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Der Hauptwolf von Quah-Davic

Er war übernatürlich größer, kraftvoller und ungezügelt wilder als irgend einer seiner grauen geisterhaften Rotte, die plötzlich aus dem Norden herabgekommen war und die einsam verstreut liegenden Siedlungen des unteren Quah-Davic-Tales schreckte. Die Abergläubischen sagten, er sei ein »loup-garou« oder Werwolf und resignierten in dem Glauben, daß es unmöglich sei, gegen die List und Macht eines derartigen übernatürlichen Wesens anzugehen. Ihre nüchterneren Kameraden dagegen verwirrte und verstimmte die Mystik, mit der sich der unheimliche Wüterich zu umgeben verstand. Sie kannten wohl den grauen oder »wolkigen« Wolf des Ostens, dieser aber war größer als zwei von jenen zusammen und wilder und unerschrockener als mindestens zehn von ihnen. Die Rotte zählte nur etwa ein halbes Dutzend Wölfe, ihr mächtiger Anführer aber mit den langen Fängen und den schlanken langen Flanken leitete sie mit derartiger List, daß sie äußerst gefürchtet waren und das nicht nur im Tale selbst, sondern in weitem Umkreise darüber hinaus. Wenn nun die Ansiedler endlich auszogen, mit Hunden und Flinten und allem Nötigen versehen, um die von dem Rudel gerissenen Schafe, Schweine und anderes Vieh zu rächen, so schien das ganze Land weit und breit nicht einen einzigen Wolf aufzuweisen. Dennoch kannte man wetten, daß noch in derselben Nacht, oder auch in der nächsten, einer der Hunde verschwunden war, die an der Jagd teilgenommen hatten. Fallen, vergiftetes Fleisch und ähnliche Mittel erwiesen sich als ebenso nutzlos wie die Jagd mit Gewehren, trotzdem die Fallen bestimmt von der Rotte beschnüffelt worden waren.

Endlich jedoch sollte sich das Mysterium trotzdem klären. Es war Arthur Kane, der junge Schullehrer von Burnt-Brook-Croß-Roads, der die Wahrheit fand, – denn er ahnte von Anfang an, daß die Lösung eine ganz einfache sei.

Ein Goldgräber, dem das Glück hold gewesen, hatte bei seiner Rückkehr von Klondike nicht nur Gold und einen guten Appetit, sondern auch ein schlankes, zügellos wildes Junges von einem Wolfswurf der weiten nördlichen Steppen mitgebracht. Der Jungwolf hatte sich jedoch von seiner Fessel losgenagt und war entkommen. Inzwischen war er zu der Stärke und Gestalt herangewachsen, die sein rechtmäßiges Erbe als Nordwolf war, und er hatte sich schließlich kraft dessen zum Herrn der kleinen Rotte seiner zarter gebauten östlichen Stammesgenossen gemacht. Der »graue Master«, wie ihn Kane getauft hatte, war also kein »loup-garou«, keine in Wolfsgestalt verbannte menschliche Seele, sondern ganz einfach ein großer Wolf aus Alaska.

Aber das war auch schon genug. Ein Wolf, der einem voll ausgewachsenen schottischen Schäferhund mit einem einzigen Biß das Rückgrat brechen und mit dem Leichnam flüchtig werden kann, als sei es ein Bündel Flicken, ist ganz gewiß kein besonders wünschenswerter Nachbar für die Ansiedlungen in den Wäldern.

Das ganze Quah-Davic-Tal hinauf und hinab war von dunklen Tannenwäldern durchzogen, in denen prachtvolles Rotwild lebte. Trotzdem aber schien es der geheimnisvolle graue Wüterich immer wieder auf die Ansiedlungen der Menschen abgesehen zu haben, denn seine Rotte spukte fortgesetzt um die Gehege der Ansiedlungen, mit einer aufdringlichen Anhänglichkeit, die geradezu einer unverschämten Herausforderung gleichkam. So kam es, daß der Groll im ganzen Tale immer mehr stieg – bis er schließlich an einem Punkte angelangt war, der den Plan zu einem einmütigen Rachefeldzug heranreifen ließ. Der Plan war so schlau erdacht, daß selbst einem so listigen Strategen wie dem »grauen Master« keine andere Wahl geblieben wäre, als zu fliehen oder zu fallen. Plötzlich sollten jedoch Dinge geschehen, die die Gefühle der Ansiedler wieder vollkommen in Verwirrung brachten und ein gemeinsames Vorgehen ganz unmöglich machten.

