Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Ich lag noch eine ganze Weile wach. Endlich schlief ich ein, umgaukelt von den herrlichsten Zukunftsbildern und umrauscht von dem vorüberstürzenden Kielwasser, in dessen Tosen sich das Seufzen und Knarren der Spieren mischte.
Tiefe Finsternis herrschte, als ich von einem starken Pochen geweckt wurde. Auffahrend fragte ich: Was gibt es? Was ist los? erhielt jedoch keine Antwort; das Pochen jedoch dauerte fort. Endlich merkte ich, daß es von der Wand kam, welche die Kabine Fräulein Temples von der meinen trennte. Da war ich mit einem Satz aus dem Bett und klopfte zum Zeichen, daß ich gehört hatte, ebenfalls an die Wand und fragte, warum sie poche.
Gespannt auf die Antwort lauschend unterschied ich wohl ihre Stimme, vermochte jedoch nicht zu verstehen, was sie sagte.
Nur mit Beinkleidern und Strümpfen bekleidet, so, wie ich mich beim Schlafengehen auf mein Bett gelegt hatte, tastete ich mich im Dunkeln hinaus an ihre Tür und klopfte.
Sind Sie es, Herr Dugdale? vernahm ich.
Ja. Was ist Ihnen?
Haben Sie nicht den Schuß gehört?
Nein.
Es ist aber ein Schuß gefallen; ich habe es deutlich gehört.
So will ich gleich nachforschen. Fürchten Sie sich nicht, ich bin bald zurück.
Ich zog schnell Rock und Stiefel an und eilte nach der Kajüte. Hier gewährten die durch das Oberlicht blinkenden Sterne genug Licht, um mich erkennen zu lassen, daß alles in dem Raum noch so war, wie wir ihn verlassen hatten. Ich lauschte, doch keine Stimme, kein Fußtritt auf Deck war zu hören, nur das Brausen des Wassers an den Seiten des Schiffes und das Pfeifen des Windes im Takelwerk drang durch die Stille.
Ich stieg auf Deck und spähte in die Dunkelheit, aber außer dem Mann am Rade konnte ich keine Seele entdecken. Ich fragte ihn:
Wo ist der Kapitän? Hat er nicht die Wache?
Ja, antwortete der Mann mürrisch, die Wache hat er wohl, aber er ist runter gegangen; er meinte, er würde nicht lange bleiben.
Wann war das?
Na, es kann etwa 'ne Viertelstunde her sein.
Haben Sie etwas wie einen Schuß gehört?
Er sah mich groß an. Einen Schuß? Nein. Wer sollte denn hier schießen? Ich glaube, ich würde davon wohl auch kaum etwas gehört haben bei dem Lärm, den Wind und See machen.
Ich nickte. Das ist richtig. Hier oben läßt sich allerdings schwer etwas hören, die Dame unten glaubt aber deutlich einen Schuß gehört zu haben. Uebrigens bleibt der Kapitän hoffentlich nicht mehr lange, denn das ist doch am Ende keine Brise, bei der man das Schiff ganz allein der Obhut des Mannes am Steuer überlassen kann.
Ja, ja, ich wünschte auch, er käme bald und gäbe mir noch einen Mann zur Hilfe. Allein vermag ich's nicht lange mehr bei dem Seegang, dazu gehören vier Arme.
Während er sprach, bemerkte ich, wie er nur noch mit äußerster Anstrengung das Rad hielt. Zudem sah es über Steuerbord ganz so aus, als ob der Wind noch stärker werden wollte. Ich erwog allen Ernstes, ob ich hier nicht eingreifen sollte, denn unbedingt mußte ein Teil Segel eingenommen und gerefft werden.
Hat der Kapitän nicht gesagt, warum er hinunter ging? fuhr ich fort. Schien er Ihnen etwa krank zu sein?
Ach, er war nicht anders wie die ganzen letzten Tage. Er stand lange stocksteif neben mir, trat dann plötzlich an den Kompaß und sagte:
Halt' genau, wie es jetzt geht. Pass' gut auf, lass' nicht abfallen. Ich bin gleich wieder da. Und dann stieg er runter. Das war alles.
In diesem Moment fuhr ein so starker Windstoß über die Wetterreling, daß sich das Schiff beinahe bis zum Schandeck nach Lee überlegte.
Das geht nicht so weiter! rief ich, von Angst erfaßt. Wir verlieren die Maste, wenn nicht gleich etwas geschieht. Und nach vorn stürzend, schrie ich: He! Wache! Das Großsegel aufgeien!
