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Achtzehntes Kapitel.
Die »Lady Blanche«

Es wurde 10 Uhr, bis das nahende Schiff seine volle Takelung zeigte. Manchmal hielt ich es für die Korvette, manchmal für die Gräfin Ida. Es war eine Zeit namenloser Spannung. Wieder und wieder stieg ich auf meinen Ausguck, um zu sehen, ob das Segel auch nicht kleiner würde. Wieder und wieder sandte ich meine Blicke um den Horizont mit dem inbrünstigen Gebet, daß die Brise anhalten möchte, denn wenn von neuem Windstille eintrat und den Tag über anhielt, konnte uns noch eine dritte schreckliche Nacht in unserm Kerker auferlegt sein. Andernfalls, wenn sich während derselben wiederum Wind erhob, konnten wir mit Tagesanbruch vielleicht den Schrecken erleben, den Ozean abermals leer zu sehen.

Während mich diese Gedanken peinigten, wuchs der Rumpf des Schiffes mehr und mehr aus dem Wasser, und was ich alsbald erkannte, stimmte mich, meiner so hoffnungsvoll dreinschauenden Gefährtin wegen, sehr traurig. Mit absoluter Gewißheit vermochte ich jetzt zu unterscheiden, daß der Fremde weder die Gräfin Ida noch die Korvette war. Es war ein kleines weißes Schiff. Ich dachte, Fräulein Temple würde das auch gleich bemerken, doch ihre Augen waren nicht die eines Seemannes. Sie fragte: Nun, welches von beiden Schiffen ist es?

Die Antwort: Keins von beiden, wollte mir kaum aus dem Halse.

Was? – Keins von beiden? schrie sie auf.

Leider, erwiderte ich, mich zwingend, sie meine eigene bittere Enttäuschung nicht merken zu lassen. Sehen Sie nicht, daß das Schiff klein ist und einen weißen Rumpf hat? Doch was tut das? Jedenfalls muß es uns sehen und wird uns retten. Das bleibt die Hauptsache. Mag die Zukunft bringen, was sie will, für uns gibt es jetzt nur eins – fort von diesem Wrack!

Sie hatte so fest darauf gerechnet, daß das Schiff entweder die Korvette oder der Ostindienfahrer sein würde, daß sie nicht bestürzter und enttäuschter hätte aussehen können, wenn das nahende Fahrzeug eine Luftspiegelung gewesen und diese vor unsern Augen plötzlich wieder zerflossen wäre.

O, Herr Dugdale, hauchte sie mühsam, was wird nun aus uns? Sollen wir uns von diesem Schiff aufnehmen lassen?

Natürlich. Und wir wollen Gott danken, wenn wir an Bord sind.

Aber es kann – es wird –, sie rang fast bei jedem Wort nach Atem – es segelt – möglicherweise nach einem ganz anderen Weltteil!

Wenn auch, entgegnete ich erleichtert, da ich eben mit Entzücken bemerkte, daß das Schiff jetzt direkt auf uns zu steuerte. Wir treffen dann sicher da oder dort auf ein heimwärts segelndes Fahrzeug. Wird das nicht besser sein, als hier zu sitzen?

Gewiß, gewiß, aber wenn wir nur noch eine kurze Zeit aushielten, würde uns doch vielleicht der Ostindienfahrer finden.

I Gott bewahre! Darauf dürfen wir uns nicht verlassen. In unserer Lage wäre es ein Verbrechen an uns selbst, wollten wir nicht ohne Besinnen die erste Hand ergreifen, die sich uns rettend entgegenstreckt.

Damit stürzte ich nach vorn, ergriff eine Handspake, befestigte ein Stück Segel daran und schwenkte diese improvisierte Fahne mit aller Macht.

Langsam und anmutig schwebte das Schiff uns entgegen. Alles an ihm machte aus der Ferne einen so vielversprechenden Eindruck, daß selbst Fräulein Temples Gesicht sich wieder etwas aufzuklären begann. Trotzdem aber sagte sie:

Nicht wahr, bevor es ganz nahe kommt, steigen Sie noch einmal auf den Mast, um zu sehen, ob nicht noch ein anderes Schiff in Sicht ist, das die Gräfin Ida sein könnte?

