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Zweites Kapitel.
Ein Zusammenstoß

An das Geländer tretend, bemerkte ich dicht unter mir, an der Backbordreling, den. ersten Maat. Wir begrüßtem uns und sahen dann stumm auf die rollenden Wogen.

Meine umherschweifenden Augen blieben bald nützt weit vor uns an einem dunklen Punkte haften.

Sagen Sie, Herr Prance, sprach ich hinunter, was mag das dort vor unserm Steuerbordbug sein?

Er blickte eine Weile hin. – Scheint ein Schuner zu sein; ein plumpes, schwerfälliges Ding, das gleichen Kurs mit uns segelt, aber kaum von der Stelle kommt. Wir werden es bald überholen. Wenn ich mich nicht täusche, ist es ein Franzose.

Damit schritt er zur besseren Beobachtung mehr nach vorn, blieb aber bald wieder stehen, legte die gehöhlten Hände an den Mund und schrie der Deckwache zu:

Zeigt ein Licht! Aber fix! Der Kerl da vorn scheint zu schlafen, Er fährt ja kreuz und quer!

Zu jener Zeit gab es noch keine Vorschriften über das Führen bestimmter Lichter von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang. Dies kam erst viele Jahre später. Im Bedarfsfälle wurde einfach eine große grell leuchtende Kugellampe durch einen Matrosen über die Schiffsseite gehalten und hin und her geschwenkt.

So geschah es auch hier, und da der Schuner das Signal bemerkt und verstanden zu haben schien, kam der Maat von vorn wieder zurück, ging zum Kompaß, sah den Kurs nach und schritt dann wieder an die Reling. Zu gleicher Zeit verließ ich das Kampanjedeck, um meine Kabine aufzusuchen. Kaum jedoch war ich an die Treppe zum Salon gelangt, als aus einmal von vorn her der Schrei ertönte:

Abhalten! Abhalten! Segel dicht vor Steuerbordbug! Fast in demselben Moment hörte ich auch den Maat brüllen:

Backbord! Hart Backbord das Ruder! Schnell herum damit!

Dabei sah ich ihn zum Rade springen und selbst in die Speichen fassen. Doch es war zu spät. Im nächsten Augenblick schon erfolgte ein so furchtbarer Stoß, als ob das Schiff aus seinen Fugen gehen wollte! Mark und Bein erschütterndes Geschrei und Kreischen drang Rom Wasser zu uns herauf, ich hörte das scharfe Splittern und Krachen von Holzwerk. Eine Weile stand ich wie erstarrt vor Schreck; dann sprang ich nach der Wetterreling. Dort sah ich in dem fahlen Licht des eben aus den Wolken blickenden Mondes ein entmastetes Schiff in unserem Kielwasser treiben. Es schien voller Menschen. Aus dem verzweiflungsvollen Angstgeschrei konnte man Männer- und Frauenstimmen unterscheiden. Doch unser vorderhand noch in voller Fahrt weiterschießendes Schiff brachte uns die Unglücklichen bald außer Sicht und Gehör.

Die Verwirrung, welche der Zusammenstoß bei uns hervorgerufen hatte, spottete jeder Beschreibung. Der Lärm und die Aufregung waten furchtbar. Alles lief und schrie durcheinander. Jede Ordnung schien gelöst. Keiner hörte mehr. Die Befehle des eiligst auf Deck gestürzten Kapitäns verhallten in dem allgemeinen Wirrwarr. Endlich jedoch beschwichtigte seine Ruhe und feste Haltung den Tumult. Die Schiffsmannschaft kam wieder zur Besinnung; sie sammelte sich um ihre Maats und jeder bemühte sich jetzt doppelt, die Befehle des Kapitäns und Herrn Prances schnell auszuführen.

Im Nu flogen die Raaen längsschiffs; das Schiff, dem Steuer gehorchend, schwenkte herum in den Wind, und der Gegendruck der backgelegten Segel brachte es zum Stehen. Der jetzt mehr von vorn kommende Wind pfiff durch das Takelwerk und straffte es zum Zerspringen. Die Spieren knarrten, und die dem Winde abgekehrten Segel flappten donnernd hin und her. Gußähnlich schlug das Spritzwasser über den Bug. Das Schiff stampfte fürchterlich, doch entsprechend ausgeführte Anordnungen wirkten auf sein Arbeiten wie das beruhigende Streicheln des Reiters auf ein erschrecktes Vollblutpferd.

Zur Beleuchtung des Schiffes, und den Verunglückten zum Zeichen, wurden Teerpfannen angesteckt, Laternen über Bord gehalten und von Zeit zu Zeit Blaulichter angezündet und Raketen und Leuchtkugeln abgeschossen.