Die Mannschaft schien schon auf den Befehl, Segel zu kürzen, gewartet zu haben, denn sie eilte im Nu herbei.
Sowie ihr das Segel festgemacht habt, holt das große Oberbramsegel nieder, befahl ich hastig weiter. Ich muß jetzt sehen, wo der Kapitän steckt.
Mir war schrecklich zumute. Sein Nichterscheinen in diesem gefährlichen Augenblick ließ mich in Verbindung mit dem von dem Mädchen gehörten Schuß Böses ahnen. In furchtbarer Aufregung rannte ich nach der Kajüte und klopfte an seine Tür. – Keine Antwort. – Ich klopfte wieder, donnerte mit den Fäusten und rüttelte. – Alles vergeblich. – Die Tür war verschlossen.
Großer Gott, sollte sich der Mensch wirklich erschossen haben?
Einen Augenblick stand ich starr, mit dem Ohr an der Tür – lauschend, ob nicht irgend ein Ton, ein Röcheln oder Seufzen zu hören wäre. Doch nichts von alledem. Die Tür zu sprengen, gelang mir nicht. Ich wollte Hilfe holen. Im Begriff dies zu tun, traf mein Auge Fräulein Temple, die, vollständig angekleidet, mit der Laterne in der Hand erschien.
Um Gottes willen, was ist geschehen? fragte sie mit entsetztem Blick.
Das weiß ich augenblicklich selbst noch nicht, erwiderte ich erregt. Ich fürchte aber, der Kapitän hat sich erschossen. Bitte, bleiben Sie jetzt hier. Ich muß wieder hinauf. Oben ist niemand, der die nötigen Befehle geben kann.
Sie sah mich angstvoll an und wollte wohl noch etwas sagen, doch ich sprang schon die Treppe hinauf. An ihrem Ausgang stieß ich auf Wilkins.
Rufe Lush, befahl ich ihm hastig. Er soll schnell kommen, ich fürchte, es ist ein Unglück passiert. Auch die Freiwache soll zum Segelbergen herauf.
Der Junge rannte davon.
Nicht bloß ein einzelner Windstoß hatte die Bark so stark übergelegt; der Wind nahm anhaltend zu. Ohne auf die Freiwache zu warten, eilte ich nach dem Besanmast, löste das Stagsegel und ließ es niedergleiten. Kaum hatte ich das getan, als der Zimmermann, gefolgt von der Freiwache, erschien.
Was für 'n Unglück soll geschehen sein? fragte er in seiner groben Art.
Hastig teilte ich ihm alles mit und schloß mit den Worten: Es kann gar nicht anders sein, der Kapitän muß Selbstmord begangen haben.
Einen Augenblick starrte er mich sprachlos an, dann brummte er etwas von Tür aufbrechen und gleich hinuntergehen, ich hielt ihn jedoch davon ab, mit dem Hinweis, daß vor allen Dingen das Schiff erst erleichtert werden müsse.
Er nickte zustimmend und stieg sogleich auf das Kampanjedeck, während ich im Forteilen ihm zurief: Ich werde Sie in der Kajüte erwarten.
Dort empfing mich meine so plötzlich wieder aus allen Himmeln geworfene Gefährtin mit weit geöffneten schreckensstarren Augen.
Ist das Schiff in Gefahr? rief sie verzweiflungsvoll unter dem Donner der beim Einholen schlagenden Segel, dem Gebrüll von Lush, dem Gepolter der Taue und den gegenseitigen rauhen Zurufen der Leute.
Bewahre, nein, erwiderte ich in beruhigendem Ton. Die Brise hat bedeutend aufgefrischt, es werden deshalb nur Segel gekürzt.
Ach Gott, was habe ich ausgestanden, während Sie fort waren. Ich dachte, das Schiff fiele um. Daß doch immer neues Unglück über uns kommt! Glauben Sie wirklich, daß der Kapitän sich erschossen hat?
Man kann nichts anderes annehmen, wenn man den Schuß, die Totenstille in der Kajüte des Kapitäns und die verschlossene Tür in Zusammenhang bringt. Wir werden ja bald darüber Gewißheit erhalten, sobald Lush kommt. Er will die Tür aufbrechen; so lange müssen wir uns gedulden. Einstweilen will ich die Lampe anzünden, denn das Stümpfchen in der Laterne geht zu Ende.