In einer Hütte, etwa drei Meilen von dem nächsten Nachbar entfernt, lebte die Witwe Baislay ganz allein mit ihrem Sohn Paddy, einem Knaben von etwa zehn Jahren. Eines Nachts, es war mitten im Winter, wurde die Witwe plötzlich schwer krank und Paddy, unbekümmert um die Schrecken nächtlicher Einsamkeit, lief, was er laufen konnte, aufgeregt davon, um beim Nachbar Hilfe zu holen. Der Mond stand hoch und voll am Himmel, und die ausgestorbenen, stillen Waldwege leuchteten kreuz und quer wie schmale, weiße Bänder durch das stille, schwarze Meer der Tannenwälder. Als der Knabe bei den Nachbarn angekommen war, kannte deren Erregung und Verwunderung keine Grenzen, denn sie wußten genau, welcher Gefahr das Kind ausgesetzt gewesen, und einer der ihn zurückgeleitenden Leute, ein kühner Jäger, der den grauen Herrscher schon oft vergeblich zu stellen versucht hatte, konnte nicht unterlassen, vom Wege abzuweichen und den Schnee unter den dichten Pechtannen zu untersuchen, die die Waldschneise einrahmten. Vielleicht narrte ihn die Erregung des Augenblicks, aber als er durch die Tannen blickte, war es ihm, als habe er einen grauen Schatten in den Fichten huschen und phosphoreszierende Seher kurz aufleuchten sehen. Kein Zweifel aber konnte an den frischen Spuren bestehen, die er im Schnee fand. Es waren ganz deutlich die der Wolfsrotte, und unter ihnen war auch die größere Spur ihres Anführers zu erkennen. Dicht am Rande der Dunkelheit führten die Spuren entlang, nicht näher und nicht weiter als einige Klafter von der Spur des Knaben entfernt.

Warum hatte der »graue Master«, vor dessen Stimme allein schon die größten und stärksten Hunde der Ansiedlung wie gepeitscht davonliefen – warum hatte er und sein Rudel diese leichte Beute verschmäht? Es war ihnen allen unerklärlich, und die Abergläubischen fanden sich nur noch in ihrer Meinung bestärkt, daß man es hier mit einem übernatürlichen Wesen zu tun habe. Einigkeit zu einem gemeinsamen Rachefeldzug an dem Rudel war seitdem jedenfalls nicht mehr zu erzielen, und es mußte wieder jedem einzelnen der Ansiedler überlassen bleiben, den Krieg nach seiner Weise und Anschauung fortzusetzen.

In Wahrheit jedoch war es einfach so, daß der große Wolf während seiner Gefangenschaft und unter der Führung eines meisterhaften Herrn viel gelernt hatte. Sein Scharfsinn hatte aber auch begriffen, vielleicht nur dunkel, aber doch wirksam, daß der Mensch das gefährlichste Wesen und die einmal geweckte menschliche Rache unabänderlich und unvermeidlich ist. Diese Vorstellung hatte er auch seinem Rudel scharf eingeprägt, und das genügte, denn sogar dem stumpfsten Gehirn unter den jagenden und kämpfenden Tieren der Wildnis wäre es selbstverständlich erschienen, daß nichts die Rache des Menschen so sicher auf sie lenken würde, als wenn sie seine Jungen anzugreifen versuchten.

 

Keiner der Ansiedler im Tale beschäftigte sich aber so eingehend mit der merkwürdigen Erscheinung des grauen Wolfes wie der junge Lehrer. Er war froh, als der geplante gemeinsame Feldzug gegen den grauen Räuber plötzlich zunichte wurde, denn in seinen Augen war ein Tier, das sich derart in seiner Art auszeichnete, zu gut für den Schuß eines ärgerlichen Ansiedlers, nur um der Rache für seine Schweine oder Schafe willen. Er hatte daher beschlossen, das Wesen des »grauen Masters« und dessen Eigenheiten zu studieren und alle Pläne, die auf die Vernichtung des Tieres ausgingen, zu vereiteln, soweit das in seiner Macht stand, und soweit er sich dabei nicht unpopulär machen mußte.

