebröckelten Knochenresten angefüllt war. Hier gab es doch wenigstens einige schattige Fleckchen für die geblendeten Augen, trotzdem die Aussicht durch die Rippen nach allen Richtungen frei war.
Als die betäubende Erschöpfung einigermaßen gewichen war, wurde sich der graue Besucher seines nagenden Hungers bewußt. Er saß noch unbeweglich wie zuvor, jetzt aber mit jedem seiner Sinne auf der Lauer. Sein Gehör war so empfindlich, daß es unzählige, verräterische Laute erhaschte, wo das menschliche Ohr nur einschläfernde Stille empfunden hätte. Da war ein Rascheln, Huschen und Gequiek in den benachbarten Grasflächen, das auf reiche Bevölkerung von Mäusen und anderem Kleingetier schließen ließ. An einer Stelle reichte das Gras dicht bis an das Skelett und streckte seine Halme zwischen den Rippen hindurch. Dahin hüpfte der graue Besucher und wartete hoffnungsvoll, wie eine Katze am Mauseloch. Kaum hatte er so wenige Minuten auf der Lauer gesessen, da spitzte auch schon eine fette Wasserratte mit listigen Aeuglein über das entgegengesetzte Ende des Skeletts und kam vorsichtig in das Innere gekrochen. Hier stipste sie mit der kleinen Nase hier und dort zwischen dem Unrat herum, nach schläfrigen Käfern schnüffelnd. So scharfsichtig sie sonst auch war, entging ihr doch die geisterhafte graue Gestalt, die wie ein Wachtposten steif aufgerichtet am Rande der Grasfläche saß. Der Besucher wartete ruhig, bis die Ratte in erreichbare Nähe kommen möchte, um sie sicher fassen zu können. Seine Sehnen spannten sich zu blitzartiger Bereitschaft. Da schoß ein pfeilartiges Etwas vom Himmel – ein erschreckter Quietsch und die Ratte lag bewegungslos unter den Krallen einer braungesprenkelten Sumpfweihe, die ihr Opfer sofort mit einer Hast zerriß, als sei ihr Frühstück von größter Eile.
Die flaumigen Schwingen des grauen Besuchers hoben sich. Ein sanfter, lautloser Schwung, so wie eine Feder im Windhauch sich erhebt, und ehe die mächtigen Krallen sich in Nacken und Rücken der Weihe schlagen konnten, flüchtete diese. Einen Moment schlugen die braungesprenkelten Flügel über den grauen, und dann setzte sich der Fremdling gierig zur ersten herzhaften Mahlzeit, die ihm seit vielen Tagen vergönnt war. Von der Wasserratte war nicht viel übrig, als er fertig war.
Er wetzte die schwarze Sichel seines Schnabels an einem Klotz Treibholz, sah um sich und hob sich weich in die Lüfte. Er suchte nach einem dunkleren, abgeschlosseneren Platz als die Rippen des Skeletts, auf denen er den ersten Schlaf der Erschöpfung gehalten hatte. Am Fuße der Hügelkette zur Rechten bemerkte er hier und dort sumpfige, mit Schilf und dichtem Buschwerk bewachsene Stellen; dicht daneben ragte eine Gruppe von drei riesigen Wasserpappeln, deren Spitzen einen prächtigen Jagdstand für die Nacht geben würden. Augenblicklich brauchte er aber mehr Deckung vor dem grellen Sonnenlicht, um seiner ausgiebigen Mahlzeit noch eine Siesta anzuschließen. Dem huschenden Rascheln unsichtbarer Jäger unter ihm schenkte er kaum Beachtung, als er jetzt tief über den Grashalmen am Ufer entlang nach dem Sumpfstrich hinüberglitt und sich mitten ins Herz des belaubtesten Gebüschs warf. Ein halbverfaulter Baumstumpf bot ihm dicht über dem Boden einen einladenden Sitz und in einer halben Minute war er die festentschlummertste graue Eule des nördlichen Polarkreises.