Wenn Sie das wünschen, will ich es natürlich tun, aber selbst wenn ich noch ein Schiff entdeckte, das dem Ostindienfahrer ähnlich sähe, würden wir doch zunächst die sich uns bietende Gelegenheit ergreifen müssen, diesen schwimmenden Sarg zu verlassen. An etwas anderes dürfen wir vor der Hand nicht denken.

Während ich sprach, wirbelte ich fortwährend meine Notflagge durch die Luft, unterstützt von dem Rauchsignal, das in einer dicken Wolke, die See verdunkelnd, über Steuerbord zog.

Ich konnte jetzt erkennen, daß das nahende Fahrzeug eine Bark war. Mein Herz pochte mir zum Zerspringen; in wildestem Wechsel tobten Freude und Angst in mir. Wenn jener Fremde von einem Mann, einem herzlosen Schurken, befehligt wurde, der, gleichgültig gegen Menschenleben, nur von seinem Kurs abgefallen war, um seine Neugier zu befriedigen, so war es wohl möglich, daß er ruhig weitersegelte und uns unserem Schicksal überließ, wenn er aus dem hochschwimmenden Wrack schloß, daß es ohne Ladung sei. Das ist schon oft geschehen und geschieht immer wieder. Fieberhaft beobachtete ich die schlangenhafte Bewegung, mit der der Fremde herankroch, ohne auch nur eine Brasse zu berühren oder sonst etwas zu tun, was auf ein Beilegen hätte schließen lassen.

Wird das Schiff nicht anhalten? keuchte es angstvoll hinter mir.

Ja, ich verstehe sein Verhalten auch nicht, erwiderte ich grimmig. Will es doch einmal mit einem Anruf versuchen. Und die Fahne wütend zu Boden schleudernd und die Hände an den Mund legend, brüllte ich mit der ganzen Kraft meiner Lungen:

Bark ahoi! Um Gotteswillen, schickt ein Boot und nehmt uns auf!

Dieser Notschrei war kaum verklungen, als es plötzlich lebendig auf Deck wurde und ich zu meiner großen Beruhigung bemerkte, daß back gebraßt wurde.

In wenigen Minuten lag das anmutige kleine Schiff ohne Fahrt in Sprechweite vor uns.

Im Ueberschwang der mich hierbei überkommenden Gefühle ergriff ich des Mädchens Hand und drückte sie wieder und wieder an meine Lippen, ohne Worte der Beglückwünschung zu finden.

Die Gestalten der Leute waren jetzt deutlich erkennbar, mehrere Köpfe zeigten sich vorn und ebenso hinten, darunter zwei Männer in weißen Anzügen und mit breiten Strohhüten. Einer von ihnen stieg gemächlich auf die Reling, hielt sich an einer Pardune fest und rief:

Wrack ahoi! Wieviel seid Ihr?

Nur zwei, gab ich zurück. Eine Dame und ich.

Ansteckende Krankheit an Bord?

Gott bewahre. Nichts davon, erwiderte ich erschreckt über diese Frage. Bitte, schicken Sie ein Boot!

Er stand eine ganze Weile anscheinend überlegend, ehe er von neuem rief:

Sind Sie Seemann?

Sagen Sie ja, sagen Sie ja! sagte meine Gefährtin hastig. Es mögen ihm Leute fehlen.

Und, vor Bestürzung über das Benehmen des Mannes kaum imstande, meiner Stimme zu gebieten, erwiderte ich:

Ay, ay; ich bin Seemann.

Vor dem Mast? Soviel wie – gewöhnlicher Matrose

Nein. Gehöre zu einem Ostindienfahrer. Schickt nur ein Boot, dann werde ich Euch alles erklären!

Er stieg von der Reling herab und sprach, wie mir schien, zu dem Manne neben ihm, der einen Augenblick verschwand und ihm dann ein Teleskop überreichte. Mit diesem betrachtete er uns mehrere Minuten und schwenkte darauf die Hand nach uns.