Da es jedoch nicht unwahrscheinlich war, daß sein freundliches Interesse seitens des »grauen Masters« nicht erwidert wurde, pflegte Kane auf seinen Wanderungen durch die hell erleuchteten, blauweißen Mondscheinnächte stets seine sichere Winchesterflinte bei sich zu führen, eine kurze Axt und das übliche Jagdmesser im Gürtel. Solchermaßen ausgerüstet fühlte er sich in keiner Weise unbehaglich oder irgendwie beunruhigt, selbst wenn unter dem festen Riemengeflecht seiner Schneeschuhe die Kruste des mondbeleuchteten Schnees knuspernd zusammenbrach und der feine Laut verräterisch die Nacht durcheilte. Dabei war er jedoch in keiner Weise tollkühn und hielt sich vorsichtig immer an die offenen Wiesenstrecken oder Flußläufe oder schneebedeckten Seen und vermied die dichten Schatten des Waldes.

Doch wie den Ansiedlern, so erging es auch ihm! Gerade in den Nächten, in denen er unterwegs war, schien sich das Rudel nach einer anderen Gegend verzogen zu haben, denn es war weder Geheul zu hören noch war in meilenweitem Umkreise von Burnt-Brook-Croß-Road eine frische Spur zu entdecken. Schließlich dachte Kane: »Ein Topf, den man beobachtet, braucht lange Zeit zum kochen!«, nahm seine Angelschnur und Köder und ging das weite, weiß schimmernde Flußbett hinauf bis nach dem zwischen Hügeln eingebetteten See, aus dem der Waldstrom entsprang. Da er sich nun nicht gerade auf der Wolfsjagd befand, nahm er auch den Hund des Nachbars mit, einen wertlosen gelben Bastard, der aber sonst ein freundlicher und stiller Kerl war. Nachdem er sich flüchtig ein Schutzdach von biegsamen Pechtannenzweigen im vollen Strahl des Mondlichtes etwas abseits vom Ufer gebaut hatte, brach er Löcher ins Eis und begann seine Angelschnur nach den dicken Seeforellen hinabzulassen, die dieses tiefe Wasser beherbergte. Das Glück war ihm günstig und bald war er so in seinen anregenden Sport vertieft, daß er den »grauen Master« ganz vergessen hatte.

Es war schon spät nachts, denn Kane hatte in den ersten Nachtstunden geschlafen und war erst ausgezogen, als der Mond hoch am Himmel stand. Das blasse Licht leuchtete ihm bei seiner Fahrt. Es herrschte windstille Kälte, die Luft prickelte und der schiefe bleiche Mond warf ein geisterbleiches Licht. Plötzlich, ohne nur den leisesten Laut von sich zu geben, kroch der Hund dicht hinter Kane's Beine. Kane fühlte, daß er am ganzen Körper zitterte und sah überrascht auf – nicht hundert Schritt von ihm entfernt saß auf einer nackten Felserhöhung eine hohe, graue Gestalt und starrte in den Mond – der »graue Master«! –

Kane fühlte, wie ihm langsam eine Gänsehaut bis unter die Haarwurzeln kroch, so plötzlich war die Erscheinung in seinen Gesichtskreis getreten und hatte ihn durch das vollständige Ignorieren seiner Anwesenheit verblüfft. Der Wolf wirkte auf der Anhöhe infolge der geheimnisvollen Beleuchtung des fahlen Mondlichtes ganz übernatürlich groß, und auch sein selbstsicheres, ja anmaßendes Benehmen widersprach so vollkommen dem, was Kane bisher von Wölfen bekannt war, daß er im Augenblick den Abergläubischen hätte recht geben mögen, die ihn als »loup-garou« bezeichneten.

Kane wußte, daß er sich vollkommen regungslos verhalten mußte, um den »grauen Master« beobachten zu können, und er bedauerte schon, den Hund mitgenommen zu haben. Das kluge Tier schien aber keine Neigung zu verspüren, die Aufmerksamkeit des großen Wolfes auf sich zu lenken. Er hatte sich schon hinter Kane's Beine verkrochen und verhielt sich vollkommen regungslos, abgesehen von einem heftigen Zittern seines Körpers.

Einige Minuten regte sich kein Hauch, die stille, weiße Mondscheinwelt schien zu Eis erstarrt. Kane fühlte, wie auch ihm die Kälte bis an die Knochen kroch, weil er sich ihr so regungslos preisgab. Er sah sich schließlich gezwungen, seine dick behandschuhten Hände an die Ohren zu heben. Er tat es ganz vorsichtig, doch das schien gar nicht einmal notwendig zu sein, denn der Wolf beachtete ihn ja doch nicht. Seine im Mondlicht grün funkelnden Seher hatten nur einmal aufgeleuchtet, als sie zu den Ufern des Sees und den dunklen Rändern der Tannenwälder hinüberforschten.