Die beim Schein dieser Lichter angestellten Untersuchungen ergaben, daß das Schiff keinen nennenswerten Schaden genommen hatte. Und als der zweite Maat, Herr Cocker, dem Kapitän meldete, daß auch die Pumpen sondiert wären und kein Wasser im Schiff gezeigt hätten, sagte Kapitän Keeling:

Gut, gut. Wir wollen hier nun ruhig warten. Boote will ich nicht aussetzen; dem Unglück ist nicht mehr abzuhelfen. Ich will es nicht noch vergrößern, indem ich bei dem Seegang das Leben unserer Leute aufs Spiel setze. Mehr als hier liegen bleiben und den armen Menschen den Weg zu uns zeigen, können wir nicht tun. Ich hoffe, daß es ihnen gelungen ist, ihre Boote auszusetzen, da sie uns kein Zeichen geben, nach welchem wir uns an sie heran lavieren könnten.

Während dies alles vor sich ging, standen die voller Entsetzen auf Deck gestürzten Passagiere ängstlich zusammengedrängt im Schutze der Kampanje – die Damen meist bis zur Nasenspitze in Tücher gehüllt und in einer Toilette, der man die Hast ansah, mit der sie übergeworfen worden war. Furcht und Schrecken lag auf allen Gesichtern. Jeder sprach; Fragen und Antworten schwirrten durcheinander. Das Wort aber führte wieder Oberst Bannister, den ich mit seiner knarrenden Stimme schelten hörte:

Solche Zusammenstöße können niemals vorkommen, wenn richtig Ausguck gehalten wird. Das sag ich dem ältesten Seemann ins Gesicht. Ich habe die Reise nach Indien nun schon viermal gemacht und weiß …

Der Rest seiner Rede ging in dem schrillen Aufschrei mehrerer Damen verloren, die bei einer dicht über ihnen, auf dem Kampanjedeck, mit lautem Knall emporzischenden Rakete erschreckt auseinanderstoben.

Ich stand noch immer an der Reling, bestrebt, irgend etwas von dem in der schaumweißen Dunkelheit entschwundenen Wrack zu entdecken, als ich vom Rade her den Kapitän in harschem Ton rufen hörte:

Wer ist das, da leewärts an der Reling?

Dugdale, erwiderte ich.

Ach so. Bitte, sehen Sie etwas von dem Schiff?

Keine Spur.

Dann muß es wohl gesunken sein. Es wäre mir sonst unbegreiflich, warum es nicht irgendein Licht zeigt.

Das war mein Gedanke auch schon gewesen, indessen gab ich die Hoffnung, etwas von den Verunglückten zu erspähen, nicht auf und beugte mich wieder über die Schanzkleidung.

In demselben Augenblick sagte eine weibliche Stimme hinter mir:

Was ist eigentlich geschehen? Jedermann ist so aufgeregt, daß es unmöglich ist, Klarheit über das Vorgegangene zu erhalten.

Ich drehte mich schnell um und sah eine Dame vor mir, welche die Kapuze ihres Mantels derart ins Gesicht gezogen hatte, daß von diesem nur ein Paar große nachtschwarze Augen sichtbar waren. Aus ihnen erkannte ich aber, wen ich vor mir hatte.

Meine Mütze höflich lüftend, stellte ich mich vor und gab genaue Auskunft, indem ich zuletzt noch nach der Richtung zeigte, in welcher das Wrack verschwunden war.

Danke, sagte sie kurz mit einer so hochmütigen Neigung des Kopfes, als hätte sie einem gewöhnlichen Matrosen die Ehre erwiesen, ihn anzusprechen. Das verschnupfte mich, denn ich war ausgesucht zuvorkommend gegen sie gewesen, und sie hatte aus meinen gesellschaftlichen Formen erkennen müssen, daß ich mit ihr auf gleicher Bildungsstufe stand. Abgesehen hiervon aber hatte sie mich auch schon mittags bei Tische gesehen und wußte wahrscheinlich ebensogut, wer ich war, wie ich wußte, daß sie ein Fräulein Temple war und in Begleitung einer Tante reiste.

Sie hatte sich schon zum Gehen gewandt, drehte sich jedoch noch einmal um und sagte:

Die armen Menschen! Hoffentlich werden sie doch noch gerettet. Wissen Sie, ob unser Schiff Schaden gelitten hat?

Keinen von Bedeutung, erwiderte ich kühl. Nur das Takelwerk ist an einigen Stellen zerrissen.

So liegt also für uns kein Grund zur Beunruhigung vor?