Wie sollte ich das verstehen? Wie mir dieses Benehmen deuten? Was würde nun geschehen? Die angstvolle Spannung umflorte meine Augen, während ich wie geistesverwirrt hinüberstarrte. Ich mußte mich festhalten, um nicht umzusinken.

Zum Glück ließ man uns nicht allzu lange in der unerträglichen Ungewißheit. Nach qualvollen Minuten sah ich endlich eine Anzahl Matrosen an die Davits des Heckbords treten, an denen ein kleines weißes Boot hing. Vier Mann bestiegen es, langsam wurde es zu Wasser gelassen, schnell von den Taljen befreit und mit kräftigen Ruderschlägen auf uns zu getrieben. Niemals in meinem Leben habe ich ein inbrünstigeres: Gott sei Lob und Dank! ausgestoßen.

Als das Boot uns längsseit kam, erkannte ich in dem Mann am Steuer den, welchen ich mit dem Kapitän zusammengesehen hatte. Er war ein untersetzter, sonnengebräunter Kerl mit breiten Schultern und gewöhnlichem Aussehen.

Also nur zwei seid ihr? rief er kurz angebunden mit rauher Stimme.

Ja.

Gepäck?

Nein.

Nichts an Bord, was des Mitnehmens wert ist?

Nichts, außer ein wenig Proviant und ein guter Vorrat Wein in Flaschen, antwortete ich ärgerlich über die ungeschliffene Art des Menschen.

Wunderliche Nigger, brummte er, und gleich danach sich an einen seiner Leute wendend: Komm' mit, den Wein wollen wir nicht versaufen lassen.

Fast gleichzeitig waren die beiden mit katzenartiger Geschwindigkeit bei uns oben.

Einen Augenblick musterten sie uns neugierig von Kopf bis zu Füßen, dann fragte der Grobian: Wo ist der Wein?

Ich bezeichnete ihm die Treppe im Deckhaus und den Vorratsraum. Nichts hätte mich bewegen können, das Deck zu verlassen. Als sie verschwunden waren, nahm ich eilig das Mädchen bei der Hand, trat an die offene Stelle der Schanze und rief den beiden Matrosen im Boot zu:

Legt dicht hier an, meine Jungen, und haltet euch bereit, die Dame aufzufangen.

Sie taten das willig, und beim nächsten Aufkommen des Bootes sprang sie, meiner Aufforderung gemäße ohne Verzug hinein. Ich folgte ihr auf dem Fuße. In der nächsten Minute saßen wir geborgen nebeneinander auf einer der Duchten des Bootes.

Die beiden Leute verwandten keinen Blick von uns. Besonders Fräulein Temple betrachteten sie mit so erstaunten Gesichtern, als wäre sie ein Geschöpf aus einer anderen Welt.

Sein Sie Engländer, Herr? fragte der eine, ein Mann in mittleren Jahren, mit ehrlichem Gesicht, kleinen, tief liegenden Augen und einem grauen Backenbart, der sich unter dem Kinn vereinigte.

Ja gewiß.

Ma'am auch?

Ja. Wie heißt euer Schiff?

Lady Blanche.

Wohin fahrt ihr?

Nach Mauritius.

Ich sah die neben mir Sitzende von der Seite an, aber entweder hatte sie die Antwort des Mannes nicht gehört oder ihre Bedeutung nicht verstanden.

Lange hier an Bord gewesen? fragte der Graubart weiter, mit dem Kopf nach dem Wrack winkend.

Zwei Nächte. Eine Korvette und ein Ostindienfahrer müssen hier herum ganz in der Nähe sein. Habt ihr nichts davon gesehen?

Nichts davon. Der Ozean is öde wie 'ne afrikander Wüste.

Der Bootsführer und sein Begleiter erschienen jetzt wieder auf Deck. Sie trugen eine mit einer Decke umwickelte und von einer Seine umschnürte Last. Während sie nahten, erkundigte ich mich nach der Stellung des Bootsführers und erfuhr, daß er der Zimmermann des Schiffes wäre und seit einiger Zeit neben seinem Handwerk die Funktionen eines Maates versähe. Als die beiden an die Schanzenöffnung traten und das Bündel am Leinenende herabließen, schrie der Zimmermann: Aufgepaßt und vorsichtig zugefaßt; es ist Wein!