Diese ausgesuchte Gleichgültigkeit, mit der der Wolf Kane wie ein Wacholdergebüsch übersah, konnte nur vorgetäuscht sein, aber Kane war geduldig und entschlossen herauszufinden, was das Spiel zu bedeuten habe. Gleichzeitig konnte er sich aber eines unruhigen Gefühls nicht erwehren. Wo war die übrige Rotte? Von Zeit zu Zeit blickte Kane forschend hinter sich in das alles verhüllende Dunkel der Tannenwälder.

Endlich, als habe er sich überzeugen wollen, daß er auch wirklich allein sei, streckte der Wolf seinen Kopf in die Höhe und öffnete seinen Rachen zu einer unheimlich durch die nächtlichen Wälder heulenden Serenade.

Sobald er innehielt, konnte man von weit her, aus all den verstreut liegenden Ansiedlungen das nervöse Bellen der Hunde hören, die ihn haßten und doch vor ihm zitterten. Aber nicht ein einziger Wolf stimmte in das Geheul des »grauen Meisters« mit ein. Die Rotte war wie von der Bildfläche verschwunden, und Kane konnte sich nicht genug wundern, welcher Befehl sie so gut im Zaume hielt, wo der Instinkt ihnen zu antworten gebieten mußte. Der graue Hauptwolf schien seinerseits mit seinem Gesang äußerst zufrieden, denn immer und immer wieder stimmte er seine Hymne an den Mond an, so daß Kane schließlich die Geduld verlor. Er wünschte eine Veränderung in dem Programm und hob seine Winchesterbüchse. Sssssst – sauste eine Kugel pfeifend über den Kopf des Wolfes. Der spitzte die Gehöre und sah überrascht um sich, dann aber nahm er ganz ruhig seine Serenade wieder auf. Kane reizte die Nichtachtung, die das Benehmen des Wolfes zur Schau trug so, daß er eine zweite Kugel wenige Zoll vor den Vorderläufen des Wolfes in den Schnee schoß. Diesmal war die Wirkung besser. Das große Tier schnüffelte neugierig auf der Stelle herum, wo die Kugel eingeschlagen, erhob sich dann und starrte vielleicht eine halbe Minute steif hinüber, so daß Kane einen Angriff erwartete. Aber nichts erfolgte weiter, als daß der graue Hauptwolf ihm den Rücken wandte und langsam davontrottete, ohne auch nur ein einziges Mal zurückzublicken. Er suchte nicht einmal Deckung, sondern trottete in vollem Mondschein und leichtem Schußlicht etwa hundert Schritt weit und verschwand dann erst im Dunkel des Tannenwaldes.

Kane sah das schimmernde Flußbett hinab und merkte, daß der sinkende Mond es bald den Schatten der Wälder überlassen würde. Es war also höchste Zeit zum Aufbruch, wenn er zurückwollte, solange es noch hell war. Schnell sammelte er seine inzwischen steif gewordene Beute in den Korb und schnallte ihn auf den Rücken, um beide Hände frei zu haben. Dann machte er sich auf und eilte mit den langen, leichten Schritten des geübten Skiläufers das Flußbett hinab. Der Hund war erleichtert aus seinem Versteck hervorgekommen und umkreiste ihn wieder ganz vergnügt. Er schien im Vertrauen zu der Tapferkeit seines Begleiters selbst wieder Mut geschöpft zu haben und sprang ihm sorglos drei bis vier Schritt voraus.

Der Schatten der Wälder deckte bereits das halbe Flußbett, so daß nur noch in der Mitte ein fünf bis sechs Schritt breiter Lichtstreif verblieb – auf dem eilte Kane unaufhaltsam schnell auf seinen Schneeschuhen dahin, die schattigen Ränder seines Pfades scharf im Auge behaltend.

Er hatte etwa eine Meile zurückgelegt, als ihm plötzlich ein verräterisches Prickeln im Nacken verriet, daß er scharf aus der Dunkelheit heraus beobachtet wurde. So sehr er sich aber anstrengte, es war nicht die leiseste Bewegung unter den Tannen zu sehen oder zu hören. Auch der Hund, der mit seinem klaren Instinkt ihm wohl als bestes Warnungszeichen dienen konnte, lief unbefangen weiter vor ihm her.

