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Regungslos, auf steiler Zinne stand der große braune Dickhornbock, ruhig, sicher, den Windfang witternd gegen die rosige Glorie des Sonnenaufgangs gehoben, die über die eisumstarrten Gipfel des zackigen Horizontes flammte. Die riesigen, gerunzelten Spiralen seiner Hörner lagen über Nacken und Schultern zurück und seine golden schimmernden, schwarzen Lichter, halb geschlossen, musterten regungslos das Chaos von Bergspitzen, Hohlwegen und seenspiegelnden Tälern unter ihm. Totenstille! Nur manchmal trugen verlorene Luftwellen das dumpfe Donnern eines Wasserfalls zu ihm hinauf, der irgendwo, tief unter ihm, im Dämmerlicht über Felsen stürzte. Kein Feind weit und breit, weder in den stillen, schattigen Tälern, noch auf den glühenden Abhängen und Klüften. Der stattliche Bock stand unbeweglich, wie von der Erhabenheit des sich unter ihm dehnenden Bildes fasziniert, den Blick ins Weite gerichtet. Da gellte der Kampfruf eines Adlers dicht über ihm in die Stille. Er zollte ihm weiter keine Beachtung, doch der scharfe, schrille Laut schien den Bann gebrochen zu haben, der über dem Bock lag. Er senkte den Kopf und blickte auf den schmalen flachen Felsvorsprung hinab, der sich unter ihm entlang zog. Dort rupfte ein zweiter Dickhornbock, schwächer gebaut und weniger majestätisch gehörnt als er, mit sechs kleinen spitzhörnigen Mutterschafen die süßen zwischen den Felsspalten wuchernden Grasbüschel.
Tief unten im Schatten des Felsens, auf dessen Gipfel der Bock stand, leuchtete ein weißes Zelt, neben dem sich die zarte Linie eines noch nebelumschleierten Flußbettes hinschlängelte. Trotz all seiner Scharfsichtigkeit entzog es sich dem Sehbereich des Bockes, daß da ein Mann aus dem Zelte getreten war und das Fernglas nach seiner Höhe richtete.
Peter Allen war, von Wanderlust erfaßt, quer durch den Kontinent von den dunklen Tannenwäldern und fruchtbaren Wiesen Neu-Braunschweigs nach den gigantisch chaotischen »Rockies in British Columbia« gestreift. Früher war er Jäger gewesen, jetzt Goldgräber; dennoch war ihm der Weidmannsinstinkt nicht abhanden gekommen, und das prachtvolle Wild da oben auf dem Berggipfel weckte in ihm alte Jagdgelüste, um so mehr, als er gehört hatte, wie schwer ein solcher Bergbock der Rockies in British Columbia zu erlegen war. Er hatte zwei Indianer als Träger bei sich, doch beschloß er, sie nicht an der Jagd teilnehmen zu lassen. Nachdem er die Felsen und Schluchten, die den Standort seines stattlichen Jagdwildes umgaben, genau studiert hatte, holte er seine Büchse, steckte etwas kaltes Fleisch und Zwieback zu sich und gab den Indianern Anweisung, ihn nicht vor Einbruch der Nacht zurückzuerwarten.
Er schritt munter voran und nahm, um die Sonne im Rücken zu haben, seinen Weg um den Berg herum in der Richtung eines aus der Höhe niederbrausenden Flusses. Bald hatte er den Bock aus den Augen verloren, und als er nach etwa einer Stunde angestrengtesten Emporklimmens durch wirres Gestrüpp, über das Kreuz und Quer der Gießbäche hinweg, auf einen Hügel ins Freie hinaustrat, war der Bock von seiner Höhe verschwunden. Doch das tat nichts, er würde seine Spur schon finden.
Auf dem hohen Felsenpfad unterhalb des Gipfels standen die Grasbüschel nur spärlich, und die kurzen scharfen Zähne des Bergwildes hatten sie bald gerupft. Unbefriedigt hoben sie ihre Köpfe. Dem wachsamen Auge des alten Bockes war das nicht entgangen, wie ihm nichts entging, was seine Pflichten betraf. Der Gipfel, auf dem er stand, fiel fast senkrecht nach dem Felspfad ab, und dennoch fanden seine zierlichen Hufe Halt. Mit zwei sicheren, leichten Sprüngen landete er unter seinem Gefolge und schüttelte gravitätisch die prachtvollen Hörner. Dann zog er die nackte Schlucht hinab, die jetzt von dem strahlenden Glanz der leuchtend am Horizont emporflammenden Sonne durchflutet wurde, über schwindelmachende, kaum handbreite Pfade, an gähnenden Abgründen vorbei, seine Herde wie eine Perlenschnur hinter ihm her, in schnellem, leichtfüßigem Troll. Abschüssige Rinnen und Trichter, mit losen Steinen übersät, pflügten sie hinab, übersprangen nachlässig und scheinbar gewichtlos Felsspalten, deren Tiefe sich in Dunkelheit verlor, bis schließlich die dunklen, von zartgrünen Birken umsäumten Föhrenwälder vor ihnen lagen, von steilen Höhen begrenzt und von engen Tälern mit saftigen Rasenflächen durchschnitten.