Nachdem der Pack sorgsam auf dem Boden des Bootes niedergelegt war, sprangen die beiden nach, und wir stießen ab.

Haben Sie Rauch gemacht, Herr? fragte der Zimmermann, der wieder am Steuer Platz genommen hatte.

Ja. Wer sonst?

So. Na, dann haben Sie die alte Kiste in Brand gesteckt. Das Feuer ist durch das Deck gebrannt und knistert unten schon ganz munter.

Erschrocken wandte ich den Kopf; seit ich ins Boot gesprungen, hatte ich den Rauch nicht mehr beachtet. In der Tat sah ich jetzt aus der Großluke kleine Flammen züngeln. Mich überlief es kalt, und ich zitterte wie eine halb erfrorene junge Katze. Was wäre aus uns geworden, wenn sich das Herankommen der Barke durch irgend einen Umstand verzögert hätte?

Ich vermute, es wird wohl Schießpulver an Bord sein, sprach der Mann weiter. Zieht lang aus, Jungens, daß wir von dem Teufelsding fortkommen, ehe es in die Luft fliegt.

Die vier Ruderer legten sich ins Zeug, daß sich die Riemen bogen und das Boot wie ein Pfeil über die ruhige Fläche schoß. Keiner sprach mehr. Der Zimmermann unterhielt sich damit, uns zu mustern; er ließ kein Stück an unserm Leibe unbetrachtet. Besonders blieben seine Blicke an dem reichen Schmuck von Fräulein Temple hängen. Was mich betrifft, so war ich seelisch zu bewegt, um ein Wort sprechen zu können. Das Gefühl der unbeschreiblichen Freude und Beruhigung, mit dem mich unsere Rettung erfüllt hatte, wurde jetzt gelähmt durch das Entsetzen, mit dem ich in den immer mehr sich ausbreitenden Rauch und die immer höher schlagenden Flammen starrte. Großer Gott, was hätte ich tun sollen ohne Boot, ohne jedes Mittel, ein Floß herzustellen? Sicher hatte das Raubschiff einen reichen Vorrat Schießpulver in irgend einem der unteren Räume verstaut, und wir wären gezwungen gewesen, unsern Leiden durch einen Sprung über Bord ein Ende zu bereiten, oder hätten dem schrecklichen Augenblick unserer Vernichtung durch eine Explosion entgegenharren müssen.

Ein Blick auf meine Gefährtin zeigte mir, daß auch sie das Geschick, dem wir entgangen waren, in Gedanken durchlebte. Leichenblaß mit blutleeren Lippen saß sie regungslos wie ein Steinbild und blickte entsetzt mit weit geöffneten Augen nach dem zurückweichenden Rumpf.

Bei dem Schiff angekommen, legten wir an einer kleinen Treppe an, die man über die Seite gehängt hatte. Sie war ziemlich steil und schmal und besonders für eine Dame schwer zu ersteigen, doch gelangten wir glücklich an Bord.

Am Aufgang stand der Mann, welcher uns angerufen hatte. Ich trat sofort mit ausgestreckter Hand auf ihn zu und sagte:

Mein Herr, Sie sind ohne Zweifel der Kapitän; ich danke Ihnen von Herzen, daß Sie uns gerettet und vor einem schrecklichen Schicksal bewahrt haben.

Er nahm meine Hand und hielt sie fest, während er mich, ohne ein Wort zu sprechen, eine Weile durchbohrend anstarrte. Ich wußte nicht, was ich hiervon denken sollte, und wurde schließlich ganz verlegen.

Endlich fragte er: Wie heißen Sie, mein Herr?

Laurenz Dugdale.

Maat auf einem Ostindienfahrer, wenn ich recht verstanden habe?

Nein. Ich fuhr nur zwei Jahre als Seekadett auf einem solchen.

Er ließ meine Hand fallen und seine Miene veränderte sich, indem er einen Schritt zurücktrat und mich vom Scheitel bis zur Sohle maß. Seekadett? rief er verächtlich. Pah – das ist kein Seemann! Wie lange ist es her, daß Sie die See verließen?