Er wollte sich soeben einen Narren schelten, der sich selbst exaltierte und seinen Nerven die Zügel schießen ließ, als plötzlich aus dem dunklen Gezweig direkt vor ihm eine langgestreckte, geisterhaft graue Gestalt hervorschoß, über den Hund herfiel und im selben Augenblick auch schon wieder mit seinem Opfer in der Dunkelheit verschwunden war; nur der Schreckensschrei des Hundes stempelte den Augenblick zur Wirklichkeit. Erschreckt und gereizt schoß Kane aufs Geratewohl in die Dunkelheit hinein, besann sich jedoch, daß sein Kugelvorrat zu diesem nutzlosen Gebahren zu gering war. Er fühlte nach seiner Axt und seinem Jagdmesser, doch sie saßen, wie sie sollten, lose zum sofortigen Gebrauch im Gürtel. Nachdem er seine Büchse wieder geladen hatte, nahm er hastig seinen Rückweg wieder auf, ohne dabei jedoch seine Flucht zu verraten.

Er konnte deutlich merken, daß ihm nicht allein der graue Meisterwolf, sondern die ganze Rotte seitlich im Gebüsch folgte, trotzdem sich alles totenstill verhielt; nur hin und wieder knackte plötzlich ein Zweig unter den Tannen, der unter dem Schnee verborgen gelegen.

Im selben Augenblick hatte Kane aber auch schon sein Gewehr an der Schulter. Er erwartete jeden Augenblick den Kampf auf Leben und Tod und fühlte sich ganz Herr der Situation, wenngleich sich seine Nerven in fiebernder Anspannung befanden. Plötzlich schoß ein Kaninchen panikgeschlagen über seinen Weg durch den hellen Lichtstreif, aber nichts folgte, und auch die nächsten drei Meilen gaben die Verfolger keinen Laut von sich. Endlich, es schienen viele Stunden vergangen, erreichte Kane das offene Weideland, von wo aus er die ganze Burnt-Brook-Ansiedlung übersehen konnte. Hier schlug er einen kleinen Pfad ein und ließ sich zunächst einmal am Wegrande niederfallen und lachte und lachte, um nur seiner Nervenanspannung freien Lauf zu geben.

Nach diesem Erlebnis war Kanes Interesse an dem geheimnisvollen Tier zu glühender Jagdlust umgeschlagen. Er wußte genau, daß er aus unerklärlichen Gründen von dem grauen Hauptwolf verschont worden, denn trotz seines Vertrauens zu sich selbst wäre der Kampf sehr wahrscheinlich zu seinem Nachteil ausgefallen. Er fühlte sich also gewissermaßen besiegt und durch den Hunderaub sogar noch verspottet. Als aber einige Tage vergangen und seine Rachsucht sich etwas abgekühlt hatte, mußte er sich doch zu seiner alten Anschauung bekennen, daß ein Tier wie der graue Wolfsmeister zu gut war, um einfach niedergeknallt zu werden. Frei durfte das gefährliche Tier aber auch nicht bleiben, und Kane trug sich daher mit dem Gedanken, den grauen Hauptwolf lebend einzufangen und den im Entstehen begriffenen Zoologischen Gärten der College-town, in der er seine Studienjahre verbracht hatte, als Geschenk zuzuführen.

Mehrere Wochen lang hatte Kane nunmehr bereits Fallen ausgelegt, Fallen jeder Art und auf alle mögliche Weise, und trotzdem sich seine Bemühungen als zwecklos erwiesen hatten, setzte er mit größter Ausdauer und Geduld seine Versuche immer und immer wieder fort. Groß war daher sein Erstaunen, als er eines Tages den grauen Riesenwolf im Bäreneisen eines anderen Fallenstellers fand, der dieses listig ganz in der Nähe von Kane's Falle ohne jeglichen Köder aufgestellt hatte. Das Eisen war mit einer riesigen Kette an einem Baum befestigt, und so sehr der graue Hauptwolf auch zerrte und zog und raste, er war dennoch gefangen. Das Tier hätte sich in seiner leidenschaftlichen Raserei schließlich die gefangene Brante abgebissen, wäre nicht plötzlich Kane erschienen. Das Erscheinen des Jägers nahm die Aufmerksamkeit des Wolfes voll in Anspruch.