Sobald ich das getan hatte, ging ich noch einmal an die verschlossene Tür, rief den Kapitän beim Namen, horchte und pochte, aber, wie ich mir gedacht hatte, erfolglos.
Gott, o Gott! jammerte das Mädchen wieder, wie soll das werden? Was wird nun noch kommen?
Zunächst Rio, antwortete ich mit erzwungener Sorglosigkeit. Ein wahres Glück bei allem Unglück, daß ich so viel von der Navigation verstehe, um das Schiff dahin bringen zu können. Es ist ja gewiß sehr traurig, wenn sich der arme Mensch, der Kapitän im Wahnsinn erschossen hat, für uns jedoch würde das nicht sehr beklagenswert sein, da man bei ihm keine Stunde vor irgend welchen neuen Einfällen sicher sein konnte.
Sie sprechen das so leicht hin, bedenken aber nicht, daß wir uns nun vollständig in der Gewalt von Sträflingen, Meuterern und wer weiß was für Bösewichtern befinden.
Ach, glauben Sie doch so etwas nicht. Diese Schilderung seiner Leute war doch auch nichts weiter als eine Ausgeburt des Wahnsinns.
Wir wollen es hoffen; jedenfalls aber sind es, mit Lush an der Spitze, rohe Menschen, die jetzt auf dem Schiff allein werden herrschen wollen und es hinführen werden, wohin es ihnen beliebt.
Das können sie nicht, tröstete ich. Lush versteht wohl – wie ich jetzt an dem wieder aufgerichteten Schiff erkenne – ein Schiff zu regieren, ihm aber den richtigen Kurs zu geben, das versteht er nicht. Dazu brauchen die Leute mich, sonst segeln sie ins Blaue hinein. Dieser Umstand ist sehr günstig für uns. Und dann – ich müßte die Blaujacken nicht kennen, wenn nicht auch hier auf dieser Bark die gesamte Mannschaft die Reise schon gründlich satt hätte und sich auf ein lustiges Leben im Hafen und auf ein anderes Schiff freute. Nein nein, verlassen Sie sich darauf, die Sehnsucht nach Rio zu gelangen, wird die Leute zahm und meinen Befehlen gefügig machen. Haben Sie keine Furcht!
In dieser Weise sprachen wir noch eine Weile, bis schwere Tritte auf der Kajütentreppe uns die Ankunft des Zimmermanns verrieten.
Er trat ein und sagte: Alles in Ordnung. Kein Segel zu viel, kein Segel zu wenig. Und nun – was ist's mit dem Kapitän?
Während er sprach, ließen sich neue Tritte auf der Treppe hören. Die neugierigen Gesichter mehrerer Leute zeigten sich an der Tür, und auch durch das Oberlicht blickten einige herab.
Mir erschien das nicht verwunderlich, denn die Burschen hatten natürlich das Verlangen, Genaues über das sie so nahe angehende Ereignis zu erfahren, Fräulein Temple aber wurde noch blasser, als sie ohnedem schon war.
Nachdem ich auf die Frage des Zimmermanns noch einmal kurze Auskunft gegeben, schritt dieser an die verschlossene Tür, rüttelte daran und stemmte sich dagegen, und als dies nichts nutzte, sagte er: So wollen wir sie aufbrechen.
Ein Wink von ihm genügte, daß ein Matrose nach einem Brecheisen sprang. Er war im Umsehen zurück; mit ihm betrat auch Wetherley die Kajüte, und hinter ihm schoben sich in brennender Neugier all die andern Leute, die bis hierher, auf der Treppe stehen geblieben waren, Zoll um Zoll vorwärts.
Fräulein Temple klammerte sich zitternd an meinen Arm, doch ließ sie ihn wieder los, als das inzwischen eingesetzte Brecheisen mit lautem Krach das Türschloß sprengte und alles gleich mir in die Kajüte des Kapitäns drängte.
Der Anblick, der sich hier bot, war schauerlich. Die kleine Hängelampe über dem Kartentisch brannte und beleuchtete den unmittelbar daneben auf dem Teppich liegenden Kapitän. Er lag mit dem Gesicht nach unten, das eine Bein unter dem andern gekrümmt, beide Arme waren lang nach vorwärts gestreckt. Dicht neben der rechten Hand lag eine Pistole, und ein großer Blutfleck war unter der rechten Wange zu sehen.