Eine geraume Weile, und eine geschäftige, kleine Drossel mit roten Flügelfedern kam plötzlich in das Dickicht geplatzt, um nach schläfrigen Nachtfaltern zu jagen, die dort meist an der unteren Seite der Zweige zu sitzen pflegten. Sie kam auf einem Zweig zu sitzen, etwa einen halben Meter vom Kopf des grauen Besuchers entfernt und starrte neugierig auf die geisterhafte, bewegungslose Erscheinung hinüber. Und wie sie so guckte, öffneten sich plötzlich zwei riesige runde Augen ihr entgegen, grellgelb und schrecklich. Erstarrt saß die Drossel eine Sekunde wie gebannt und stierte mitten in sie hinein, dann aber kehrten ihr die Sinne zurück, und sie fiel mit protestierendem Geschrei rücklings vom Stengel und flatterte entsetzt aus dem Schreckensbusch. Der graue Fremdling drehte langsam seinen Kopf, um zu sehen, ob da noch andere solcher Eindringlinge seien. Dann schlief er ruhig weiter. Etwa eine halbe Stunde später schob ein schwarzbrauner Nörz plötzlich seine spitze Nase durch das Dickicht. Die boshaften Lichter saßen dicht nebeneinander in dem dreieckigen Kopf und gaben ihm einen grausamen Ausdruck. Sie hatten sofort die schlafende Gestalt des grauen Besuchers entdeckt und glühten dunkel auf. Im ersten Augenblick wollte sich der Nörz sofort an des Schläfers Kehle stürzen; irgend etwas an der grauen Erscheinung ließ ihn aber zögern, so furchtlos und mit Lust er auch sonst mordete! Er hatte noch nie eine Eule dieser geisterhaften Farbe und dieser Größe gesehen. Sein langer, niedrig gebauter, geschmeidiger Körper glitt schlangenartig bis auf etwa zwei Fuß an den Schläfer heran. Hier zögerte er unsicher. Er glaubte sich lautlos wie ein Schatten bewegt zu haben, aber die Ohren der Eule waren ein Wunderwerk an Empfindlichkeit. Im tiefsten Schlaf hatte der graue Fremdling die Warnung vernommen und gerade, als der Nörz seine biegsamen Muskeln zum Sprunge spannte, öffneten sich vor ihm zwei riesige, bleichglänzende Scheiben mit einem so plötzlichen Licht, grell und hart, daß er unwillkürlich zurückschreckte.
Dem grauen Besucher fehlte es nicht an Witz, in der engschnäuzigen, langen, schwarzbraunen Kreatur mit den boshaften Lichtern sofort den Feind zu erkennen. Seine Schwingen breiteten sich, und er stieg wie von unten angehaucht empor, ließ sich plötzlich wieder sinken und hieb mit seinen messerscharfen Krallen nach unten. Im selben Moment aber sprang der Nörz, den elastischen Körper zu erstaunlicher Länge gedehnt, dem Angreifer an die Kehle. Doch Unwissenheit wurde sein Verderb! Er wußte nicht, daß die dicke Federdecke über Brust und Kehle in der verschwenderischen Daunenfülle einem Panzer gleichkam, den selbst so kühne Fänge wie die seinen nicht durchdringen konnten. Aber dennoch gelang es ihm, die darunterliegende Haut zu erreichen und blutig zu ritzen. Im selben Augenblick jedoch schlugen stahlharte Krallen sich unerbittlich um seine Kehle und seine schlanken Lenden. Das feurige Licht seines Gehirns zuckte noch einmal zu flammender Entrüstung empor gegen das unerbittliche Schicksal, dem er bisher stets entgangen war.
Der graue Besucher war inzwischen wieder hungrig geworden – eine Eule hat eine erstaunlich schnelle Verdauung – und hielt deshalb von dem Fleisch des Nörz eine Mahlzeit, trotzdem es so zäh, faserig und ranzig war, daß wenig andere Fleischfresser sich herbeigelassen hätten, es überhaupt zu berühren, sie seien denn von peinigendem Hunger getrieben. Dann sank er wieder in leichten Schlaf, denn er hatte viel nachzuholen und die schwelende Glut des Nachmittags lastete noch über See und Land.
Es war kurz nach Sonnenuntergang, die Glut war gebrochen, und über die weite Ebene spülten kühlend die ersten schwachen Wellen von Lilak und Amber. Die leise Berührung des Taus entlockte den Blüten neue Düfte und der Nachtfalke schmetterte hoch im Blaßgrün des weiten Himmelszeltes. Da erwachte der graue Besucher zu unternehmender Lebendigkeit. Er flutete aus seinem Versteck empor wie ein Geist, umkreiste zweimal die Stelle, und flog den hohen, einsamen Baumkronen zu, die er in früheren Stunden des Tages bemerkt hatte. In einer der breiten Kronen entdeckte er zwischen gegabelten Aesten eine Ansammlung von ineinanderverflochtenen dürren Zweigen. Lautlos flog er bis zur äußersten Spitze des Baumes empor und ließ sich etwa zehn bis zwölf Fuß über der dunklen Plattform nieder. Die ganze weite Welt lag still und ruhig im schimmernden Zwielicht unter ihm. Und in der Absicht, verborgenes Jagdwild aufzuscheuchen, ließ er seinen unheimlichen dumpfen Schrei ertönen: U-h-u! Im selben Moment wurde es auf dem flachen Holzgeflecht lebendig, und ein kühnes Auge sah herausfordernd zu ihm in die Höhe. Nun erkannte er, daß das flache Holzgeflecht ein Nest war und daß ein riesiger Vogel mit erstaunlich langem Kopf und Schnabel darin saß.