Nur einen Augenblick hatte Kane Enttäuschung verspürt, die langersehnte Beute in der Falle eines anderen zu sehen – denn da er den alten Fallensteller kannte, der hier so erfolgreich sein Rivale gewesen, wußte er auch, daß dieser sofort bereitwilligst von seiner rechtmäßigen Beute abstehen würde. Im Augenblick darauf schon kreisten seine Gedanken um die dringendere Frage, was hier zunächst zu tun sei. Wenn er nach der Ansiedlung zurücklief, um Stricke und Riemen und den Maulkorb zu holen, den er sich speziell zu diesem Zweck angeschafft hatte, so lief er Gefahr, daß der alte Fallensteller inzwischen anlangte und seinen Gefangenen niederschoß, um sich den Pelz und die ausgesetzte Prämie zu sichern, oder daß sich der wilde Gefangene selbst befreite. Er versuchte daher, die Aufmerksamkeit des Tieres auf sich zu lenken, indem er das Lasso nach ihm warf. Ganz erfolgreich war er damit zunächst nicht, es sei denn insofern, als die fliegende Schlinge eine derartige stille Raserei in dem Tiere auslöste, daß dadurch die peinigenden Schmerzen in der Brante zweifellos gedämpft werden mußten. Soeben setzte das Tier zu einem wütenden Sprunge nach seinem Feinde an, als es mit einem heftigen und schmerzenden Ruck durch die Kette zurückgerissen wurde. Von der Zwecklosigkeit seiner Taktik überzeugt, kauerte der Wolf auf den Boden nieder und beobachtete mit vor Haß sprühenden Sehern seinen Gegner. Jedesmal aber, wenn die starke Leine sich über seinem Kopf aufrollte, zerschnitten die langen scharfen Fänge die Schlinge mit einem einzigen Biß. Plötzlich kam zu Kanes großer Erleichterung der alte Fallensteller und übernahm bereitwilligst seinen Wachtposten. Wie der Wind flog inzwischen Kane auf seinen Schneeschuhen davon und es dauerte nicht allzu lange, bis er mit allem Nötigen und sogar mit einem Schlitten wieder zurückkehrte.

Des grauen Hauptwolfes Schicksal war besiegelt – zwei fliegende Schlingen auf einmal konnte er nicht parieren. Mit einem Ruck war er plötzlich für wenige Augenblicke der Bewußtlosigkeit überliefert und schon gebunden auf den Schlitten gepackt, ehe er sich wiederfand. Er konnte kein Glied rühren und seine Fänge waren in ein seltsames Geflecht von Riemen und Stacheldraht eingeschlossen, während er in diesem schändlichen Zustand auf dem Schlitten durch den Wald gezogen wurde – durch seinen herrlichen freien Wald, als dessen Herr er sich stets gefühlt hatte. Die einzige Erleichterung war, daß das mörderische Ding von seiner Pfote entfernt worden, doch der Schmerz der Wunde brannte nach seiner lindernden feuchten Zunge.

Die nächsten Wochen waren arbeitsreich und nicht ohne Gefahr für Kane, der Gefängniswärter spielen mußte, bis er den grauen Riesenwolf abliefern konnte. Sein Respekt vor dem zügellosen Sinn seines Gefangenen war in dieser Zeit nicht geringer geworden, aber er verspürte nicht die leisesten Gewissensbisse über das Schicksal, dem er das Tier auslieferte, sein freudiger Stolz, solch unvergleichliches Exemplar dem Zoo ausliefern zu können, blieb völlig ungetrübt. Mit reinsten Gefühlen der Genugtuung las er daher auch das Dankschreiben der Zoologischen Gesellschaft für die wertvolle und gewissermaßen einzig dastehende Schenkung.

 

Es war etwa ein und einhalb Jahre später, als Kane Gelegenheit hatte, die Stadt seiner Alma Mater wiederzusehen; und sobald es ihm möglich war, eilte er nach den Zoologischen Gärten, die sich inzwischen vergrößert hatten. Mit sicherem Instinkt hatte Kane bald den Käfig gefunden, den er suchte. Er grenzte an den Doppelkäfig zweier prachtvoller Pumas. Als Kane sich näherte, sah er die ihm so bekannte, graue Gestalt mit montoner Ruhelosigkeit am Gitter hin und her laufen, und als er dicht an den Käfig herantrat, bemerkte ihn der Wolf gar nicht, sondern seine Seher schienen von fernen Visionen umdämmert. Als Kane den Ausdruck des Blickes sah, der sonst so leidenschaftlich sprühen konnte, mußte er unwillkürlich daran denken, wessen sie sich erinnern mußten und wonach sie krankten. Sein Herz begann in plötzlichem Verstehen des hier geschehenen groben Unrechts vorwurfsvoll zu schlagen. Wie hatte er es über sich gebracht, dieses prachtvolle Tier zu dieser schändlichen Verbannung zu verdammen? Gerade der Tod in der Freiheit wäre das mindeste gewesen, was ihm zukam! Als Kane so in seine Gedanken versunken dastand, hielt der Wolf plötzlich in seinem unruhigen Lauf inne, und seine feinen Nüstern zitterten. Vielleicht hing an Kanes Kleidern noch etwas von dem Dufte der Tannenwälder oder dem durchdringenden Geruch der Zedernsümpfe. Er sah Kane plötzlich scharf in die Augen.