Durchaus nicht. Der Kapitän wird Ihnen das bestätigen, wenn Sie ihn fragen wollen. Er steht dort am Rade.

Sie entfernte sich mit demselben kurzen Danke und derselben herablassenden Neigung des Kopfes wie vorher, ging aber nicht zum Kapitän, sondern direkt die Treppe zum Salon hinunter.

Sapperment, dachte ich, während ich ihr nachsah, trägt das Dämchen die Nase hoch. Aber schön ist sie mit diesen berückenden Augen.

Allmählich hatte sich die Unruhe auf dem Schiff gelegt. Nichts unterbrach mehr das Heulen des Windes und den Donner der an den Schiffswänden sich brechenden Wogen, als die von Zeit zu Zeit aufsteigenden Raketen und Leuchtkugeln. Der Kapitän und die Maats suchten mit Nachtgläsern die See ab, oder horchten mit den Händen an den Ohren scharf hinaus; Matrosen, über die Reling gebeugt, schwenkten unausgesetzt Laternen über Bord. –

Die meisten Damen waren wieder hinabgegangen, doch nicht zu Bett. Durch das Oberlicht sah man sie am Tisch sitzen; sie redeten eifrig durcheinander und warfen zwischendurch furchtsame Blicke nach den Fenstern. Unter ihnen befand sich die Frau des Oberst, eine durch ihre imponierende Gestalt auffallende ältere Dame mit grauem, wie gepudert aussehendem Haar, einer Habichtsnase und einem kolossalen Busen, der sich fast bis zu ihrem starken Doppelkinn aufwölbte. Gleich ihrem Mann schien sie, nach ihren energischen Gesten und den scharf nach allen Seiten hin schießenden grauen Augen zu urteilen, die Unterhaltung zu führen.

Meine Blicke hafteten noch auf ihr, als auf einmal der Ruf ertönte: Ein Boot! Ein Boot! In demselben Augenblick stürzte alles nach der Stelle, woher der Ruf gekommen.

Wo, wo ist es? schwirrten die Stimmen durcheinander.

Da! da! zeigte der Mann, der es entdeckt hatte.

Da taucht es wieder auf. Es kommt gerade auf uns zu.

Ich war natürlich ebenfalls sofort hingesprungen.

Holt schnell Leinen und macht sie wurffertig, befahl der Kapitän.

Während dies geschah, kam das Boot immer näher. Bald schwebte es hoch oben auf dem weißen Kamm einer Woge, bald verschwand es wieder in dem tiefen Tal einer anderen. Es schien überfüllt mit Menschen. Mir stockte das Herz, als es im Kampf mit Wind und Wellen, doch gezwungen von den ums Leben arbeitenden Ruderern, direkt auf uns los schoß und dann plötzlich herumwirbelnd sich uns längsseits zu legen suchte. Jeden Augenblick fürchtete ich, es kentern und seine ganze menschliche Ladung vor unseren Augen ertrinken zu sehen. Es waren schrecklich aufregende Minuten. Gellendes Angstgeschrei von Frauen und wüstes Gebrüll von Männern in dem unverständlichen Patois von Boulogne und Calais drangen zu uns herauf. In einem Augenblick fast bis zu uns emporgeschleudert, im nächsten wieder in die Tiefe gerissen, vermochten die Unglücklichen die zugeworfenen Fangleinen nicht zu fassen. Vergeblich versuchten der Kapitän und die Maats sich durch Zurufe und Zeichen verständlich zu machen. Immer von neuem flogen die Leinen durch den pfeifenden Wind. Die Befürchtung, daß das Boot plötzlich am Schiff zerschellen könnte, stieg mit jeder Minute. Endlich aber – wie es gelang, weiß ich nicht – lag das Boot fest an der Fallreepstreppe und wogte mit dem Schiff auf und nieder. Die meisten Männer kletterten sofort an den ihnen heruntergehaltenen Tauen an Bord. Alle anderen aber, die aus eigener Kraft dazu nicht imstande waren, so insonderheit alle Frauen, mußten einzeln mittels schnell hergestellter und unter den Armen durchgezogener Tauschlingen mühsam heraufgezogen werden. Es dauerte lange, bis endlich der letzte Mann glücklich an Bord war.

Sämtliche Leute gehörten, dem Fischerstande an. Die Frauen trugen große, weiße Hauben, unter denen ihre kaffeebraunen, häßlichen Gesichter, umrahmt von langen, schwarzen, nassen Haarsträhnen, abschreckend aussahen. Die Männer trugen Mützen mit Quasten, kurze Jacken und hohe Seestiefel.