Sechs Jahre, antwortete ich verdutzt, in solchem Augenblick derart verhört zu werden.

Was – sechs Jahre? schrie er, und sein Gesicht wurde noch länger. Da werden Sie ja kaum mehr wissen, wie man einen Quadranten anwendet!

Doch, damit weiß ich noch ganz gut Bescheid, entgegnete ich mit einem Seitenblick auf meine Begleiterin, die mit sichtbarer Ungeduld, Verwunderung und Spannung diesem Examen zuhörte.

Heißt das soviel, daß Sie mit der Navigation vertraut sind? forschte er weiter.

Genügend, um ein Schiff nach jedem beliebigen Teil des Erdballs zu führen, antwortete ich, meinen aufsteigenden Zorn beherrschend, obgleich der Mann an meinem roten Kopf und meinen sprühenden Augen bemerken mußte, wie es in mir kochte.

Nun, dann ist ja alles in Ordnung! rief er plötzlich aufgeheitert. Sie sagen also, Sie vermögen mit einem Sextanten Ihren Weg zu finden?

Ja. Das sage ich.

Na, beim Himmel, dann freue ich mich herzlich, Sie sowie Madam an Bord der »Lady Blanche« begrüßen zu können. Hierbei zog er mit einer verbindlichen Verbeugung seinen riesigen Strohhut.

Dann, sich auf einmal dem Zimmermann zuwendend, der mit den Bootsleuten den Pack an Bord beförderte, fragte er: Was habt ihr denn da?

Eine kleine Beute, lachte dieser. – Wein!

Gut, gut. Legt ihn einstweilen beiseite. Das Boot aufhissen! Aber schnell. Und gleich wieder voll brassen! Aber schnell! – Wer hat denn das Wrack in Brand gesteckt?

Das Signalfeuer, entgegnete der Zimmermann mürrisch. In ein paar Minuten wird die alte Kiste wohl in die Luft fliegen, denke ich.

Mag sie; hat ja Platz genug dazu, spottete der Kapitän. Dann lud er uns ein, in die Kajüte zu treten.

Dies war ein kleiner Raum mit einigen – ähnlich wie auf der Gräfin Ida – abgesonderten Kabinen, einem viereckigen Tisch in der Mitte mit festgeschraubten Bänken auf jeder Seite, einem flachen Oberlicht, einigen altmodischen Lampen, einem kleinen Ofen und einem Gestell mit verschiedenen Gläsern.

Bitte nehmen Sie Platz, sagte der Kapitän. Ich denke, Sie werden nach dem Aufenthalt auf dem Wrack nicht verwöhnt sein und ein Stück gekochtes Rindfleisch nebst einer Flasche Londoner Bier nicht verschmähen?

Sie sind sehr gütig, erwiderte ich. Wir haben in den letzten drei Tagen nur von Schiffszwieback, Marmelade und Käse gelebt.

Er ging zur Tür und bestellte bei einem jungen Burschen den versprochenen Imbiß. Dann setzte er sich mit an den Tisch und sah abwechselnd uns beide mehrere Minuten an, ohne auch nur mit den Wimpern zu zucken. Ich merkte, daß diese wiederholte sonderbar stumme Musterung meine Gefährtin beängstigte. Noch niemals hatte ich einen Menschen mit solchen Augen gesehen; schon durch ihre abnorme Größe waren sie eine Entstellung, sie wurden aber noch unheimlicher durch ihre tintenschwarze Farbe, ihre leblose Starrheit ohne Feuer und Geist und die sonderbare Bewegungslosigkeit ihrer Lider. Sein bartloses Gesicht war lang und gelb, nur die glatt rasierten Stellen – Wangen, Oberlippe und Kinn – zeigten einen indigoblauen Schimmer. Er hatte eine lange Nase, buschige Augenbrauen und rabenschwarzes glänzendes Haar, das glatt gekämmt über Ohren und Nacken herabfiel. Seine lange, hagere Gestalt war mit einem weißen Drellanzug und gelben Lederschuhen bekleidet. Ich hätte ihn für einen Yankee gehalten, wäre nicht seiner Sprache der Londoner Akzent eigen gewesen.