Es lag zweifellos Erkennen in dem tiefen Blick des Tieres, und Kane in seiner empfindlichen Stimmung glaubte einen zügellosen Haß und unaussprechliche, aber fruchtlose Verzweiflung in ihnen zu lesen. Aber schon nahm der graue Gefangene seine rastlose Wanderung wieder auf. – Es war Kane kaum erträglich, diesem einförmigen Hin und Her länger zuzusehen, in dem eine so trostlose Mattigkeit lag, als hätte es so begonnen, seit er eingeliefert worden, und sollte so weitergehen für immer. Und dennoch, solange sich Kane in der Stadt aufhielt, trieb es ihn täglich aufs neue zu dem Käfig hin, und unbewußt gestalteten sich seine Besuche zu Bußgängen, so weh tat es ihm jedesmal, seinen Gefangenen in diesem Zustand zu sehen. Was sollte er aber tun? Den Gefangenen wieder in Freiheit setzen? Dazu war er zu gefährlich. Am Gitter stehend schwor Kane sich zu, niemals wieder eines dieser freien, von der Natur zügellos geschaffenen Tiere der Wildnis zu Gefangenen zu machen. Er würde sie töten, wenn es sein mußte, oder überhaupt ungeschoren lassen.

Eines Morgens hatte sich Kane frühzeitig auf den Weg gemacht, in der Hoffnung, den grauen Hauptwolf bei der Fütterung anzutreffen. Als er jedoch ankam, waren die Tiere bereits gefüttert und die Käfige wurden gerade gereinigt. Auch gut, dachte Kane, den das Verhalten der Tiere dem Wärter gegenüber interessierte.

Der Oberwärter war ein Mann von langjährigen und reichen Erfahrungen. Er war in einem der größten zoologischen Gärten des Landes angestellt gewesen, hatte aber infolge Trunksucht – ein für Tierwärter unverzeihliches Laster – seinen guten Posten verloren, weshalb die noch unerfahrenen Autoritäten des neugegründeten Zoos seine Dienste zu verhältnismäßig geringem Lohne hatten erstehen können, ja sie gratulierten sich im stillen sogar zu der erworbenen Perle.

An diesem Morgen nun hatte Biddell einen seiner schlimmen Tage, wo er kaum Herr seiner selbst, geschweige denn der Tiere war. Er reinigte soeben den Käfig der Pumas und bemühte sich nach besten Kräften, den Tieren seinen Zustand zu verbergen. Die beiden großen Pumas schienen auch kaum Unnatürliches in seinem Wesen zu bemerken und gehorchten ihm in ihrer verdrießlichen Art wie gewöhnlich. Der Wolf dagegen hatte den Mann im Nachbarkäfig aufmerksam im Auge, trotzdem er rastlos hin und her lief. Biddell hatte soeben die zwei Pumas in den an den Käfig anstoßenden Raum getrieben und die Tür hinter ihnen geschlossen. Jetzt trat er durch die starke Verbindungstür in den Käfig des Wolfes und lehnte die Tür hinter sich an. Als Waffe hielt er eine mit schweren Zinken versehene Gabel in der einen Hand, jedoch nur nachlässig, als sei es schon lange her, daß der finstere Wolf sie zu spüren bekommen hätte, um sich Biddells Autorität bewußt zu werden. Nur unwillig zog der Wolf sich zurück und betrachtete den Mann, wie es Kane schien, mit allem anderen als Furcht in seinen Sehern, während die steifen Nackenhaare sich unheilverkündend über Hals und Schultern hoben. Kane war froh, nicht an Biddells Stelle zu sein; doch der mußte ja sein Geschäft kennen, sollte man meinen.