Der Anblick der armen Menschen war zum Erbarmen. Alle trieften vor Nässe. Mehrere der Männer fielen vor Erschöpfung lang aufs Deck, andere sanken auf ihre Knie und bekreuzten sich. Von den Frauen schluchzten einige krampfhaft, die meisten aber standen starr wie Statuen, als ob Entsetzen und Todesangst sie versteinert hätten.

Mitleidig wurden alle von unsern Matrosen und einigen Passagieren nach einem geschützten Platz auf dem Vorderdeck geführt, wo sie auf Anordnung des Kapitäns alsbald Brot, Fleisch und Grog erhielten. Die Stärkung brachte schnell ihre lebhafte französische Natur zum Ausbruch. Die Männer begannen mit heftigen Gesten leidenschaftlich durcheinanderzuschreien, und die Frauen stimmten jammernd und keifend mit ein. Die meisten Passagiere, Damen und Herren, waren neugierig bis aufs Mitteldeck gefolgt; keiner aber vermochte das mit einer wunderbaren Zungenfertigkeit hervorgesprudelte Kauderwelsch zu verstehen. Der zweite Maat fragte mich, ob ich französisch spräche.

Ja, erwiderte ich, aber nicht das Französisch dieser Leute.

Na, versuchen Sie wenigstens mit Ihrem Französisch herauszubekommen, ob sich der Schiffer unter ihnen befindet.

Kaum hatte er das gesagt, als ein kleiner, alter Mann, der auf dem Rahmen der Vorderluke saß, sich erhob und heftig nickend, mit der geballten Faust seine Brust schlagend, rief:

Ik der Schiffer sein.

Ah, entgegnete der Maat. Sie sprechen englisch?

Yes, Yes! Ik spreken inglisch.

Zum Glück radebrechte er wenigstens so viel, daß ich mich nicht als Dolmetscher zu versuchen brauchte, denn das wäre mir bei dem jetzt sich noch steigernden Durcheinanderschreien der Leute zur Unmöglichkeit geworden. Obwohl offenbar keiner von ihnen auch nur ein Wort der von dem Maat gestellten Fragen verstand, schrie doch jeder aufs eifrigste mit, sowie ihr kleiner runzliger Schiffer antwortete und uns unter drohenden Gestikulationen für den Tod einiger seiner Leute verantwortlich machte. Mir, wie allen anderen Passagieren, wurde das widerwärtige Schauspiel endlich langweilig; wir begaben uns wieder nach dem Hinterdeck.

Hier fanden wir den Kapitän mit Herrn Prance und mehreren Herren und Damen einen großen Kutter betrachtend, der von der Küste her auf uns zusegelte. Auf Rufweite herangekommen, tönte ein Sprachrohr zu uns herüber:

Hallo! Was für ein Schiff? Warum die Signale?

Gräfin Ida. Auf Fahrt nach Bombay, antwortete Kapitän Keeling ebenfalls mittels Sprachrohrs. Französischen Schuner in Grund gerannt. Seine Leute bei mir an Bord. Wollen an Land. Kommt längsseit und nehmt sie auf. Ich muß weiter.

Hierauf folgte noch eine kurze Unterredung betreffs des Bergelohns sowie der Ueberführung der Schiffbrüchigen, und als das erledigt war, legte der Kutter, so nahe als es ohne Gefahr für beide Schiffe geschehen konnte, auf der Leeseite bei.

Der vorher getroffenen Besprechung gemäß verbanden sich jetzt beide Schiffe mit einem Doppeltau und einem daran entlanglaufenden Rettungskorbe. In diesem wurden die Leute einzeln nach dem Kutter hinüberbefördert. Das ging freilich nicht ohne viel Geschrei und zum Teil nicht ohne Anwendung von Gewalt ab, aber die Sache vollzog sich, wenn auch langsam, doch ohne Unfall.

Mitternacht war schon längst vorüber, als der letzte Korb übergeführt war, der Kutter mit den Geretteten der Küste zusegelte und auch wir wieder den Wind aufnahmen.

Vorwärts! Ruder auf! Vollbrassen! rief der Kapitän mit rauher, ärgerlicher Stimme dem ersten Maat zu. Wir müssen die verlorene Zeit einholen. Das war ja eine verdammte Geschichte.

Kommando folgte nun auf Kommando. Das Schiff schwenkte in den Wind, die Segel füllten sich, und rauschend trieb der Bug die Schaummassen wieder vor sich her.

Nach aller Erregung der letzten Stunden spürte ich erst jetzt, wie totmüde und durchfroren ich war. Eiligst begab ich mich hinunter, trank schnell einen heißen Grog und ging dann in meine Kabine.


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