Die große Eule hatte in ihrer nördlichen, verödeten Heimat keinen Rivalen unter dem Federvolk gehabt. Das saß ihr tief im Bewußtsein. Sogar die gefürchtete, braungesprenkelte Sperbereule, die von irgendwoher auf ihr Opfer niederstieß, überstürzte sich bei ihrer Flucht vor dem unbestritten herrschenden Tyrannen der Polarlüfte. Es wäre ihm nie eingefallen, daß diese flachgebauten Nester irgendwie gefährlich sein könnten. In gleichgültiger Siegesgewißheit ließ er sich darauf niederfallen. Aber noch ehe er sich so weit genähert hatte, um zum Hieb ausholen zu können, hatte der Reiher seinen kleinen Kopf zwischen die Schultern gezogen und nur sein langer gerader Schnabel stand wie eine Lanze mit der Spitze direkt gegen den Feind gerichtet, zum Angriff bereit.
Der graue Besucher merkte wohl, welche Waffe ihm drohte und zögerte; im selben Augenblick entrollte sich der schlangenartige Hals des Reihers zu blitzartigem Stoß nach oben, als habe er einen Speer geschleudert. Es war ein Fehlschuß seitens des Reihers. Der Feind hatte die todbringende Waffe erkannt und sich prompt weiter emporgehoben. Gewarnt, aber nicht erschrocken, kreiste er langsam mehrere Minuten über dem Nest, näherte sich, entfernte sich, in genauester Erwägung des ungewöhnten Problems. Die ganze Zeit folgte ihm der Reiher mit gespannten Augen, den Kopf zwischen den Schultern und die Spitze seines langen lanzenartigen Schnabels drohend zum Angriff gezückt. Von welcher Seite sich die Eule auch nähern mochte, auf der federnden Spirale des Halses spielte der Kopf gewandt.
Blitzartig schoß die Eule zum Angriff nieder, der Schnabel des Reihers parierte den Stoß, verfing sich aber in den Flügelfedern und wurde von ihnen niedergerissen. Mit rauhem »quah – ah – ah« suchte der Reiher sich verzweifelt zu einem erneuten Stoß freizumachen, schon aber schlossen sich die eisernen Krallen des Gegners ihm um die Kehle.
Einen Moment später streckte sich der Hals, und der kleine Kopf hing leblos über den Rand des Nestes. Aus dem beim Kampfe zerquetschten Eiern sickerte langsam der Saft durch das lose Geflecht des Nestes. Die große graue Eule riß gierig an dem köstlichsten Festmahl, das ihr je eine Jagd zur Beute gemacht hatte.
Aber die Natur kann Ahnungslose grausam überraschen. Der graue Besucher, in seiner Umgebung nicht zu Hause, hatte vergessen, die Rückkehr des Reihermännchens in Betracht zu ziehen. Er war so mit seiner Mahlzeit beschäftigt, daß er zunächst nicht einmal den schweren Flügelschlag bemerkte. Ueberrascht blickte er deshalb auf – der Schnabel tropfte, das runde, bleiche Gesicht war blutüberströmt – als ein zweiter großer Reiher sich plötzlich auf den Rand des Nestes niederließ. Sein Kopf saß zwischen den Schultern hinter der langen, gelben Lanze des Schnabels. Seine Augen glänzten hart wie Juwelen und trafen die des Mörders ohne jeden Ausdruck von Wut, Furcht oder Haß. Sie waren kalt wie die Diamant-Augen eines Götzen.
Der graue Besucher sprang in die Luft, um den Kampf unter vorteilhafteren Bedingungen zu eröffnen. Diesmal war es jedoch zu spät. Der Kopf des Reihers schoß auf ihn nieder, als wollte er einen Frosch speisen. Der Stoß traf ihn mitten ins Flügelgelenk, zersplitterte es und machte ihn vollkommen flugunfähig. Mit wütendem Zischen stürzte er auf seinen stelzbeinigen Gegner und schlug verzweifelt mit seinen messerscharfen Krallen – in die Luft. Sein hängender Flügel hatte ihn seitwärts gerissen, so daß er sein Ziel verfehlte und vor die Füße des Reihers taumelte. Ehe er sich aufraffen konnte, stieß dieser mit voller Kraft seines mächtigen Halses noch einmal zu und gab ihm den Rest. Der graue Fremdling sank in ein Häufchen zusammen, die Schnabellanze mitten in der Kehle. Seine runden, gelben Augen öffneten und schlossen sich mehrmals, und sein Schnabel klapperte wie Kastagnetten. Dann lag er ganz still, während der Reiher zu seiner vollen Größe aufgerichtet am Rande seines verwüsteten Nestes stand und immer wieder nach der widerstandslosen, grauschattigen Federmasse stieß.