Einen Augenblick herrschte Totenstille. Dann sprach der Zimmermann, dessen sonst immer so verbissenes Gesicht jetzt auch etwas wie Entsetzen zeigte, mit düsterer Stimme:
Es ist richtig, er hat sich erschossen.
Dreh' ihn um, Bill, forderte gleichzeitig Wetherley einen der Leiche zunächst stehenden Matrosen auf.
Tu's doch selber, Joë, erwiderte dieser schaudernd, ich mag nicht.
Ohne weiteres beugte sich Wetherley nieder und drehte den Toten auf den Rücken.
Jetzt sah man ein kleines, von den blutigen Haaren fast verdecktes Loch an der rechten Schläfe. Das Gesicht war entsetzlich verzerrt. Ich mußte mich von dem grausigen Anblick abwenden. Meine Augen begegneten hierbei denen Wetherleys. Er nickte langsam mit dem Kopf. Eine böse Geschichte, das.
Er wird doch auch richtig tot sein? brummte der Zimmermann in seiner rohen Art, indem er mich von der Seite ansah. Was meinen Sie, sollen wir ihn untersuchen?
Er schien Anweisungen von mir zu erwarten. Ach, lassen Sie das, erwiderte ich dumpf. In ihm ist keine Spur mehr von Leben. An Ihrer Stelle würde ich den Toten einstweilen auf sein Bett legen und zudecken lassen.
Na ja, wird wohl das beste sein, knurrte er und winkte ein paar Leuten, die Leiche aufzuheben.
Als diese auf dem Bett lag, verließ jeder, ohne sich weiter aufzuhalten, die unheimliche Kajüte. Die Pistole blieb unbeachtet liegen. Lush schob, um die Tür zu befestigen, einen Holzkeil darunter. Alle Leute stiegen wieder auf Deck, und nur Lush blieb noch zurück.
Was ist nun zu tun? fragte er übellaunig.
Selbstverständlich zunächst nichts anderes, als vor allen Dingen so schnell wie möglich nach Rio zu fahren.
Darum handelt es sich nicht, entgegnete er barsch. Ich meine, wie es jetzt mit der Schiffsführung gehalten werden soll.
Ja so. Natürlich werde ich dabei helfen, soviel ich kann, d. h. – wenn die Mannschaft damit einverstanden ist – mit Ihnen abwechselnd Wache zu halten. Jedenfalls aber übernehme ich alles, was zur Navigation gehört, da ich das zum Glück verstehe.
Das mag die Mannschaft entscheiden, erklärte er, zu Boden stierend. Darüber werden Sie nach dem Frühstück Bescheid erhalten. Bis dahin können Sie die Wache übernehmen. Ich löse Sie dann zur Zeit ab. Inzwischen spreche ich mit den Leuten, da es doch nun weder Kapitän noch Maat gibt.
Mein Gott, Sie sind doch aber Maat und können als solcher selbst entscheiden, rief ich in einem Gefühl bangen Unbehagens und unbestimmter Befürchtungen.
Nein, das bin ich nicht. Ich bin der Zimmermann! schrie er mich an. Das habe ich Ihnen schon einmal gesagt. Seit Chickens' Tod hat mich der Mensch da – er zeigte wütend nach dem Kapitän – schlimmer behandelt wie einen Hund. Und da sollte ich mich, sollte die Mannschaft mich für einen Maat gehalten haben? Nein, Herr, lachte er mir grimmig ins Gesicht, indem er mit der Faust auf den Tisch schlug, dazu bin ich nicht dumm genug.
Gut, gut, sagte ich, meine Stimme zur Ruhe zwingend, so kann ja alles nach dem Frühstück besprochen werden.
Das denk ich auch, nickte er trotzig und trollte auf seinen krummen Beinen davon.
Fräulein Temple sah mich sprachlos an.
Ist das ein Bursche! zischte ich zornig. Ich bin neugierig, wie das werden wird. Vorläufig muß ich nun auf Deck.
Da begleite ich Sie, fuhr sie erregt auf.
Auf keinen Fall. Bedenken Sie doch, daß es noch Nacht ist und meine Wache noch fast drei Stunden dauert. So lange dürfen Sie sich der kalten, feuchten Morgenluft nicht aussetzen. Und überdies, was würden die Leute sagen? Sie würden unser Zusammensein zu dieser Nachtzeit für tödliche Angst auslegen und denken, wir wollten uns nur gegenseitig ermutigen. Das geht nicht. Tun Sie mir den Gefallen und begeben Sie sich in Ihre Kabine.