Hier ging der kluge alte Bock vorsichtiger. Mit der Schärfe aller Sinne hieß es hier vor den ärgsten Feinden, Wölfen, Pumas und Bären sichern. Am äußersten Rande der spärlich zwischen den Felsen sich verlierenden Grasflächen begann der majestätisch gehörnte Führer der kleinen Herde das Gras zu rupfen, während ein Jüngerer Wache stand. Sie waren etwa hundert Meter vom Waldessaum entfernt noch in sicherer Nähe der steilen Felswand, auf deren Höhe den leichtfüßig Flüchtenden auch der behendeste Feind nicht folgen konnte.
Nachdem er seinen ersten Hunger gestillt, prüfte der Alte mit erhobenen Nüstern mißtrauisch den vom Walde heraufströmenden Luftzug. Dann führte er seine Herde weiter, in eine jener engen Schluchten, wo das Gras in üppiger Fülle wucherte. Oder besser gesagt, er trieb sie wie ein Schäfer vor sich her, um sie alle im Auge zu behalten. Er selbst hielt sich im Hintergrund, um seiner kleinen Herde für den Fall der Gefahr den Rücken zu decken. Die Führung hatte eines der ältesten und erfahrensten Bergschafe übernommen, das mit gespitzten Gehören und bebend aufmerksamem Argwohn nach jedem Strauch und Schatten sicherte. Aber nirgends war Gefahr. Bald rupfte die Herde in stiller Hingabe das süße saftige Gras. Sie hatten seit dem vergangenen Jahr nichts so Köstliches geschmeckt. Inzwischen stand der alte Bock unterhalb des Weideplatzes auf einer kleinen Anhöhe und hielt Wacht. Während des Weidens schien sich die Herde wie ein Fächer zu entfalten und wieder zu schließen. Manch eines der Tiere verlor sich seitwärts im saftigen Gras, sobald es aber dem Dickicht näher kam, schreckte es zurück und sprang zu den übrigen. So war eines der jüngsten Bergschafe an eine Stelle gekommen, wo sich im rechten Winkel zu dem Weideplatz ein enges Tal öffnete. Durch immer saftigere Grasbüschel ließ es sich einige Schritt in diese neue Schlucht hinauflocken. Da plötzlich schoß ein graues, schlankes Etwas mit gefletschtem Fang aus dem Untergehölz dicht vor ihm auf den Weg. Entsetzt blökte das junge Tier auf und flüchtete das enge Tal hinan, wirbelte aber blitzartig herum, als es erkannte, daß es sich immer weiter von der Herde entfernte und versuchte, mit geschickten Wendungen an dem Wolf vorbeizukommen. Der hielt es jedoch mit federnden Sprüngen zurück und trieb es dabei unmerklich immer weiter in das einengende Gebüsch. Hier fuhr er ihm mit wildem Satz nach der Kehle. Doch im gleichen Moment schmetterte ihm mitten im Sprung etwas wie ein stahlharter Keil in die Rippen, so daß er in weitem Bogen über das zitternde Jungtier hinweg mit Wucht gegen einen Baumstamm prallte. Der alte Bock war, die Gefahr des jungen Tieres erkennend, angestürmt, gerade noch im rechten Moment wuchtig angreifend. In wilder Panik raste die aufgescheuchte Herde den sicheren Höhen zu. Ehe sich der Räuber wieder zusammenraffen konnte, waren auch der Alte und das Bergschaf bereits nach den Höhen verschwunden. Mit eingezogener Rute schlich der Wolf durchs Gehölz davon.