Als Biddell zu der Stelle kam, wo der Wolf stand, machte letzterer nur zögernd Platz, indem er rückwärts schritt und den Mann mit dunklem, unheimlichem Blick anstarrte. Kane wunderte sich über Biddells Gleichgültigkeit. Sollte er wirklich nichts bemerkt haben? Soeben wollte Kane ihn anrufen, und aufmerksam machen, als sein Blick auf den Käfig der Pumas fiel. Biddell hatte in seinem umnebelten Zustand die innere Verbindungstür des Raumes zu schließen vergessen und die Pumas waren still in den zweiten inneren Raum hinübergeglitten und durch dessen äußere Tür wieder in den Käfig zurück. Die offene Tür war natürlich sofort von ihnen bemerkt worden, und eines der Puma war bereits dabei, mit den Tatzen leise den Spalt aufzustoßen, noch ehe es jemand bemerkt hatte.

Kane stieß einen unartikulierten Warnungsschrei aus, der auch gar keiner weitern Erklärung bedurfte. Biddell war herumgefahren und im selben Moment ernüchtert. Mit einem schneidend scharfen Befehlsruf stand er im nächsten Moment an der Tür, um das Puma zurückzujagen. Doch zu spät. Das Puma hatte sich bereits hindurchgezwängt, und das zweite drängte nach. Im selben Augenblick setzte der graue Riesenwolf mit einem einzigen Sprung durch den Käfig, und der Wärter lag überrannt am Boden, mit dem Gesicht auf der Erde, und über ihm rasten im Todeskampf ineinander verbissen das fauchende und schreiende Puma und der still kämpfende Wolf.

 

Kane war außer sich, schrie nach Hilfe und rüttelte wie von Sinnen an dem Eisengitter, sah jedoch bald die Zwecklosigkeit seiner Anstrengungen ein, es war keine einzige Möglichkeit, in den Käfig hineinzukommen. Kane sah, daß der Wolf sich in der Kehle des Pumas verbissen hatte, daß aber auch die Klauen des großen Pumas tödliche Arbeit verrichteten. Plötzlich landete unter Fauchen und Schreien mit einem Satz auch das zweite Puma auf dem Rücken des Wolfes und riß dabei beide Kämpfenden zu Boden.

 

In diesem Moment rollte Biddell unter dem rasenden Knäuel hervor und schwankte auf die Beine, blutüberströmt, aber anscheinend unverletzt. Mit seiner Waffe und dem bestiefelten Fuß stieß er wütend auf den Haufen und versuchte, die Kämpfenden auseinanderzubringen. Endlich – es erschien Kane eine Ewigkeit – gelang es ihm, das zweite Puma von dem Knäuel hinabzuzwingen und durch die Tür in den Käfig zurückzujagen, den er diesmal hinter ihm schloß.

Bei den beiden anderen Kämpfenden jedoch war nicht mehr viel auszurichten, der Kampf war vorüber. Trotzdem ein Wolf kein ebenbürtiger Gegner für ein Puma ist, hätte sich der graue Hauptwolf mit seinen riesigen Kräften und seiner seinen Geschicklichkeit seinem Gegner gegenüber halten können. Gegen zwei dieser Art war er aber machtlos. Das Puma kauerte, selbst schlimm zugerichtet, erregt knurrend auf dem regungslosen Körper des Wolfes, als Biddell es von seiner Beute fortzwang und in eine Ecke jagte, wo es sich niederlegte und sich unter wildem Peitschen seines Schwanzes die tiefen Wunden leckte.

Der Wärter war nüchtern geworden, ein Blick auf den Körper des Wolfes hatte ihm gesagt, daß alles vorüber sei, und als er sich umwandte, sah er Kanes bleiches Gesicht an das Gitter gepreßt.

»Das hätte ich um tausend Dollar nicht gewollt, Herr Kane«, sagte er mit aufrichtigem Bedauern in der Stimme. »Das prachtvolle Tier! Wir werden nie wieder seinesgleichen bekommen.« Und voller Respekt stieß er sachte mit dem Fuß gegen den Körper des »grauen Masters«, als wolle er sich nochmals überzeugen, daß es auch wirklich zu Ende sei.

Kane lag es auf der Zunge zu sagen, daß dies auch nicht hätte geschehen brauchen, wenn ein gewisser Biddell sich in anderer Verfassung befunden hätte – es war ihm aber mit einem Male so leicht ums Herz geworden, so daß sich seine Worte ganz anders formten:

»Well, Biddell, er hat seine Freiheit gefunden, nach der er sich so stark sehnte.«

Damit wandte er sich hastig ab und eilte davon; er war so wunderlich erregt und froh und zufrieden wie seit langem nicht. Biddell starrte ihm nach und schüttelte verwundert den Kopf.

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