Wie können Sie mir so etwas zumuten? rief sie, mit sprühenden Augen. Das kann doch Ihr Ernst nicht sein. Sie können mich doch unmöglich nach all den Vorgängen so herzlos allein lassen wollen.
Und doch wird es so sein müssen, erwiderte ich bestimmt. Wenn Sie nicht in Ihre Kabine wollen, legen Sie sich hier auf die Polsterbank und suchen Sie noch etwas zu schlafen.
Ein herrlicher Vorschlag, lachte sie roh auf. Ich glaube, Ihnen ist jedes Gefühl für meine Lage abhanden gekommen. Was denken Sie sich denn? Ich soll hier allein dicht neben dem Toten bleiben? Das von mir zu verlangen ist eine Roheit!
Werden Sie doch nicht wieder so heftig. Was in aller Welt soll Ihnen denn der Tote schaden? Ich wundere mich wirklich, daß eine sonst so mutige Dame wie Sie in bloßer Einbildung solche Scheu und Furcht zeigt. Seien Sie vernünftig, ich habe keine Zeit, mit Ihnen zu streiten. Kommen Sie, bitte, und legen Sie sich nun hierher. Dabei nahm ich ihre Hand und nötigte sie mit sanfter Gewalt auf die Polsterbank.
Sie ließ es stumm, aber mit so scheuem, vorwurfsvollem Blick geschehen, als wenn sie wirklich an mir zu zweifeln anfinge und mich nicht eines Wortes mehr wert hielte.
So, fuhr ich fort, und nun denken Sie nicht, daß Sie allein sind. Ich bleibe fortwährend in Ihrer Nähe und werde häufig durch das Oberlicht nach Ihnen sehen. Wenn Sie mich brauchen, rufen Sie, ich werde Sie hören, auf Deck aber dürfen Sie nicht.
Damit wandte ich mich zum Gehen, hatte jedoch kaum die ersten Stufen der Treppe erstiegen, als mich ein Gedanke umkehren ließ. Mir war die Pistole des Kapitäns eingefallen. Ich wollte sie an mich nehmen, und zog deshalb den Keil unter der Tür hervor, betrat nochmals die Kajüte des Toten und steckte die Pistole in meine Brusttasche. Munition bemerkte ich nicht, hatte ja aber auch genug davon aus Chickens' Hinterlassenschaft. Nachdem ich die noch immer brennende Lampe gelöscht hatte, schob ich wieder den Keil unter die Tür, zeigte dem apathisch und stumm daliegenden Mädchen die Pistole und sagte: Diese ist für den Notfall für Sie. Ich denke, wir sind nun im Besitz der beiden einzigen Schußwaffen auf dem Schiff.
Auch hierauf hatte sie keine Antwort. Sie warf nicht einmal einen Blick auf die Waffe. Indessen machte ich mir nichts daraus, ich dachte: Du wirst schon noch zur Einsicht kommen, mein Täubchen, und begab mich hinauf.
Der Himmel war ziemlich klar, nur einzelne schnell vorüberjagende kleine Wolken verdunkelten ab und zu die glitzernden Sterne. Der Wind blies stetig; der Bug durchschnitt kraftvoll die regelmäßig rollenden Wellenhügel; in gleichmäßig wiegender Bewegung schoß die Bark dahin.
Mein erster Gang war nach dem Kompaß, und als ich dort gesehen, daß der Kurs richtig gehalten war, trat ich den herkömmlichen Pendelgang des Wachhabenden an.