Um das unerträgliche stumme Anstarren zu unterbrechen, fragte ich, aus welchem Hafen er käme, doch schien er mich kaum zu hören. Auf einmal aber schrak er wie aus dem Schlaf erwachend auf, fuhr sich mit seinem großen, roten, baumwollenen Taschentuch über die Stirn und rief: Bitte, sagten Sie etwas?

Ich wiederholte meine Frage.

Mein Schiff gehört nach Hull, antwortete er, aber wir kommen von der Themse und segeln nach Mauritius. – Doch nun erzählen Sie einmal, wie Sie und diese schöne Dame auf das Wrack kamen. Sie gehören offenbar den höheren Ständen an, das erkenne ich an Ihren Händen. Lassen Sie mich alles hören.

Damit hakte er seine Daumen in die Westenärmel, lehnte seinen Rücken gegen den Tisch, streckte seine Beine lang aus und heftete wieder seine schrecklichen Augen auf mein Gesicht. In dieser Stellung verharrte er während meiner ganzen Erzählung regungslos, ohne eine Silbe zu äußern, und auch noch eine geraume Weile, nachdem ich geendet hatte.

Erst als Fräulein Temple fragte: Mit welchem Namen darf ich Sie anreden? schrak er wie vorher zusammen und erwiderte: John Braine, Madam. Kapitän John Braine, oder sagen Sie kurz: Kapitän Braine; John ist doch nur eine unnötige Verlängerung. Das ist mein Name.

Sie zwang sich, zu lächeln und sagte: Herr Kapitän, die Gräfin Ida kann nicht weit von hier sein, und ich möchte Sie recht dringend bitten, nach ihr zu suchen. Ich bin überzeugt, sie wird bald gefunden werden. Ich habe dort eine Verwandte an Bord, die der Kummer um mich verzehrt. Auch befindet sich all mein Gepäck auf jenem Schiff. Meine Mutter, Lady Temple, wird freudig jede Summe geben, welche Sie für Mühe und Zeitverlust berechnen werden.

Ich dachte, er würde wieder in seine infame Art des Anstarrens verfallen, doch nach einer kurzen Pause schon erwiderte er: Der Ostindienfahrer segelt nach Bombay – war's nicht so? Nun gut, wir haben denselben Weg. Seit drei Tagen haben Sie ihn verloren; wo wird er jetzt sein? Das können nur die Engel wissen, die höher herunterschauen als der Knopf irgend eines Flaggenstocks. Ich kann mein Ruder hierhin und dahin werfen und ganze vierzehn Tage nutzlos umherkreuzen. Es wäre das ganz das gleiche, als ob wir ihn mit Absicht verlieren wollten. Wenn wir aber alles lassen, wie es jetzt ist, wird keine Stunde vergehen, die uns nicht die Möglichkeit brächte, ihn da oder dort zum Vorschein kommen zu sehen. Verstehen Sie, wie ich's meine, Madam? Sie sind an Bord einer Bark, die Beine hat, wie wir sagen. Ihr Ostindienfahrer hat drei Tage Vorsprung, und wenn alles geht, wie es soll und ich ihn aufspüre, dann verspreche ich Ihnen, daß Sie innerhalb einer Woche bei ihm an Bord sein sollen. Aber nach ihm suchen – nein. Für so etwas ist der Ozean zu groß, Madam.

Ich bin vollständig der Meinung von Kapitän Braine, bemerkte ich. Es wäre unvernünftig, zu erwarten, daß der Herr seine Reise wegen einer, nach menschlicher Berechnung, ganz aussichtslosen Sache verzögert. Eine solche Jagd würde uns jede Hoffnung rauben, die Gräfin Ida noch diesseits des Kaps zu treffen.

Sie preßte die Hände zusammen, erwiderte aber nichts.

In diesem Augenblick trat der Steward ein und setzte ein Tablett mit dem vom Kapitän bestellten Imbiß auf den Tisch. Dieser bat uns, uns wie zu Hause zu betrachten, und begab sich auf Deck.


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