Der alte Bock sammelte seine Herde auf einem der Felsvorsprünge. Sie scharten sich um ihn, blickten aber mehr als einmal verlangend nach den grünen Hängen hinab. Keines der Tiere war besonders erschreckt, sie fühlten sich im Vertrauen auf ihren Anführer und ihre Geschicklichkeit viel zu sicher. Nur das junge Tier, das dem entsetzlichen Tode so knapp entronnen war, zitterte noch und drängte sich mit bebenden Flanken dicht an seinen Retter, der mit ruhiger Majestät den Waldessaum prüfte, ob der Feind wohl die Verfolgung aufnähme. Doch er sah nichts mehr von ihm.
Mehrere Meilen führte er seine Herde um die Bergseite herum und ließ sie dann auf sicherer Höhe einige Stunden rasten und friedvoll in der unermeßlichen Stille der kahlen, sonnenumglühten Berggipfel Wiederkäuen.
Inzwischen war Peter Allen den ganzen Morgen geklettert und hatte den großen braunen Bock nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekommen. Müde vom vielen Steigen, und von den unzähligen Fliegen bald zur Raserei gebracht, gestand er sich mißmutig, daß die Jagd auf Bergschafe doch nicht so leicht war, wie er sich das vorgestellt hatte. Endlich, etwa um die Mittagsstunde, fand er wieder ihre Spur, die nach einem Grashang führte. Mit einem Stoßseufzer der Erleichterung stand er still, um zu rasten, erfrischte sich an einer klaren Wiesenquelle, aß seinen Speck und Zwieback und zündete sich dann eine Pfeife an. Die Spur war nicht ganz frisch, er hatte also nichts zu versäumen. Schließlich machte er sich wieder an die Verfolgung und klomm weiter auswärts, bis plötzlich ein schwindelnder Abgrund die Fährte zerriß. Man hätte meinen sollen, kein unbeschwingtes Wesen hätte diesen unheimlichen schwarzen Schacht überqueren können. Allen wandte sich ab und schritt in schräger Linie den Berghang wieder hinab, in der Annahme, daß die Herde zu ihren Weideplätzen zurückkehren würde.
Nachdem er eine Reihe grasiger Berghänge überschritten hatte, auf denen keine Spur zu erkennen gewesen, fand er sich plötzlich in einem Irrgarten von niedrigen Hohlwegen, dichtem Gestrüpp und schmalen grünen Wiesenstreifen. Es war mit Bestimmtheit zu vermuten, daß die Herde sich hier nicht aufhalten würde. Mit unterdrücktem Fluch blickte er verzweifelt nach einem Ausweg um sich. Plötzlich erhellte sich sein Gesicht. Da, gerade die steilste, unpassierbarste aller Schluchten hinab, führte wieder die Spur. Sie schien ganz frisch, und Allen wähnte, die Blätter noch hinter den Tritten sich heben zu sehen.
Geräuschlos glitt er ins bergende Dickicht zurück. Das Gestrüpp war dicht, der Abhang steil und qualvoll zerrissen. Doch nichts konnte ihn jetzt ermüden. Er fühlte sich seiner langersehnten Trophäe sicher und strahlte in der Vorfreude dieses stolzen Besitzes. Plötzlich öffnete sich ein Ausblick durch die Büsche, und er sah, kaum zweihundert Meter entfernt, ein grasendes Bergschaf vor sich. Langsam tat es Schritt für Schritt, bis es hinter einer Bodenwelle verschwunden war. Jeden Nerv in erregter Erwartung gespannt, schlich Allen weiter, jeden Augenblick auf das Erscheinen des Bocks gefaßt. Nicht der leiseste Zweifel beschlich ihn, ob er auch der einzige Dickhornjäger dieser Gegend sei.
In der Tat war ein zottiger, schlauer, alter Graubart in demselben Augenblick ebenfalls in leidenschaftlicher Verfolgung der Herde begriffen. Er liebte Schaffleisch und wußte auch, wie schwierig es zu erlangen war. Er hatte sich deshalb so geschickt und leise herangeschlichen, daß selbst Peter Allen ihn nicht hatte nahen hören. Als der Bär jedoch plötzlich des Mannes ansichtig wurde, schreckte er zurück. Zwar hatte er in dieser abgeschiedenen Gegend noch kein Lehrgeld für die Erkenntnis zu zahlen brauchen, daß der Mensch das weitaus mächtigste aller Geschöpfe ist, aber instinktiv fühlte er, daß dies unscheinbare Wesen nicht zu unterschätzen sei. Indessen, er war gereizt, denn der Mann war in sein Revier eingedrungen und jagte auf sein Wild. Und in diesem Punkte ist der Bär empfindlich. Aber noch kämpften Wut und Aengstlichkeit in ihm. Er schlich vorsichtig näher an Allen heran, wie dieser seinerseits den Bock anpirschte. Hoch über ihnen im Tiefblau des Himmelszeltes kreiste ein Adler. Seine harten, regungslosen Augen fingen mit schnellem Blick das sich unter ihm anhebende Drama auf.