Schwarze Sorgen und Gedanken peinigten mein Hirn. Was schwirrte mir nicht alles durch den Kopf! Unsere Lage war eine verzweifelte geworden. Wie würde sich nun die Mannschaft benehmen? Wie sollte ich das Mädchen schützen? Jedenfalls durfte es sich nur so wenig als möglich auf Deck zeigen. Aber welche Kämpfe würde das bei ihrem Eigenwillen geben! Mehr wie je nahm ich mir vor, ihren Widerstand zu brechen; sie mußte mir gehorchen und sollte ich ihr auch brutal erscheinen. Denn gelang es mir nicht, ihr meinen Willen aufzuzwingen, so stand bei ihrer Heftigkeit, ihrem Eigensinn, ihrem Trotz, ihrer mangelnden Einsicht in die Verhältnisse und ihrem Starrkopf das größte Unheil für uns zu befürchten. Das rohe Wesen des Zimmermanns mahnte zur größten Vorsicht; die Mannschaft war ihm blind ergeben. Was konnte daraus nicht alles entstehen? Ich mochte es gar nicht ausdenken. Auch die Fahrt nach Rio konnte durchkreuzt werden. War es nicht möglich, daß sich nun der Charakter der Mannschaft, wie Braine ihn geschildert, wirklich offenbarte? Könnte sie nicht – angereizt durch die wertvolle Ladung – den seeräuberischen Gedanken fassen, das Schiff zu entführen und in ihrem Nutzen zu verwerten? Vielleicht brütete sie jetzt schon über einem solchen Plan. Ach, der Kopf wirbelte mir unter derartigen Befürchtungen. Selbst das Unerwartete und Plötzliche des Selbstmordes des Kapitäns erschien mir gering im Vergleich mit den Schrecknissen meiner Einbildung. Fortwährend glaubte ich vorn im Mannschaftslogis Stimmen zu hören und Mannschaften der Deckwache aus- und eingehen zu sehen. Gewiß wurde getrunken. In meiner Vorstellung sah ich die Bande vor einem heraufgeschleppten Rumfaß und Lush mitten unter ihr, sie zu wer weiß welcher Schandtat aufhetzend. Diesen Menschen hielt ich zu allem fähig, es gab nichts, was ich ihm nicht zugetraut hätte. Auch Wetherley hatte mich ja schon vor ihm gewarnt, und der kannte ihn doch. Nach vorn zu gehen und mich zu überzeugen, was da vorging, durfte ich nicht wagen. Es hätte mir übel bekommen können. Es blieb mir nichts übrig, als in quälender Ungewißheit abzuwarten, was kommen sollte. Oefters trat ich an das Oberlicht, um nach meiner Gefährtin zu sehen. Die erstenmale sah ich sie, das Gesicht mit den Händen bedeckt, als ob sie weinte. Wie ich dann aber einmal wiederkam, lag sie lang ausgestreckt und mit geschlossenen Augen still auf der Seite, so daß ich dachte: Gott sei Dank, sie schläft nun und ahnt nicht, was ich um ihretwillen ausstehe.
Endlich endete diese schreckliche Nachtwache, die Glocke des Vorderdecks schlug acht Glasen und bald darauf kam die Ablösung für das Rad mit schwerem Schritt herangestampft. Ich begab mich, dem Manne voraus, nach dem Ruder, um ihm gleich seine Instruktion zu geben. Als er ankam, erkannte ich in ihm einen jungen Burschen, namens Forrest, der mir schon oft durch seinen schlanken, geschmeidigen Wuchs und seine erstaunliche Behendigkeit im Takelwerk, aber auch durch eine gewisse Unverschämtheit in seinem ganzen Wesen und Benehmen aufgefallen war.
Na, sagte ich zu ihm, ihr scheint da vorn heute nicht viel zu schlafen. Der Selbstmord des Kapitäns läßt Euch wohl keine Ruhe?
Ja, gluckste er, mich höhnisch grinsend ansehend, als wenn er getrunken hätte, das und manches andere. Der Lush versteht sich aufs Sprechen.
Das Verhalten des Kerls und seine Worte versetzten mir, trotzdem ich es ja gar nicht anders erwartet hatte, einen Stich. Ich ließ mir indessen nichts merken und sagte:
Nun, mein Sohn, halte immer dicht an den Wind, die Bark ist um ein paar Strich vom Kurse abgekommen.
Werd's schon machen, gluckste er wieder mit halb unterdrücktem Lachen. Das Ruder steht doch noch auf Rio?
Versteht sich, wohin denn sonst?
Na, ich wollt's nur wissen, murmelte er, hätt' leicht auch anders sein können.
Der Ton, in dem er diese Worte sprach, gab mir einen neuen Stich. Offenbar steckte etwas dahinter. Alle meine schlimmsten Gedanken schienen zur Wahrheit werden zu wollen. Ich begann, meinen Gang wieder aufzunehmen, begegnete aber sehr bald Lush, der zu meiner Ablösung herantrottete.
Sein Aussehen und seine Stimme zeigten mir, daß er nicht aus seiner Hängematte kam. Wir wechselten nur wenige Worte, da ich durchaus keine Neigung empfand, mich noch in ein Gespräch mit ihm einzulassen. Es war 4 Uhr. Todmüde schritt ich hinunter.