Trotz seiner riesigen, plumpen Gestalt schlich sich der Bär mit erstaunlicher Geschicklichkeit lautlos voran. Er war behender selbst als Peter Allen, so daß er ihm bald ganz nahe war, nur noch durch einen schmalen Wiesenstreif von ihm getrennt. Gerade spannte er die Muskeln zum Sprung, als der Mann plötzlich stillstand und etwas wie einen langen braunen Stock an die Schulter hob. Ueberrascht stutzte der Bär.
Peter Allen hatte den Bock ganz plötzlich voll in Sicht bekommen: noch nicht hundert Schritt von ihm entfernt stand er Wache. Es war ein prachtvoll leichter Schuß. Doch als er in sicherer Stellung eben zielen wollte, sprang der Bock ganz plötzlich in die Luft und war wie der Blitz hinter dem Hügel entschwunden. Ueberrascht ließ Peter Allen die Büchse sinken. Da fühlte er etwas Unerklärliches, Unheimliches im Nacken, wandte sich schnell um und gewahrte den Bären, der auf ihn zustürzte. Allen riß die Büchse hoch. Nur ein Schuß durch den Kopf konnte ihn retten. Ein Herzschuß wirft nicht immer einen Bären sofort zu Boden. Schon sah Allen die dunkle Gestalt über sich. Er zielte, zog ab und – wer kennt die Launen des Geschicks – rutschte im selben Moment auf dem lockeren Erdreich aus. Der Schuß schlug dem Bären durch die rechte Schulter, und Allen rollte trotz seinen verzweifelten Haltversuchen acht bis zehn Fuß den Abhang hinab. Die Büchse war dabei gegen einen Baumstamm geschlagen und ihm aus der Hand etwa zehn Fuß den Abhang hinabgeschnellt. Hastig strauchelte er nach ihr hin – da rutschte sie weitere zwölf Fuß hinab. Im selben Moment sah er schon den Bären wie einen Felsblock auf sich herabkommen. Der Bär war zuerst durch den Einschlag der Kugel zurückgetaumelt, dann aber wild vor Schmerz und Wut seinem Feinde nachgestürzt.
In den nächsten drei Sekunden, in denen Peter Allen die Büchse zu erhaschen suchte, schossen ihm wohl tausend nebensächliche Gedanken durch den Kopf, doch hinter diesen allen stand die kalte Gewißheit, daß sein Schicksal besiegelt sei. Er würde die Büchse nicht erreichen, ehe der Bär auf ihn niedergeschmettert war. Da wieder trieb das unberechenbare Geschick sein Spiel.
Den schmalen Wiesenhang herauf kam plötzlich der braune Bock gerast mit vor Entsetzen stieren Lichtern. Ein Puma hatte sich auf eines der Muttertiere gestürzt und ein zweiter Puma war aus dem Gebüsch gebrochen, hatte aber sein Ziel verfehlt. In wilder Jagd waren die Tiere davongejagt. Da sah der Bock den Bären – mitten im Wege – zum Ausweichen war weder Zeit noch Raum und die Gefahr Auge in Auge ist nicht zu vergleichen mit der im Rücken. Und wenn der Bär ein Mastodon oder ein Megatherium gewesen wäre, es wäre dem vor Panik wilden Tiere gleich gewesen. Er senkte seinen mächtigen Kopf und rannte auf die dunkle Masse los, die ihm und den Seinen den Weg sperrte.
Der Bär hatte in diesem Augenblick der Rache kein Auge für den Bock gehabt, und ehe er sich's versah, war der Bock vor ihm. Erschreckt sprang der Grizzly zur Seite und rollte den Hang hinab.
Allen hatte sich kaum Zeit gelassen, einen Blick auf das unvergleichliche Zwischenspiel zu werfen, sondern war, so schnell er konnte, nach der Büchse geeilt, und als der Bär sich aufrichtete und nach seinem ersten Feinde Ausschau hielt, fuhr ihm eine Kugel mitten ins Gehirn, so daß er zu einem riesenhaften Pelzhaufen in sich zusammensank. Ueber ihnen, den steilen Hang hinan, raste der Bock in wilder verwegener Jagd, die ganze Herde hinter ihm.